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Rezension | 30.08.2023
Der Mensch, er lebe hoch
Axel Klopprogge verbindet Personalmanagement und Wissenschaftsgeschichte zu einer grandiosen Zeitdiagnose.
Text: Michael Meyen
 
 

Wahrscheinlich muss ich zuerst sagen, wie ich auf dieses Buch gekommen bin. Warum liest ein Medienforscher, was jemand aufschreibt, der Personalchef in einem Dax-Unternehmen war? Haben die Algorithmen versagt und ihm ein Werk empfohlen, das auf knapp 600 Seiten ohne einen Satz zum Journalismus auskommt und auch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk komplett ignoriert? Ganz stimmt das nicht, wie gleich zu sehen sein wird, da das, was Axel Klopprogge zu sagen hat, uns alle angeht, aber die Frage bleibt: Wie findet man ein Buch, das außerhalb des eigenen Themenspektrums liegt, in keinem der Publikumsverlage veröffentlicht wurde und folglich auch nicht in das Blickfeld der großen Redaktionen gerät?

Der Autor würde vermutlich sagen: Beziehung. Oder: Hunger nach Bindung, angelegt in unserer Gattungsgeschichte und schon deshalb nie ganz zu stillen, obwohl uns überall erzählt wird, dass es gesünder sei, daheim zu bleiben, und jede Zukunft digital sein werde. Ich habe Axel Klopprogge zunächst tatsächlich virtuell kennengelernt, über eine Studentin, für die er in der Berufswelt ein Mentor war und ich an der Universität. Diese junge Frau wusste, dass wir manche Dinge ganz ähnlich sehen. Ergebnis war 2021 ein Beitrag im Blog Medienrealität zum Genderskandal in meiner Fachgesellschaft. Ich war froh, diesen Text veröffentlichen zu dürfen, weil er das ausdrückte, was ich selbst im Kollegenkreis niemals mit einer solchen Wucht hätte aussprechen können. Es folgten lange Spaziergänge im Englischen Garten, alle paar Monate. Irgendwann kam die Frage, ob ich ein Manuskript lesen wolle, noch nicht ganz fertig und deshalb offen für Kritik.

Nun also das Buch. Ich habe auch beim zweiten Mal viel mitgenommen. Axel Klopprogge verbindet zwei Welten oder vielleicht sogar drei, vier, fünf. Ein promovierter Wissenschaftshistoriker, der internationale Konzerne von innen und von oben kennt, an Hochschulen lehrt, Start-ups berät und im Goinger Kreis nach der Zukunft von Gesellschaft, Arbeit, Leben fragt. Neuerdings auch Hintergrund-Autor, aber das ist eine andere Geschichte, interessant für alle, die mit offenen Augen durch die Welt marschieren, aber das nicht so gut aufschreiben können wie er. Klopprogges Thema sind wir. Was macht ihn aus, den Menschen? Wie sollten wir miteinander umgehen, im Beruf natürlich, aber auch privat? Warum haben Menschen angefangen, am freien Willen zu zweifeln und auf Erlösung oder Perfektionierung durch Maschinen zu hoffen? Was läuft falsch an Schulen und Universitäten, dass der Wirt von nebenan genauso über die jungen Leute von heute klagt wie die Praktikumsbeauftragten in der Stadt?

Antwort eins liefert die Geschichte. Wie sollte es anders sein bei jemandem, der in seiner Dissertation in die Ideengeschichte des Mittelalters eingetaucht ist und so das Handwerkszeug mitbringt, um die langen Linien zu entschlüsseln, die von der Religion zur Wissenschaft der Gegenwart führen? Der Mensch, sagt Axel Klopprogge, musste und muss Komplexität reduzieren, um handeln zu können. Erst durften höhere Mächte herhalten, um die Welt zu erklären, und dann Methoden, die nach Kausalitäten suchen, nach Gesetzen, nach der Natur der Dinge. Beides funktioniert nur, wenn man annimmt, dass es tatsächlich Regeln gibt.

Klopprogge ist weit entfernt davon, die Suche nach objektiven Strukturen, nach Ordnung und nach Sinn zu verteufeln. Die Vereinfachung ist eine Erfolgsgeschichte, sagt er. Das große Aber: Wir sehen heute auch den Menschen als eine Maschine – als ein Objekt, das man berechnen kann. Damit schaffen wir uns ab.

Als Sozialwissenschaftler wusste ich sofort, wovon Axel Klopprogge hier redet, und als jemand, der mit Karl Marx aufgewachsen ist, sowieso. Der Mensch als Vollstrecker historischer Gesetzmäßigkeiten. Kausalitäten nach dem Muster Wenn-Dann. Suche eine perfekte Stichprobe, und Du wirst jeden vorhersagen können. Bei einem unserer Spaziergänge ging es um B. F. Skinner und seinen Roman Walden Two von 1948. Bei Skinner sieht man, wohin ein Denken führt, das Freiheit und Unwissenheit für Synonyme hält und glaubt, dass wir nur deshalb daran festhalten, einen freien Willen zu haben und selbst bestimmen zu können, was mit uns passiert, um verdrängen zu können, dass die Wissenschaft uns eines Tages komplett entschlüsselt haben wird. Trans- und Posthumanisten träumen davon. Und die Tech-Konzerne machen uns weis: Wir sind auf dem Weg. Die künstliche Intelligenz kommt oder ist schon da.

