Endlich, werden einige rufen. Endlich ist es da, dieses dicke Buch. Ein Ziegelstein, ein Meilenstein. Der Name Rainer Mausfeld zieht im Milieu der Gesellschaftskritiker. Videos mit seinen Vorträgen hatten schon in der zweiten Hälfte der 2010er Jahre sechsstellige Zugriffszahlen. Wie wird die Demokratie gesteuert? Und wie ist das mit den öffentlichen Debatten? Wenn ein Professor im Ruhestand die Säle füllt, dann wittert jeder Verleger ein Geschäft. Westend hat 2018 eine Sammlung von Texten und Interviews zwischen zwei Buchdeckel gebracht und mit einem Cover versehen, bei dem jeder Nicht-Kauf eine Sünde gewesen wäre („Warum schweigen die Lämmer?“). Es folgten eine Studienausgabe, ein Taschenbuch und eine Art Auskopplung, selbstverständlich erweitert und zugespitzt, mit dem Titel „Angst und Macht“. Dann kam Corona.
Es ist nicht so, dass Rainer Mausfeld gar nicht zu sehen gewesen wäre. Ein Vortrag über „Angst und Macht“ hat es im April 2021 sogar in die Teleakademie des SWR geschafft. Es gab einige schriftliche Interviews, eine Unterschrift unter dem Wagenknecht-Schwarzer-Manifest und zwei Bücher, beide ebenfalls erschienen bei Westend – eins mit Daniela Dahn und ein langes Vorwort zum „Umgekehrten Totalitarismus“ von Sheldon Wolin. Analytisch brillant, aber zugleich seltsam weit weg von den Sorgen und Nöten seiner Fans, die sich Klartext wünschten und vielleicht auch Führung in einer Zeit, in der all das plötzlich an die eigene Haustür klopfte und buchstäblich unter die Haut gehen wollte, was Rainer Mausfeld lange vorher beschrieben und auseinandergenommen hatte.
Das neue Buch löst dieses Rätsel. 500 Seiten, auf denen uns Mausfeld zu den Jägern und Sammlern führt, ins Zweistromland, ins alte China und in das Ägypten der Pharaonen. 500 Seiten, auf denen es buchstäblich ums Ganze geht – um die Begriffe vor allem, mit denen wir die Wirklichkeit beschreiben und vielleicht sogar verändern können. Freiheit und Gleichheit. Mitte. Und: Demokratie. Mausfeld spricht von einer „orwellschen Bedeutungsverschiebung“ und von einem „gezielten Angriff auf das menschliche Bewusstsein“. Ergebnis: Wir sagen heute „Demokratie“, wenn wir über „Nicht-Demokratie“ reden und über „eine Form der Elitenherrschaft“ (S. 235). Wer dahin kommen will, braucht Ruhe. Wer ein solches Opus Magnum schreiben will, kann sich nicht in die Niederungen von Parteiarbeit, Demos, Vortragsreisen begeben – vor allem dann nicht, wenn ihm seine Analyse sagt, was alles nicht passt bei denen, die sich gerade im Widerstand wähnen.
Der Reihe nach. Jeder große Wurf braucht ein Axiom – einen Ausgangspunkt, an dem man nicht rütteln darf, wenn das Gedankengebäude stehenbleiben soll. Rainer Mausfeld, Jahrgang 1949, hatte bis 2016 eine Professur für Allgemeine Psychologie an der Universität Kiel. In dieser akademischen Disziplin geht es weniger um Unterschiede, die mit der sozialen Position zu tun haben oder mit dem Umfeld, in dem man lebt, sondern eher um das, was alle Menschen gemeinsam haben. Frau und Mann, Rentner und Oberschüler, Europäer und Afrikaner, jemand in einer der frühesten Gesellschaften und ich. Mensch ist Mensch, sagt die Psychologie. Sie muss das auch deshalb sagen, weil sich viele ihrer Befunde auf Experimente stützen, an denen nur Studenten teilnehmen und bei denen der Kontext weggezaubert wird, um Kausalitäten zu beweisen.
Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich habe nichts gegen dieses Axiom. Es gibt keine Gesellschaftstheorie, die ohne einen solchen Anker auskommt. Für Pierre Bourdieu zum Beispiel, einen Soziologen, ist das Leben ein Kampf aller gegen alle. Sich von anderen abheben, besser sein zu wollen: Das ist bei Bourdieu der Motor der Gesellschaft. Alles, was wir tun, bringt uns durch diese Brille Kapital. Der Job und die Karriereleiter? Ökonomisches Kapital. Die Geburtstagsparty? Sozialkapital. Studium und Sprachkurs? Kulturelles Kapital. Fitnessstudio? Körperkapital. Aus allem zusammen wird dann Reputation. Ansehen. Mir selbst hat dieses Werkzeug bei vielen Untersuchungen geholfen, ich sehe aber das Gegenargument. Was macht man mit Menschen, die nicht herausragen wollen? Die nicht gegen andere arbeiten wollen, sondern mit ihnen? Und weitergedacht: Sind solche Konkurrenztheorien nicht selbst Treiber einer Herrschaftsform, die auf Vereinzelung setzt und uns glauben machen will, dass der Mensch ein kalter Nutzenmaximierer ist?
Dieser Umweg über Bourdieu führt direkt hinein in den Kosmos von Rainer Mausfeld, weil der Homo oeconomicus im Zentrum der neoliberalen Ideologie steht und so ganz folgerichtig zur Zielscheibe von Gesellschaftskritik wird. Mausfelds Analyse, das ergibt sich aus seinem akademischen Hintergrund, setzt bei anthropologischen Konstanten an. Sein wichtigstes Schlagwort: Mehrhabenwollen. Wenn es um Macht und Reichtum geht, so lässt sich das zusammenfassen, dann sind wir (oder zumindest einige von uns) unersättlich. Daraus folgt: An der Wiege der Menschheit steht ein Kontrollproblem. Wie lässt sich die Gier so einschränken, dass sie das soziale Gefüge nicht zerstört? Egal ob der Super-Jäger und der Schamane von einst oder Bill Gates und Co.: Menschliche Gemeinschaften standen und stehen vor der Aufgabe, parasitären Eliten Einhalt zu gebieten. Die Natur hat uns, sagt Rainer Mausfeld, die Möglichkeit geschenkt, „in neuartiger und einzigartiger Weise mental auf komplexen Symbolstrukturen zu operieren“ und uns so von unseren Instinkten zu lösen und von dem, was gerade um uns herum passiert (S. 78). Wir können uns etwas ausdenken, was es noch gar nicht gibt, und das dann Wirklichkeit werden lassen. Wir können Geschichten erzählen, die selbst das plausibel machen, was nie plausibel sein dürfte, und dabei neben allem Irdischen auch Himmel und Götter einbauen. Mausfeld spricht von einem „geradezu unerschöpflichen kreativen Potenzial“ (im Guten wie im Bösen), sagt aber zugleich, dass „wir als Menschen ein natürliches Bedürfnis“ haben, „nicht dem Willen anderer unterworfen zu werden“, und folglich in der Lage sind, „unser soziales Handeln durch Werte- und Normensysteme zu regulieren“. Noch einmal anders formuliert: „Wir verfügen über eine natürliche Befähigung zur Moralität“ (S. 43). Wer herrschen will, muss das folglich so begründen, dass die Unterworfenen nicht merken, was wirklich passiert.
Ich zitiere das hier so ausführlich, weil damit das Spannungsfeld umrissen ist, in dem Rainer Mausfeld die Dynamik von Macht und Gegenmacht verortet, und zugleich die Angriffsfläche, die auch ein Großmeister wie er ganz zwangsläufig bietet. Ganz abgesehen von den Bauchschmerzen, die jeder Sozialforscher bei dem Wort „natürlich“ hat: Was macht Menschen zu Emporkömmlingen? Warum tun einige anderen etwas an, was sie selbst nie erleiden wollen würden? Warum streben nicht alle in Richtung Sonne, wenn das „Mehrhabenwollen“ doch in uns wohnt? Und vielleicht am wichtigsten: Genügt es tatsächlich, die Begriffe zu verdrehen und so in die Köpfe zu kommen?
