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Rezension | 06.02.2024
Appell gegen Moralin
Der Philosoph Michael Andrick seziert das Kommunikationsregime der Gegenwart und sagt: Wir müssen den Respekt wiederfinden.
Text: Michael Meyen
 
 

Michael Andrick ist ein Romantiker. Er glaubt an die Demokratieerzählung und daran, dass es möglich ist, Brücken zu bauen zwischen den Lagern. Man kann das in den Kolumnen nachlesen, die er für die Berliner Zeitung schreibt, oder die Texte und Vorträge genießen, die sich im Netz finden. Scharfsinnige Analysen, die sich an Begriffen abarbeiten und ihren Erfindern den Spiegel vorhalten, dabei aber nie die Hoffnung verlieren, dass auch das von guten Absichten getragen ist, was gar nicht so wenige als böse empfinden und uns allen objektiv schadet.

Man muss dieses Menschen- und Gesellschaftsbild nicht teilen, sollte es aber kennen, um die Zumutung zu überwinden, die sein Buch „Im Moralgefängnis“ schon im Untertitel transportiert: „Spaltung verstehen und überwinden“ steht dort schwarz auf weiß. Michael Andrick meint damit keineswegs nur die Ampel oder irgendwelche anderen Machteliten in Politik, Medien, Wirtschaft, sondern jeden von uns – auch die, die seit Corona und manchmal auch schon länger privat abgekanzelt und öffentlich als „umstritten“ markiert oder via Kontaktschuld zu Unpersonen gemacht werden. Wir alle, sagt Michael Andrick, sind infiziert mit dem „Erreger“ Moralin. „Das Scheitern unserer offenen Gesellschaft ist auch unsere Sache“ (S. 125).

Da ist er, der Brückenbauer, der die Geschichte vom Glashaus kennt und seine Pappenheimer sowieso. Hier spricht der Philosoph, der weiß, dass man aufeinander zugehen und vor allem den Splitter im eigenen Auge sehen muss, wenn man auf Verständigung aus ist und vielleicht sogar auf Versöhnung. Andrick weiß auch, dass das am besten funktioniert, wenn man in den Alltag eintaucht und sich selbst kleiner macht, als man zu sein hofft. Also erzählt er von dem, was ganz normale Familien in den letzten Jahren erlebt haben könnten, und von den Irrtümern oder Sackgassen in seinem eigenen Denken.

Ich gebe zu: Mich hat das nicht überzeugt. Vielleicht kann es einen Medienforscher nicht überzeugen, wenn es um die Moralisierung von Kommunikation geht und dabei die Digitallogik genauso ausgeblendet bleibt wie ein Journalismus, der sich zerquetschen lässt zwischen dem Propagandaapparat der Regierung und Löschmaschinen, die mit dem Digital Services Act gerade ihre nächste Ausbaustufe zünden. Wahrscheinlich trage ich außerdem immer noch die Überreste der marxistischen Grundausbildung in mir und wundere mich deshalb, wenn Gesellschaftsanalysen ganz ohne die Machtfrage auskommen, ohne einen Blick auf die Verteilung der Ressourcen und vor allem ohne die Kategorie soziale Position, die die Erfahrungen bestimmt, die jeder Einzelne machen kann, und damit auch sein Medienmenü oder sein Wahlverhalten. Wenn so ein Beispielfamilienvater durch „eine Reihe von Zufällen“ auf die (immer noch großartige) Ovalmedia-Doku „trustWHO“ stößt und anfängt, „gezielt abseits offizieller Verlautbarungen“ nach Infos zu Viren und Sterblichkeitsraten zu suchen (S. 39), dann sagt der Sozialwissenschaftler in mir sofort: Diese „Zufälle“ lassen sich untersuchen und benennen. Ich weigere mich außerdem beharrlich, diesen Zweifelvater auf eine Stufe zu stellen mit denen, die Eingang gefunden haben in die Bücher „Ich habe mitgemacht“ (Burkhard Müller-Ullrich) und „Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen“ (Marcus Klöckner). Für die Aussöhnung mag es hilfreich sein zu rufen, „dass im Regime des Moralismus nicht hier die Täter und dort die Opfer zu finden sind“ (S. 125), der Zeitzeuge und Analytiker Michael Meyen aber sagt, dass es einen Unterschied macht, ob ich meine Moral mit dem Gewaltmonopol im Rücken durchsetzen kann oder diesem ausgeliefert bin.

