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Interview | 09.07.2023
„Nur durch Frieden bewahren wir uns selber“
In seinem neuen Buch arbeitet der Theologe, Psychotherapeut und Friedensaktivist Dr. Eugen Drewermann heraus, was die Bergpredigt Jesu uns in Zeiten des Kriegs angeht. Ein Gespräch über „gerechte“ Kriege, kriegerische Staaten und Wege aus der Angst.
Text: Hannes Pfeiffer
 
 

Herr Drewermann, Ihr neues Buch nimmt kritisch Bezug auf die von Kanzler Scholz ausgerufene „Zeitenwende“. Sie schreiben, ausgestattet mit den Mitteln des Atomzeitalters erhöhe sie nur die Fallhöhe zurück in die Barbarei der Steinzeit. Wie meinen Sie das?

Wir haben uns entwickelt vom Faustkeil bis zur Atombombe. Damit haben wir quer durch die menschliche Geschichte immer wieder den gleichen Fehler begangen: Angst zu bekämpfen, indem wir anderen Angst einjagen. Wir sprechen davon, Gewalt dürfe sich nicht lohnen; wir müssen in der Lage sein, jeden denkbaren Angreifer zurückzuschlagen. In Wirklichkeit stilisieren wir eigene Machtansprüche in globalem Maßstab gegen Russland und China und sind dabei bereit, über beliebig viele Tote zu gehen. Das ist grausam, barbarisch, archaisch. Ein Widerspruch der Zivilisation in sich selbst.

Seit jeher war Ihr Hauptanliegen, Gott ohne Angst zu denken und durch Jesus erfahrbar zu machen. Wie kommt es, dass das Gottesbild so vieler Menschen mit Angst zu tun hat? Und wie hängt das mit Krieg zusammen?

Diese Frage bringt uns zu archaischen Vorstellungen, die in der Religionsgeschichte weiter wirken. Was zum Teil mit daran liegt, dass man unter der Gottheit die Personifikation bestimmter Naturkräfte verstanden hat. Alle Naturkräfte sind ambivalent, sie bringen Leben hervor, aber nehmen es auch wieder. Die Bibel selber hat – in dem Teil, den wir das Alte Testament nennen – Rechtsvorstellungen aus dem Keilschriftrecht im großen Stil übernommen. Darin sind Strafe und Vergeltung, Gerechtigkeit, sind Krieg und Kampf in ganz großem Umfang vorhanden. Und statt abgeschafft, werden sie Gott zugeschrieben.

Oft wird ja die Religion als Jenseits-Hoffnung im krassen Gegensatz zu allem Politischen gesehen. Von Jesus ist überliefert: Er sei gekommen, einen Frieden zu geben, den die Welt nicht geben kann. Können wir von Jesus auch politisch lernen?

In der Tat heißt es sehr deutlich in Jh. 14: Nicht wie die Welt ihn gibt, gebe ich euch meinen Frieden. Es ist Jesus, der uns einen Gott lehrt, der den Menschen nachgeht. Es ist Jesus, der nicht verurteilt und uns verbietet, selber zu verurteilen. Der die Unterschiede zwischen den Menschen, unter den Völkern und den Staaten prinzipiell aufhebt. Der vollkommene Kontrast zu unserer sogenannten politischen Ordnung, unserem Völkerrecht, unserem eingebildeten Anspruch – noch in Gottes Namen – auf bestimmte Einrichtungen, Territorien, Besitztümer, Ressourcen, die wir nötig hätten zum Leben. Es ist ein Gott, von dem Jesus sagt, dass er Menschen, auch die Vieles falsch gemacht haben im Leben, eine Güte und ein Verstehen schenkt, das ihnen hilft, zu sich zurückzufinden. Es gibt aber auch aus dem Munde Jesu eine Reihe von Vorstellungen, die mit dem strafenden Gott arbeiten. Wesentlich jedoch überwindet er die Angst, die zu der Aggression führt, welche Kriege als notwendig erscheinen lässt. Der Unterschied ist absolut. Ganz konträr dazu ist die Art, wie die Welt Frieden zu geben versucht.

