D284ecf539e32a86e2eecf30acbc2ef5
Rezension | 02.04.2024
Narrativkapitalismus
Alexander Wendt verbindet Reportertugend, Fabulierkunst und Tiefgang zu einer großartigen Gegenwartsanalyse.
Text: Michael Meyen
 
 

Ich weiß natürlich, dass ich dieses Buch nicht besprechen darf. Ich spiele selbst mit. Alexander Wendt war vor einem Jahr in meinem Büro und hat sich sogar gemerkt, was ich an diesem Tag anhatte. Eine ungeschriebene Regel sagt: Zu einem solchen Buch äußert man sich nicht. Jedes Lob riecht nach Selbstvermarktung und jeder Tadel sowieso. Welcher Autor mag es schon, wenn seine Interviewpartner ihm hinterher sagen, was er alles vergessen oder falsch gemacht hat.

Ich kann diese Regel hier brechen, weil das Buch von Alexander Wendt über jeden Zweifel erhaben ist. Ich lese viele Sachbücher. Alle ein, zwei Tage eins. Das klingt nach Arbeit und ist es meist auch. Diesmal war das anders. Das Buch von Alexander Wendt ist ein Genuss. Das beginnt für mich immer beim Stil, den die Leser von Tichys Einblick kennen und natürlich die von Publico. Wendt-Texte haben eine Sprachqualität, die selten geworden ist im Journalismus und die gedruckt einen noch stärkeren Sog entwickelt als auf Bildschirmen.

Das hat auch damit zu tun, dass Alexander Wendt bei aller Belesenheit und bei aller Intellektualität ein Reporter geblieben ist. Er schaut genau hin, nicht nur bei mir. Wie sitzt die Frisur? Wie bewegt sich jemand, wie spricht er, wo werde ich empfangen? Und er hört zu. Vieles von dem, was sich heute in den Medien findet, egal ob auf der einen Seite oder auf der anderen, ist ein zweiter oder dritter Aufguss. Journalisten schreiben voneinander ab oder tragen das nach draußen, was gerade in ihrem Inneren brodelt. Die Kantine, sagt Patrik Baab, noch so einer aus der alten Schule, die Kantine ist für viele Medienleute „der direkteste Kontakt zur Wirklichkeit“ geworden. Ein zweites Baab-Zitat, inspiriert von Claas Relotius: „Offenbar ist schon klar, wie die Geschichte auszusehen hat, bevor die Vor-Ort-Recherche überhaupt beginnt.“

Alexander Wendt ist für sein Buch nach Portugal gefahren, in ein Hüttendorf an den Atlantik. Er hat am Rand von Leipzig einen Schweißer besucht, Anfang 50, drei Töchter, das Häuschen noch nicht abgezahlt. Er hat mit Forschern gesprochen, mit einem Vermögensverwalter und natürlich mit denen, die er Wohlmeinende nennt oder Regressiv-Progressive wie Tadzio Müller, einem Berliner aus dem Umfeld von Linkspartei und Klimabewegung, der bei Wendt die Berufsbezeichnungen Entertainer und Entrepreneur bekommt, jeweils mit dem Zusatz „Protest“. Mit Müller geht es in den „innersten Kreis der modernen Gesellschaft“ (S. 30), in das Milieu, das die Themen setzt, und damit mitten hinein in einen Klassenkampf ganz neuen Zuschnitts, geführt von Bürgerkindern, die überall dort sitzen, wo es um Sichtbarkeit geht und wo die Arbeiter mit Familie und einigermaßen ordentlichem Einkommen genauso verschwinden wie die, die an Europas Küsten stranden – zwei Gruppen, die wie die meisten Menschen in erster Linie auf Stabilität und Sicherheit aus sind und schon deshalb wenig anfangen können mit dem ständigen Gerede von Disruption und großer Transformation.