Genug mit der Mäkelei. Ich bin hier nicht maßgeblich. Michael Andrick hat etwas ganz anderes vor. Das verdient schon deshalb, gewürdigt zu werden, weil sein Buch gut anfängt und dann immer besser wird. Der Ausgangspunkt ist denkbar einfach: Wir alle haben etwas gemeinsam. Andrick erinnert an die „ungewöhnlich hohe Stressbelastung der letzten Jahre“ (S. 11), skizziert dann die „selbsterbaute Zwingburg“, in der wir leben, und platziert sein Axiom in diesem „Moralgefängnis“ (grafisch wie immer toll umgesetzt von Buchgut): „Spaltung lebt vom Mitmachen“ (S. 12).

Der Philosoph ist hier wie im ganzen Buch ganz nah am Wort und errichtet dabei eine Begriffswelt, in der „spalterisches Handeln“ das „Ergebnis einer Kommunikations-Infektion“ (S. 53) ist („mit dem Virus der Moralisierung“, S. 56) – zu beobachten sowohl im Privaten („Moralisierung“) als auch öffentlich („Demagogie“, S. 62). Wer moralisiert, das wird gut erklärt, macht aus allem und jedem eine Frage von Sein oder Nichtsein, weil es um die Prinzipien geht, die unser Leben leiten, und von denen wir deshalb niemals lassen können bei Strafe des persönlichen Untergangs. Willst du, dass es deinen Enkeln gut geht? Dann sei für das Windrad und gegen den SUV. Wenn die Moral übernimmt, dann wechseln „Fokus und Modus“ jedes Gesprächs. Wenn die Moral übernimmt, wird nicht mehr gefragt, sondern angeklagt – und zwar die Person (S. 64).

Wirklich brillant wird Michael Andrick, wo es um „demokratiebeendende Praktiken“ geht („Abkanzeln, Vorabmarkieren, Umstrittenmachen und der absurde, aber tief eingewöhnte Kult des Kontaktschuldgebarens“, S. 76) sowie um „Elemente des aktuellen Zensurregimes“ (S. 107). Faktenchecker, der Kampf gegen Hass und Hetze oder neuerdings wieder gegen rechts, das Gendern. Andrick-Fans werden manches davon kennen, dürfen sich aber trotzdem freuen über eine Mischung aus Klarheit und Ironie, die nur ein Philosoph anrühren kann, der aus einer Vogelperspektive auf uns schaut und weiß, wovon er spricht. Nur zwei Kostproben:

  • Der Kunstbegiff Hassrede ist „weder sinnlos noch harmlos, er ist gefährlicher Unfug“ (S. 116).
  • „Das ‚Gendern‘ muss mitsamt allen ideologischen Sprachmanipulationen sozial geächtet und in allen öffentlichen Institutionen dienstvorschriftlich unterbunden werden; es schadet dem Gemeinwohl“ (S. 123).

Vielleicht ist es gerade dieser letzte Punkt, der Michael Andrick antreibt. Das Gemeinwohl, verschwunden aus den öffentlichen Debatten oder okkupiert von „Fundamentalisten“, die ihre eigene Weltsicht einfach damit gleichsetzen (S. 80). Die vermeintlichen Sieger der Geschichte, sagt Andrick, sind dafür seit 1989 anfällig und die Deutschen in ihrem „Nie-Wieder-Staat“ noch ein wenig länger (S. 138). Mag sein. Psychologisieren liegt mir nicht. Deshalb stehe ich auch ein wenig ratlos vor dem Ausweg, den das Buch empfiehlt. „Befreiung“ über „Respekt“ (S. 154). Die Verdammten dieser Erde werden Langmut brauchen und ein schwaches Gedächtnis, wenn der Philosophenkönig übernimmt.

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Bildquellen: Westend, Caniceus @Pixabay