Corona-Bücher haben Konjunktur. Es geht um das Versagen hier und dort (vgl. Christ 2022, Guérot 2022, Klöckner 2021), um das, was gesagt, getan und unterlassen wurde (vgl. Kaltwasser 2022), oder zunächst auch einfach nur um Selbstdokumentation und Selbstbestätigung. Die Tweets von Stefan Homburg (2022), die Texte von Michael Hauke (2022), einem Anzeigenblattverleger aus dem Brandenburgischen, oder die Kolumnen von Milosz Matuschek (2022). Die Motive der Schreiber liegen auf der Hand: festhalten, was die anderen bereits zu vergessen beginnen, und damit zugleich nach Aufarbeitung und Erneuerung rufen. Marcus Klöckner und Jens Wernicke (2022) haben dafür Zitate von Meinungsführern aus Politik und Medien gesammelt und können so buchstäblich „mit dem Finger“ auf viele der „Täter“ hinter dem „Corona-Unrecht“ zeigen.
Andrea Komlosy hat einen Gegenentwurf geschrieben. In Kurzform: weg von den Akteuren, hin zu den „Umständen“ (S. 7). Weg von der Idee einer planenden Intelligenz, die über Geld (etwa: Bill Gates), Netzwerke (Klaus Schwab und sein WEF) oder beides weltweit generalstabsmäßig ein Szenario umsetzt, das in Think Tanks entwickelt, in Planspielen verfeinert und von willfährigen Helfern mitgetragen wurde, hin zu den großen Linien der Menschheitsentwicklung. Corona wird bei Andrea Komlosy zu einem historischen Moment, der die kybernetische Revolution beschleunigt und auch dem Letzten klargemacht hat, dass der Kapitalismus gerade seine neoliberale Phase überwindet und zur Wiederauferstehung im neuen Gewand schreitet.
Massenproduktion und Massenkonsum sind vorbei, soziale und regionale Ungleichheiten aber bleiben. Andrea Komlosy, Jahrgang 1957, hat bis 2022 als Professorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien gelehrt und sich dort vor allem mit Publikationen zur Arbeitswelt und zur Globalgeschichte einen Namen gemacht. Ihr historischer Weit- und Überblick helfen, die Aufgeregtheiten der alten und der neuen Medien hinter sich zu lassen und die „Zeitenwende“ zu verstehen, die wir gerade miterleben. Wie es sich bei einer Wissenschaftlerin erwarten und erhoffen lässt, kommt bei Komlosy vor der Aktualität die Theorie – hier die „langen Wellen“ der Konjunktur (Kondratieff), der Hegemonie (Aufstieg und Fall der großen Mächte) und der Evolution (Mensch, Natur und Produktion).
Die Autorin weiß, dass nicht jeder auf so ein „wissenschaftliches Einordnungskonzept“ steht, das sich vor allem auf „Sekundärliteratur“ stützt und keinen Bogen um „Forschungskontroversen“ macht, die vor allem diejenigen interessieren, die selbst im Zirkus mitspielen. Da das auch beim Blättern im Buchladen zum Kaufhindernis werden könnte, sei hier ausdrücklich die Einladung der Autorin erwähnt, „direkt in Abschnitt 2“ einzusteigen: „Der Corona-Moment im historischen Prozess“ (S. 10). Auf gut 170 Seiten wird dort nicht nur alles akribisch zusammengetragen, was seit Anfang 2020 passiert ist, sondern zugleich auf seine Bedeutung für die kybernetische Revolution abgeklopft – für die Leitsektoren des neuen Kapitalismus, für die Verdatung, den Zugriff auf den Körper und die Überwachung, für die Geopolitik. „Szenario, Plan oder Gelegenheit“ (S. 102): Diese Alternative schrumpft vor der Wucht der Argumente und Belege zu einer Frage, die in ein paar hundert Jahren nicht einmal mehr Spezialisten interessieren dürfte. Das Buch von Andrea Komlosy darf in keiner Corona-Bibliothek fehlen.
Andrea Komlosy: Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft. Wien: Promedia 2022, 288 Seiten, Preis: 23 Euro.
Alexander Christ: Corona-Staat. Wo recht zu Unrecht wird, wird Menschlichkeit zur Pflicht. München: Rubikon 2022
Ulrike Guérot: Wer schweigt, stimmt zu. Über den zustand unserer zeit und darüber, wie wir leben wollen. Frankfurt am Main: Westend 2022
Michael Hauke: Wie schnell wir unsere Freiheit verloren. Eine besorgniserregende Chronologie. Fürstenwalde: Michael Hauke Verlag 2022
Stefan Homburg: Corona-Getwitter. Chronik einer Wissenschafts-, Medien- und Politikkrise. Sargans: Weltbuch 2022
Dennis Kaltwasser: Coronalogie der Ereignisse. In: Michael Meyen, Carsten Gansel, Daria Gordeeva (Hrsg.): #allesdichtmachen. 53 Videos und eine gestörte Gesellschaft. Köln: Ovalmedia 2022, S. 70-142
Marcus Klöckner: Zombiejournalismus. Was kommt nach dem Tod der Meinungsfreiheit? München: Rubikon 2021
Marcus Klöckner, Jens Wernicke: „Möge die gesamte Republik mit dem Finger auf sie zeigen“. Das Corona-Unrecht und seine Täter. München: Rubikon 2022
Milosz Matuschek: Wenn’s keiner sagt, sag ich’s. Verengte Räume – absurde Zeiten. Frankfurt am Main: fifty-fifty 2022
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