„Verachtung nach unten“: Wendts wichtigste These steckt im Buchtitel. Diese These erlaubt ihm nicht nur, den Misserfolg einer Bewegung wie Aufstehen zu erklären, sondern liefert zugleich den Schlüssel für eine Gesellschaftsanalyse jenseits des Links-Rechts-Rasters. Dafür ein längeres Zitat (S. 79):

Die tiefe Teilung der politischen Lager markiert nicht die eigentliche gesellschaftliche Bruchlinie. Sie zeichnet die große Trennung nur nach. Sie verläuft zwischen Innenraum und Peripherie, zwischen denen, die Aufmerksamkeit für sich erzeugen können, und denen, die gar nicht oder nur verzerrt zu Wort kommen, zwischen der abstrakten Ebene und der harten materiellen Wirklichkeit, zwischen den Erwachten und den Verlorenen. Zwischen den Verachtern und den Verachteten.

Natürlich geht es unter diesem Leitmotiv auch um Cancel Culture, um die Universitäten, um die USA. Ich überspringe diese Teile genauso wie das Kapitel über die neuen Stämme, die aus jeder Identitätspolitik folgen und die Bürgergesellschaft beerdigen, und komme gleich zu der Idee „Narrativkapitalismus“, über die Alexander Wendt den Gleichklang von Geld und Geist auch dort verstehen will, wo sich die Köpfe selbst in der Tradition des Kampfes gegen Ausbeutung und Unterdrückung sehen. Vorher will ich nur schnell festhalten, was er über die Bewusstseinsindustrie schreibt – über Kultur und Medien, über Kirche, Wissenschaft und Bildung. Wendt sagt: Wo Sinn produziert wird, herrscht Knappheit. Mehr Bewerber als Geld, Stellen, Aufstiegsmöglichkeiten. Die Folge: eine „feudale Klassengesellschaft“ mit

  • Fürsten „auf dem Sonnendeck“ (Intendanten, Chefredakteure, Professoren, Bischöfe, Stiftungschefs),
  • ganz ordentlichen Kabinen eine Etage tiefer (die fest Angestellten) und
  • den „Abteilen der dritten Klasse“ (Teilzeit- und Honorararbeiter, oft befristet, zu finden in Hochschulen, Redaktionen, Abgeordnetenbüros, NGOs, Warteschleifen).

Wendt weiß, was aus dieser „Dreiteilung“ folgt: „Disziplinierung durch Selbstoptimierung“ – „ein Vorgang mit hoher Eigenlogik, die keine lenkende Instanz braucht“ und eine „Ökonomie des Verdachts“ wachsen lässt:

Woke sein bedeutet für sehr viele junge Akademiker, zunächst einmal höchste Wachsamkeit gegen sich selbst zu üben, auf ihre Worte zu achten, ihre Kontakte, aber auch schon auf ihre Gedanken. In ihnen etabliert sich ein innerer Wächter. Das bedeutet natürlich auch, wachsam die geringsten Verstöße gegen den Sprechcode in der eigenen Umgebung zu registrieren. Einen Mitstudenten und Mitbewerber um knappe Jobs öffentlich als Feind des gerechten Denkens anzuprangern, stärkt erstens die eigene Reputation. Und erledigt ganz nebenbei einen Konkurrenten. (alle Zitate in diesem Abschnitt: S. 180-186)

Nun aber zur Verschmelzung von materiellem und kulturellem Kapital, die Alexander Wendt in das Herz der westlichen Gegenwartsgesellschaften führt. Die Manager und die Sinnproduzenten, die mehr verbindet als trennt – angefangen bei dem Glauben, dass alles mit einem Sprechakt beginnt, vom Geschlecht bis zu Milliardenwerten, die es herbeizureden gilt. Die neue Elite ist auch ein Kind der Digitallogik, auf beiden Seiten. Eins und null. Alles oder nichts. Identitätspolitik, Critical Race Theory und Postkolonialismus, Black Lives Matter, Fridays for Future und Letzte Generation: „reduktionistisch“, beschränkt auf „einfache, leicht kopierbare Inhalte“, anwenderfreundlich. Man braucht nicht viel lesen. „Intellektuelle Barrierefreiheit“, sagt Alexander Wendt (S. 246). Es reichen ein „Generalnarrativ“ (der Westen ist an allem schuld) und Themen, die sich moralisch aufladen und so online leicht verbreiten lassen, weil dort das Schema gut vs. böse triumphiert: Klima, Migration, Identität, Transgender. Wer nicht auf der richtigen Seite ist, steht automatisch auf der falschen und kann gecancelt werden. Rede und Gegenrede? Aus dieser Perspektive „gemeingefährlich“ und von gestern (S. 333). Noch ein Zitat (S. 276-279):