Der strafende Gott – als prominenter Kirchenkritiker sagen Sie, die Kirche komme noch immer nicht los von ihm.

Ja, gerade kirchlicherseits beruft man sich auf den strafenden Gott immer wieder, und auch unter neutestamentlichen Theologen wird er hochgezüchtet sogar bis zur Strafe qualvoller, ewiger Hölle.

Aber ist nicht Jesus, abgesehen von seinem Jenseitsreich, gerade auch irdisch für Frieden eingetreten?

In den Tagen Jesu’ empfand man es als einen unerhörten Skandal, dass Heiden, dass die römischen Legionäre den heiligen, von Gott so gelobten Boden Palästinas oder Israels betreten. Sie machen ihn damit unrein; einem Römer die Hand zu geben, macht unrein. Der ganze Volkszorn richtete sich gegen sie als Besatzungsmacht. Jesus aber stellt es jetzt und für alle Zeiten klar, dass man sich entscheiden muss: Will man einen zweiten David – der nach dem Psalm Salomos mit dem Stößel in der Hand im Mörser die Römer zermalmen wird wie Korn – oder einen Mann, der von Gott kommt und der als allererste Maßnahme die Kriegswagen verbrennen und die Bogen zerbrechen wird? Jesus zieht bei Mk.11, wie in der Prophezeiung, auf einem Esel in die Heilige Stadt ein. Das heißt: Abrüstung, einseitig, radikal. So kommt der Friede und nicht anders. Am Karfreitag steht es zur Wahl: Wen wollt ihr – Jesus oder Barabbas, den Dolchmann aus Galiläa? Und der Pöbel schreit: Barabbas wollen wir! Und was machen wir mit Christus? Ans Kreuz mit ihm!

Was hat diese Entscheidung mit uns heute zu tun?

Die Wahl hat nie aufgehört und sie ist auch in unseren Tagen der sogenannten Zeitenwende aktueller denn je! Leider vermisse ich, dass die Kirche darauf hinweist. Wir müssen uns entscheiden zwischen Christus und Barabbas. Da gibt es keine Kompromisse, die je nach Staatslaune mit einer Remilitarisierung des Bewusstseins, mit einer Neueinforderung der Jugend, mit einer dafür neuen Art des Patriotismus oder einer sogenannten NATO-Solidarität unter deutschem Führungsanspruch vereinbar wären. Wir stehen in der unbedingten Notwendigkeit, diesem politischen Programm religiös zu widersprechen.

Bildbeschreibung

Religion assoziieren viele Menschen mit der Institution Kirche, an der sich ja eine ganze Geschichte von Verbrechen und Krieg entfalten ließe ...

Ja, dieses Problem beginnt leider schon damit, dass die Kirche festlegt, in welchen Formeln man reden muss, um überhaupt als ein Gläubiger zu gelten. Im Nachsprechen einer theologisch fertig vorgegebenen Lehre, von Bekenntnissen, die nichts mit der wirklichen Lebensweise der Menschen zu tun haben. Arrangiert wird damit eine Homogenisierung des Denkens und des Willens unter eine Autorität und ein Lehramt. Das ist schon im vierten Jahrhundert für Konstantin ein Hauptgrund gewesen, sich des Christentums zu bedienen, um dieses gewaltige Imperium zusammenzuschweißen. Das Christentum fungierte so als Machtmittel römischer Reichseinheit.

Sie spielen auf den Krieg Konstantins an, den dieser im Jahr 312 n. Chr. gegen Maxentius – im Namen Jesu – führte. Sie nennen ihn in Ihrem Buch als Zeitpunkt, an dem die Barbarei das Christentum ablöste.