Wie Jonas Tögel, ein sehr viel jüngerer Wissenschaftler, der gerade im gleichen Verlag ein Buch über „Kognitive Kriegsführung“ veröffentlicht hat, singt auch Rainer Mausfeld ein Hohelied auf seine Kollegen. Unglaublich, wie perfekt die „Methoden der Bewusstseinsmanipulation“ inzwischen seien – zu sehen zum Beispiel daran, dass die meisten tatsächlich die Illusion haben, in einer Gesellschaft zu leben, die frei ist von Ideologie, „Propaganda und Indoktrination“ (S. 21). Der Marxist, der noch immer in mir schlummert, ruft sofort: Vergesst mir das Sein nicht, liebe Leute. Vergesst nicht die Abhängigkeiten, die Angst begünstigen, und einen Alltag, der das noch verstärkt. Vergesst nicht all die Stellen, Projekte, Stipendien, mit denen sich der Digitalkonzernstaat gerade bei der Jugend Wohlverhalten kauft. Medienbesitz, Nachrichtenagenturen und Personalauswahl sind wichtig, keine Frage. Aber das viele Journalisten die Sprachformeln unverdaut weitergeben, die an sie verfüttert werden, hat auch mit den Bedingungen zu tun, unter denen die Redaktionen heute arbeiten. Nicht nur das Filtermodell von Herman und Chomsky, für Mausfeld eine zentrale Referenz, hat hier seinen blinden Fleck.
Rainer Mausfeld macht in seinem Buch das, was sein Ansatz gebietet: Er sucht nach einem „Außenstandpunkt“ und begibt sich dafür in eine Zeit, auf die die Machthaber der Gegenwart nur bedingt Zugriff haben. Wie ist man früher mit dem „Grundkonflikt einer jeden Gesellschaft“ umgegangen, nämlich dem „zwischen Volk und Eliten“ (S. 50)? Können uns unserer Vorfahren sagen, wie sich das Mehrhabenwollen eindämmen lässt? Wer die alten Videos oder die Bücher von Mausfeld kennt, der weiß, wohin die Reise geht. Ins alte Athen. Zu Machiavelli. Zu den Aufklärern. Und zu den Gründervätern der USA, die keinerlei Interesse an irgendeiner Form von Volksherrschaft hatten, aber um die Faszination wussten, die vom Wort Demokratie ausgeht.
In diesem neuen Buch ist das alles sehr viel tiefer in der Kultur- und Geistesgeschichte verankert als in den Vorträgen, Videos, Texten von früher. Rainer Mausfeld hat die Universität 2016 verlassen und die Zeit genutzt, um sich hineinzufräsen in die politische Philosophie, in die Anthropologie, in die Gesellschaftstheorie. Die Gestalter von Buchgut haben wieder ganze Arbeit geleistet und die vielen Referenzen nicht in Fußnoten vergraben, sondern in Seitenspalten, die von Belesenheit künden und Mausfelds wichtigste Botschaft so noch klarer hervortreten lassen: Mit der „egalitären Demokratie“ haben uns die alten Griechen und die Aufklärer eine „Leitidee“ geschenkt (S. 13), die einerseits „rigorose Elitenkontrolle“ erlaubt und andererseits genau deshalb „unnachgiebig bekämpft“ wird (S. 170). Da diese Leitidee im Zentrum steht, verdient sie ein langes Zitat, das zugleich exemplarisch für die Sprache des Buchs ist (S. 214):
Ihr intrinsischer Wert liegt darin, dass demokratische Prozeduren auf einem Prinzip politischer Gleichheit beruhen und dadurch alle Mitglieder einer politischen Gemeinschaft – ungeachtet ihrer faktischen Differenzen und ihrer unterschiedlichen Werte und Interessen – als freie und gleiche anerkannt werden und einen angemessenen Anteil an allen Entscheidungen haben, die ihr eigenes gesellschaftliches Leben betreffen.