Axel Klopprogge sagt: alles falsch. Die KI, um gleich damit anzufangen? Nicht mehr als eine Art Rückspiegel, gefüttert mit Daten aus der Vergangenheit und damit nur in der Lage, die alte Welt zu reproduzieren und fortzusetzen. Die KI wäre keine KI, sondern ein Mensch, wenn sie sich selbst Zwecke und Ziele setzen könnte und dann anfangen würde, darauf hinzuarbeiten. Das führt direkt zum Menschenbild dieses Autors: Wir sind für ihn nicht ein Tier unter vielen, sondern ein Wesen, das die Freiheit besitzt, sich gegen seine Instinkte und „sogar gegen seinen eigenen Schöpfer zu wenden“, ein Wesen, „das entscheiden kann und die Konsequenzen seiner Entscheidung tragen muss“ (S. 111). Das heißt: Jeder von uns kann die Welt aus den Angeln heben. Jeder von uns kann es sich immer wieder anders überlegen und alle Prognosen zu Staub zerfallen lassen. Jeder von uns kann etwas schaffen, was es so noch nicht gab.

Wenn ich das jetzt so lese, klingt das wie selbstverständlich. Der Mensch als Schöpfer seiner Welt. Axel Klopprogge zeigt, dass schon die Sprache solche Selbstverständlichkeiten verschleiert. Beispiel: „Ent-Deckung“ oder „Er-Findung“. Wer eine Innovation so labelt, der suggeriert, dass alles schon da war. Einer wird die Decke wegziehen, einer wird den Stein der Weisen sehen. Wenn nicht ich hier und heute, dann morgen jemand anderes. Klopprogge will keinen Heldenkult. Er will, dass wir verstehen, warum jede Innovation Menschen braucht, „die gegen die jeweilige Gegenwart und gegen alle Wahrscheinlichkeit“ Neuland betreten (S. 140) – nicht allein, sondern unterstützt von einigen wenigen, denen dieser Mensch vertraut und die ihn stützen. Noch einmal anders formuliert: Weder der Bedarf macht automatisch eine Innovation noch eine Notwendigkeit. Es braucht uns, es braucht einen Menschen. Geist ist mehr als Materie, auch wenn er immer zu rechnen hat mit „der Widerständigkeit und Widerspenstigkeit dessen, was da ist“ (S. 151).

Vor ein paar Tagen saß ich mit Kayvan Soufi-Siavash im Ruderboot, einer Talkshow auf der Plattform Nuoviso, aufgezeichnet in einem vollen Saal. Kayvan war sich ziemlich sicher, dass der Mensch der Gegenwart gedrillt ist, in seiner Mehrheit zumindest. Die Schule, die Leitmedien und überhaupt. Da dürfe man nicht allzu viel erwarten. Um diese These zu bekräftigen, erzählte er von einem Experiment in der Tierwelt: Dort wurden Flöhe, die eigentlich ziemlich hoch springen können, in ein Glas gesperrt. Dass das Gefängnis nach ein paar Tagen verschwand, haben sie offenbar nicht gemerkt. Fortan war die Deckelhöhe die Grenze, auch für ihre Nachkommen noch. Vermutlich muss ich nicht mehr erklären, warum dieses Gleichnis nicht funktioniert oder, schlimmer, selbst Ausdruck eines Denkens ist, dass den Menschen als Objekt und Sklaven sieht, als beseeltes Werkzeug wie einst in der Antike.

Wenn man mit Axel Klopprogge annimmt, dass wir in der Lage sind, unsere „Prägungen, Instinkte, Einflüsse, Vorurteile zu hinterfragen und zu überwinden“ (S. 164), dann hat das Folgen, die von der Bildung über die Personalauswahl bis in die Wissenschaft reichen und damit noch nicht einmal annähernd beschrieben sind.

  • Beispiel Schule: Die Modularisierung ist für Axel Klopprogge genauso eine Sackgasse wie die Praxisorientierung. Ohne den Schock nach dem Eintritt in das Berufsleben, sagt jemand, der es wissen muss, ohne einen solchen Schock gibt es weder Impulse noch Weiterentwicklung.
  • Beispiel Fachwissen: die 10.000-Stunden-Regel. Oder: üben, üben, üben. Oder: keine Orientierung ohne das Fundament einer breiten Allgemeinbildung. Und: Wer etwas wirklich beherrscht, ein Handwerk etwa, muss keine Angst vor der Digitalisierung haben – ganz im Gegensatz zu „Schmalspurakademikern mit ihrem Wikipedia- und Multiple-Choice-Wissen“ (S. 324).
  • Beispiel Human Ressources: Hier fängt es schon beim Begriff an. Der Mensch als Objekt unter Objekten. Wer sich für einen Mitarbeiter entscheidet, entscheidet sich für eine Beziehung und kann das unmöglich an Computer und Punktsysteme delegieren.
  • Beispiel Sozialforschung: Für Dinge, die man so machen kann, aber auch anders, braucht man andere Methoden als die Naturwissenschaften.

Wer bis hierher durchgehalten hat, der weiß, dass ich noch viel mehr schreiben könnte. Am besten: selbst lesen und von jemandem lernen, der sich seine innere Unabhängigkeit bewahrt hat und so in der Lage ist, „alle vermeintlichen Wahrheiten in Frage stellen zu können“ (S. 325). Die Zukunft ist offen und unbekannt. Zum Glück.

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Bildquellen: Jill Wellington, @Pixabay