Konstantin machte im Jahr 312, in der Schlacht an der Milvischen Brücke, in der Tat aus dem Boten göttlichen Friedens einen Kriegsgott. Überliefert wird, von Eusebius jedenfalls, dass er auf die Schilder seiner Soldaten das Christus-Zeichen gemalt hatte. Mit einem Mal ist Jesus Christus derjenige, der sich auf den Schlachtfeldern als Sieger beweist; dabei heißt es schon bei Laozi, etwa 600 Jahre früher, ganz richtig: Der Sieger habe allen Grund zu trauern. Doch bis heute gilt der Sieger als „groß“, indem er über Leichen geht. Eine Lüge, die sich seit über 1700 Jahren gehalten hat. Historisch können wir sehen, dass Staaten alles Christliche ins Gegenteil verkehrt haben. Sie gründen sich auf Angst und Gewalt – rein heidnisch. Unterstützt wird das vielfach durch die Kirche.

Inwiefern?

Die Kirchen haben ihre Militärpfarrer weiter durchgesetzt, wie seit 1949 in der BRD. Weiterhin werden geistliche Unterrichtsstunden vor Offizieren abgehalten darüber, warum es richtig sei, in den Krieg zu ziehen. Von „gerechten Kriegen“ ist da die Rede. Und auch vor offenkundigen Kriegslügen schreckt die Kirche nicht zurück.

Schon 2021 hat die Bundeswehr knapp 50 Milliarden Euro erhalten, letztlich vom deutschen Steuerzahler.

Und ein Ende ist nicht in Sicht: Wir können sogar 100 Milliarden für die Bundeswehr aufbringen; offenbar steigerungsfähig. Das sind Ausgaben, die überall sonst – wenn es um Pflege, um Lehrer oder um Flüchtlingshilfe geht – ständig unmöglich erscheinen. Das zeigt, dass wir nicht nur jedes Maß verloren haben. Sondern wir sind in ein Denken hineingeraten, das den Menschen in seinen Bedürfnissen gar nicht mehr zu verstehen sucht.

Was spielen diese Bedürfnisse für eine Rolle, um Kriege und Aufrüstung endlich hinter uns zu lassen?

Sie zu verstehen, ist die Bedingung dafür, Frieden zu finden. An die Stelle des Angst-Mechanismus müssen wir Verständigung setzen, statt lediglich Symptome zu bekämpfen, die aus dieser Angst entstehen. Die Methode, die uns Jesus nahelegt, kennen wir aus dem Alltag, aus der Familie. Lehrer in der Schule und Eltern mit ihren Kindern beherrschen sie: Man muss sich nur danach erkundigen, dem nachgehen, was in jeder Aggression als Bedürfnis steckt, was darin als Berechtigung angelegt ist. Erst so wird Versöhnung möglich.

Aber erscheinen nicht Frieden und Versöhnung angesichts zahlloser Brandherde und Kriegsschauplätze in der Welt als schier utopisch? Wie kommen wir von Ihrem Familienbeispiel zum Ukraine-Krieg?

Im Ukraine-Krieg wäre eine friedvolle Lösung lange Zeit möglich gewesen. Leider ist das immer wieder abgelehnt worden. Wer Frieden will, muss aber mit dem „Gegner“ so sprechen, dass dieser sich verstanden fühlt in seinen Ängsten und seinen eigenen Sicherheitsbedürfnissen. In unseren Tagen wird das geradezu verunmöglicht mit Begriffen wie Querdenker, Putin-Versteher und so weiter! Natürlich kann der Krieg so kein Ende finden. 2007 hat Putin auf der sogenannten Sicherheitskonferenz in München darauf hingewiesen: Wir drohen erneut in einen Kalten Krieg abzurutschen. Er hat es simpel gesagt mit dem Hinweis, dass die NATO ihr Versprechen gebrochen habe.

Wie hat sie es gebrochen?

1989 war die Erklärung von Baker, von Genscher, von Kohl, von allen Beteiligten: Die NATO werde sich nicht einen Inch nach Osten bewegen. In der Zwischenzeit hatte man das Baltikum aufgerüstet, dort Raketen stationiert. Angeblich, um iranische Raketen, gerichtet gegen Israel, abzufangen. Eine Lüge, die so irrsinnig ist, dass man nicht glauben mag, sie wäre je lanciert worden. Aber es war so. Putin konnte das alles nicht glauben; er musste miterleben, dass an der Westgrenze seines Landes Raketen stationiert werden, die seine Sicherheit bedrohen. Die NATO hat das Sicherheitsbedürfnis Russlands von Anfang an mit Füßen getreten.