Den kritischen Blick auf das gesellschaftliche Oben als reaktionär und demokratiegefährdend darzustellen, und zwar unter der Fahne von Fortschritt und Weltoffenheit – dieser gedankliche Twist gehört zu den gewagtesten, aber auch erfolgreichsten Manövern der Wohlgesinnten. (…) Die Hauptrichtung der Gesellschaftskritik verläuft neuerdings von oben nach unten. Für diesen Zaubertrick empfinden die Lenker großer quasimonopolistischer und mit der Politik verflochtener Konglomerate zu Recht eine tiefe Dankbarkeit.

Das ist aber nicht alles. Die Konzerne und hier vor allem die Finanzindustrie sind auf der Suche nach Legitimation, seit dem Crash von 2008 noch viel stärker als vorher. Also DEI (Diversity, Equity, Identity) und ESG (Environmental, Social, Governance), viel billiger zu haben als ordentliche Tarifverträge oder gar Gewerkschaften und für die Talente von morgen zugleich eine Art Honigfalle: Dieses Unternehmen, liebe Leute, produziert vielleicht Dinge, die die Welt nicht braucht, das alles aber hat einen höheren Sinn. Damit lassen sich nicht nur Bewerber fangen, sondern auch Kunden – zuallererst die nächsten Generationen, die sich selbst einreden, Umwelt und Gerechtigkeit auf dem Schirm zu haben, und sich so nicht nur von ihren Eltern absetzen wollen, sondern auch von der „stumpfen Unterschicht“ (S. 255).

Was bleibt? Oder besser gefragt: Was kommt? Erst einmal wird es dauern, sagt Alexander Wendt. Zu tief hat sich das neue Glaubenssystem hineingefressen in die Institutionen, zu viele Menschen leben davon mehr oder weniger gut. Wendts Vorschlag: Lasst es uns machen wie einst beim Westfälischen Frieden. Lasst uns zuerst den Kulturkrieg einstellen. Lasst uns dann Universitäten, Schulen und öffentliche Verwaltung freigeben und die Redaktionen im Beitragsrundfunk paritätisch besetzen. Das ist ein Lockmittel für die andere Seite, natürlich, weil Wendt damit auch sagt: Ihr dürft weitermachen, trotz alledem. Wir drehen den Spieß nicht einfach um. Ein Friedensangebot zum Schluss. Fragt sich jetzt nur noch, wann und wo die Verhandlungen beginnen.

Bildbeschreibung

Weitere Rezensionen von Michael Meyen

Ulrich Heyden: Mein weg nach Russland

Christine Prayon: Abwesenheitsnotiz

Raymond Unger: Habe ich genug getan?

Shoshana Zuboff: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus

Andrea Komlosy: Zeitenwende

Upton Sinclair: The Brass Check, 1919

Michael Andrick: Im MoralgefängnisRoy Prinzessin: True

Axel Klopprogge: Methode Mensch

Caitlin Johnstone: Kleines Erste-Hilfe-Büchlein gegen Propaganda

Rainer Mausfeld: Hybris und Nemesis

Hauke Arach: Mensch, lern das und frag nicht!

Ronen Steinke: Verfassungsschutz

Michael Ballweg, Ralf Ludwig: Richtigstellung!

Bildquellen: Michael Siebert, @Pixabay