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Rezension | 22.01.2023
Medientheater
In München kommt der Journalismus auf die Bühne, aber nicht in die Zeitungen, obwohl Roy Prinzessin mit TRUE großes Kino liefert.
Text: Michael Meyen
 
 

Kritik an der Presse, das ist eine Binsenweisheit, braucht die Presse, um etwas zu bewegen. Ohne Öffentlichkeit keine Debatte. Eine halbe Seite in der Süddeutschen, sagt Dietmar Höss, der Chef des Hauses. Das sei eigentlich der Standard. Diesmal? Fehlanzeige. Keine Rezension, kein Bericht. Nicht mal ein Verriss.

Das Rationaltheater ist eine Institution in der Münchner Szene. Klein, aber fein, mitten in Schwabing. Die Lach- und Schießgesellschaft ist um die Ecke, das Lustspielhaus, Heppel & Ettlich. Im Rationaltheater ist Max Uthoff groß geworden. Das geht gar nicht anders, wenn der Vater so eine Bühne leitet.

Dass Max im Programmheft steht, ist nicht nur der Tradition geschuldet. Die berühmte Folge der ZDF-Anstalt vom 29. April 2014. Transatlantiker in den Redaktionen der deutschen Leitmedien. Diese Tafelnummer fehlt fast nie, wenn es um den Zustand des Journalismus geht. Auf den nächsten Seiten wird das ausbuchstabiert. Bilderberger, Council on Foreign Relations, Atlantik-Brücke. Nachrichtenagenturen. Hannah Arendt über das politische Narrativ und Paul Schreyer über Julian Assange („Was darf eine Journalistin nicht erzählen?“). Ganz vorn wird Karl Marx zitiert: „Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein.“

Theater

Dietmar Höss ist seit 2008 im Rationaltheater und mit seinem Programm am Puls der Zeit. Medienrealität: Kaum ein Thema bewegt die Menschen so wie dieses. Etwas vorsichtiger formuliert: Nie war dieses Thema so präsent.

TRUE holt eine wahre Geschichte aus den USA nach Deutschland – die Geschichte einer preisgekrönten Reportage über ein achtjähriges Drogenkind, gedruckt 1981 in der Washington Post, die komplett erfunden war. Roy Prinzessin nennt seinen Protagonisten Claas Julian und setzt allein damit schon den Ton. Das Stück kennt nur einen Schauspieler (großartig: Jurij Diez), hat aber (mindestens) zwei Rollen. Wenn man so will: Claas Julian und sein idealistisches Ich, das einst auszog, um die Wahrheit zu schreiben, sich dann aber eine Geschichte ausdachte, um den größten aller Preise zu gewinnen – eine Geschichte, die so absurd ist, dass sie später draußen auffliegt, aber genau das liefert, was all die Herren im Verlag über die Wirklichkeit zu wissen glauben.

Dieses junge Ich heißt Anna Smirnov, sieht super aus (es geht um einen Preis, wie gesagt) und könnte auch Claas Julians Zögling sein oder eine Geliebte. TRUE spielt mit unserem Wunsch nach Eindeutigkeit und wird da ganz stark, wo alle Zwänge und Ambivalenzen des Journalismus zu einer Wortschlacht werden, die den kleinen Theaterraum zum Bersten bringt. Tolle Musik (Lucia Knöpfel, die auch singt) und Komik (die Siegerreportage, die den Narrativschreiber perfekt imitiert und so lächerlich macht), dazu in Stichworten alles, was man braucht, um die Komplexität der Materie zu erahnen: Mehr geht nicht in 75 Minuten. Im Hintergrund: Der Krieg im Jemen und die Frage, warum das nur in der Wirklichkeit passiert und nicht auch in den Medien. Die Anna in Claas Julian wollte das Gewerbe in den Abgrund reißen. Wir wissen: Das hat nicht funktioniert.

Theater

Diese Rezension hat eine Vorgeschichte. Ich habe einen kleinen Text geliefert für eine erste Version des Programmheftes. Es ist dann alles anders gekommen, wie das manchmal so ist im Theater, erst recht, wenn es sich an heiße Eisen wagt. Damit der Text nicht ganz umsonst geschrieben wurde, hänge ich ihn hier an.

Schöne neue Medienwelt

Was waren das für Zeiten. Morgens ein wenig in der Süddeutschen blättern, im Auto vor dem Verkehrsfunk die Nachrichten, abends die Tagesschau – und man wusste Bescheid. Vorbei, lange schon. Heute ist der Zweifel nur einen Klick entfernt. Das hat Folgen für alles und alle. Der Journalismus berichtet nicht mehr, sondern erzählt Geschichten, mit Ausrufezeichen und Moral. Und er verteidigt die, die ihm die Geschichten liefern. Regierungen, Behörden, Unternehmen. Die Fragezeichen im Netz machen keinen Unterschied zwischen dem Produzenten der Botschaft und ihrem Überbringer. Also bauen Politik und Leitmedien eine Wagenburg und verbeißen alle, die draußen herumheulen und nicht glauben wollen, was drinnen ausgeheckt wird, oder einfach nur darauf pochen, dass Demokratie Meinungsvielfalt und Streit verlangt.

Für einen Medienforscher wie mich ist diese neue Zeit das Paradies. Die Fragen, die ich früher allein im stillen Kämmerlein beantworten musste, sind auf der großen Bühne angekommen. Warum überlassen wir die Presse- und Onlineöffentlichkeit ein paar Milliardären? Wie konnte es passieren, dass der Rundfunk zum Spielball und zum Sprachrohr der Parteien geworden ist, obwohl die Sender uns allen gehören und wir dafür auch noch jeden Monat bezahlen müssen? Wo ist die vierte der Gewalten, wenn die anderen drei im Gleichschritt marschieren?

Es ist gut, dass es diese Debatte gibt. Wir müssen wissen, wer die Medienwirklichkeit warum und wie erschafft, weil diese Wirklichkeit genauso real ist wie die Stadt, der Fluss, die Berge. Wenn die Leitmedien sagen, dass Krieg ist oder Pandemie, dann ist Krieg oder Pandemie. Das Theater kann diese Debatte befreien von den Leidenschaften der Tagesaktualität. Ein Stück wie TRUE gehört zur schönen neuen Medienwelt, unbedingt.

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Bildquellen: Pixabay (fscredy2018), Antje Meyen