Im Sinne des Zeitgeists müsste ich nun fragen: Was aber machen wir jetzt, wenn ein Land völkerrechtswidrig angegriffen wird? Und: Dürfen sich die Ukrainer nicht mit Waffen verteidigen?

Dieser Rechtfertigung von Verteidigung liegt ein tragischer Irrtum zugrunde. Wir führen mit aller Militarisierung unter dem Motto: Wir schaffen nur auf diese Weise Sicherheit, wir schützen Angegriffene, wir setzen ja nur deren Recht durch! lediglich einen Kampf gegen Angstsymptome. Wir müssen aber im Hintergrund die Angst sehen, die wir damit wirkungsvoll erzeugen! Für die müssen wir uns interessieren. Wir können nicht Sicherheit einseitig auslegen als Sicherheit für uns! Unsere Sicherheit ist die Sicherheit, die wir dem Nachbarn geben.

Was verstehen Sie unter der sogenannten regelbasierten Ordnung?

Ganz einfach: Die Regeln macht man selber und darauf beruft man sich! Es waren die USA, es ist die NATO, die den Atomvertrag gebrochen haben. 1992 kam der Krieg auf dem Balkan. Dann kam von Madeleine Albright die Kriegserklärung gegen Serbien 1999, wo zum ersten Mal wieder deutsche Bomber über Belgrad waren. Ebenfalls im Ganzen mit hunderttausenden von Toten. Schlag auf Schlag folgten der erste Golfkrieg 1991, der zweite Golfkrieg im Jahr 2003, dazwischen der Afghanistan-Krieg, 2001. Dann kam der Überfall auf Libyen, das war 2011. Damals hatte Putin noch geglaubt, man könne die Flugverbotszone, die angesagt war, wirklich einhalten. Er blockierte das Projekt also nicht im Weltsicherheitsrat durch Veto; nur um zu erleben, dass er betrogen wird. Es ging um die Ermordung des sogenannten Diktators von Libyen – das war mal eines der wohlhabendsten Länder in Afrika! Und die aus dieser Barbarei entstandenen Konflikte muss man sich aus der Ferne bis heute mit ansehen. Nachdem Hillary Clinton als Außenministerin dafür gesorgt hatte, dass Teile der Waffen nach Syrien transportiert werden, haben wir seit 2012 dort den Bürgerkrieg. Von da an hat Putin allerdings nicht mehr zugeschaut; er hat mit interveniert, um nicht auch noch Assad in Syrien zu verlieren.

2014 unterzeichnete Putin das Minsker Abkommen, mit Poroschenko, Hollande und Merkel. Inzwischen wissen wir von Merkel, was es damit auf sich hatte.

Ganz genau. Mit unglaublicher Chuzpe ist es verraten worden, wie Merkel im Dezember letzten Jahres erklärte. Es sei alles nur gemacht, damit Zeit genug bliebe, um die Ukraine aufzurüsten. Bei den Verhandlungen in Minsk hatte man beschlossen, dass man den Donbass in Ruhe lässt, für die Krim keinen Krieg führt und ihm zugesagt, dass die militärische Neutralität der Ukraine – also der Nicht-Beitritt zur NATO – gewährleistet sei. Auf dieser Basis hätte man Frieden in der Ukraine halten können. Vorausgegangen war der sogenannte Regime–Change mit Nuland, ganz im Sinne der NATO. Janukovič, der demokratisch gewählte Ukraine–Präsident, musste nach Russland fliehen. 2014 hat man der Ukraine dann versprochen, sie würde NATO–Mitglied werden. Das wurde sogar Verfassungsbestandteil der Ukraine. Putin sah sich das längst nicht mehr ruhig an; er besetzte daraufhin die Krim. Aber noch im Dezember 2021 gab es ein Gesuch von ihm, man möchte Frieden halten. Noch absurder: Im März 2022, als der Krieg bereits ausgebrochen, der Einmarsch Russlands in die Ukraine im Gange war, gab es eine entsprechende Verhandlung zwischen der Ukraine und Russland, in Istanbul. Man hätte bei militärpolitischer Neutralität der Ukraine, ohne die militärische Bedrohung im Donbass und bei Hinnahme der russischen Bevölkerungsentscheidung auf der Krim, Frieden schaffen können. Das wurde unterbunden, indem Johnson, damals noch Premierminister, in Weisung der Amerikaner erklärte, dass Selenskyj jede Unterstützung bekommen würde, wenn er nur den Krieg fortsetzt.