Rainer Mausfeld widersteht der Versuchung, dieses Ideal mit der Wirklichkeit abzugleichen. Statt sich im Klein-Klein der Tagespolitik zu verlieren, delegiert er die Analyse erstens an Sheldon Wolin, weist zweitens überzeugend darauf hin, dass es wenig Sinn macht, einzelne Elemente wie das Los, die Ämterrotation, die Volksversammlung oder den Rat der 500 umstandslos aus der Antike in die Gegenwart zu verfrachten, und liest drittens nebenbei und manchmal auch nur durch die Blume vielen die Leviten, die heute Heureka rufen und den Stein der Weisen gefunden zu haben glauben. Besonders angetan hat es ihm dabei das Widerstandsrecht, viel diskutiert mit Blick auf Grundgesetz-Artikel 20, Absatz 4. Mausfeld sagt: Wer sich darauf beruft, fällt zurück in den Absolutismus und verabschiedet sich von seiner Rolle als Souverän, zu der gehört, „jederzeit demokratisch gesetztes Recht“ ändern „oder sich eine neue Verfassung“ geben zu können (S. 34). Mausfeld spricht von einem „lernenden Souverän“, der „auch gesetzgeberisch in die Wirtschafts- und Sozialordnung eingreifen“ kann. Es komme dabei „nicht auf den Inhalt der Gesetze an, sondern darauf, dass sie in demokratischer Weise hervorgebracht wurden“ (S. 48).
Einen Revolutionär im Wartestand mag all das enttäuschen. So ein Revolutionär weiß vermutlich, dass Kapitalismus („Macht des Stärkeren“, S. 274) und Demokratie nicht zusammenpassen, und ahnt vielleicht auch, dass das mit dem Staat nicht anders ist. Für seine Formel „repressiver Ausbeutungs- und Zwangsapparat“ kann Rainer Mausfeld Charles Tilly als Kronzeugen ins Feld führen, noch so ein großer alter Mann der US-Sozialwissenschaften. Wo Sheldon Wolin später einen „umgekehrten Totalitarismus“ am Werk sehen wird, hat Tilly schon in den 1980er Jahren von „organisiertem Verbrechen“ gesprochen und von einer Form der „Schutzgelderpressung“ (S. 165). Der Staat und Demokratie? Vergesst es, bedenkt aber auch, dass die Leitidee der Demokratie genau hier entstanden ist und „die Existenz des Staates bereits als gegeben“ voraussetzt (S. 215).
Was macht man mit alldem? Was macht man mit einer Analyse, die zwar Karl Marx, Ferdinand Lassalle oder Rosa Luxemburg zitiert, die Erfahrungen der Arbeiterbewegung ansonsten aber genauso ausblendet wie das Erbe der DDR, obwohl auch dort „Außenstandpunkte“ gewachsen sein könnten? Was macht man mit einem Autor, der die Umdeutung von Begriffen, das Umschreiben der Geschichte und den „Wortaberglauben“ (S. 385) ins Zentrum rückt, aber den Propaganda- und Zensurapparat im Digitalkonzernstaat nur auf wenigen Seiten streift?
Rainer Mausfeld spricht aus, was ist, und macht damit vor, was er von anderen erwartet – „elementare gesellschaftliche Sachverhalte und unumstößliche Tatsachen“ benennen (S. 466) und „reale Machtverhältnisse“ mitdenken, bevor man anfängt, sich eine Zukunft auszumalen (S. 454). Repräsentative Demokratie? Von Anfang an ein Mittel der „Demokratieabwehr“ (S. 269) und heute nicht mehr als eine "Illusion", schon lange erkannt "als die kostengünstigste, wirksamste und stabilste Form der Machtausübung" (S. 257). Wahlen? Nie und nimmer frei, solange die Meinungsbildung manipuliert wird. „Direkte Demokratie“? Ein „gravierendes Missverständnis“ nicht nur wegen der Machtverhältnisse in Medien, Wirtschaft, Gesellschaft, sondern auch deshalb, weil Wahlen allenfalls ein „Nebenaspekt“ sind, wenn es darum geht, Machteliten auf den Willen der Beherrschten zu verpflichten (S. 33). Über all das wieder zu reden, sagt Rainer Mausfeld, muss am Anfang stehen. Dafür braucht es eine ganz andere Atmosphäre („frei und offen“, S. 469) und damit uns alle. Am Ende geht es immer um Macht. Das heißt auch: Es reicht nicht, nur an uns selbst zu arbeiten. Die Welt wird nicht einfach so „zu einem besseren Ort“ (S. 473). Ich bin froh, dass Rainer Mausfeld auch das ganz offen ausspricht.
Rainer Mausfeld: Hybris und Nemesis. Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt - Einsichten aus 5000 Jahren. Frankfurt am Main: Westend 2023, 510 Seiten, 36 Euro