Vielleicht müssen wir einmal auch auf den Kapitalismus zu sprechen kommen, der ja nicht ganz unbedeutend bei dieser Kriegslogik scheint?

In der Tat. Der Philosoph Walter Benjamin hatte 1920 bereits Recht, wenn er die wirkliche Religion im Westteil Europas und in Nordamerika im Kapitalismus sieht. Er will sagen: Fragen des Lebens, der menschlichen Existenz, der Sinnfindung, der menschlichen Sensibilität, die mal von der Religion gestützt und beantwortet wurden, werden heute aufgezehrt vom Geldsystem, in einer endlos sich „verschuldenden Schuld“. Dafür leben wir, darin verbrauchen wir unser Leben, darin lassen wir uns entfremden, lassen uns vorgeben, welchen Zielen wir folgen sollen: größer, schneller, mächtiger und grausamer! Und eins ist bei Benjamin wichtig: Die Religion ist eigentlich dazu da, mit Opferleistungen Schuld abzubauen. Man muss Tiere schlachten zum Beispiel, um einen strafenden Gott zu versöhnen.

Nun baut im Gegensatz zur kultischen Religion der Kapitalismus die Schuld aber nicht ab, sondern immer weiter auf.

Der Kapitalismus ist raffiniert genug, vom Schuldprinzip auszugehen, um daran immer mehr zu verdienen. Im Geld drücken sich die Schulden quantitativ aus. Dem Kapitalisten liegt daran, es einzusetzen, nur um damit noch mehr Geld zu machen. Es ist eine ständige Umschichtung von Geld, auf dem Rücken der Armen. Weil die Geldbesitzer wie im Paternoster immer noch höher aufsteigen, fallen die Habenichtse nur immer tiefer. Und der Kapitalismus wird von selbst zu einem Imperialismus, denn er kann nur Bestand haben, indem er wächst. Auch räumlich und zeitlich muss er immer weiter ausgreifen und schneller wachsen. Er ist abhängig von der Gewinnung billiger Ressourcen und der Indienstnahme billiger Arbeitskräfte. Ausbeutung und Unterdrückung sind die Hebel, mit denen der Kapitalismus sich selbst behauptet. Auch die USA haben 1989, am Ende des sogenannten Kalten Kriegs, befunden, dass sie die einzige Weltmacht seien. 1997 konnte Brzeziński, ihr Dauerberater, in einem Buch davon sprechen.

Die USA wurde spätestens damit zur selbsternannten „Welt-Polizei“ ...

Seit 1991 ist es das Programm, mögliche Konkurrenten so zu schwächen, dass sie als Konkurrenten gar nicht mehr infrage kommen. Das bedeutet: Krieg gegen Russland, Krieg gegen China. Diese Prozesse sind jetzt voll im Gang und werden es die nächsten Jahrzehnte sein. Die Narrative muss man nur so drehen, dass der Krieg vom Zaun gebrochen wird von der Gegenseite, damit man sie rundum schuldig sprechen kann. Im Hintergrund aber steht die Frage: Wie lockt man den Gegner in die Falle? Man muss es lediglich zehn Jahre lang so machen wie unsere Politik der letzten Jahre. Jetzt haben wir die „großartige“ Möglichkeit, dass die Ukraine den Ersatzkrieg führt, um Russland zu schwächen. Damit wir dann, nach US-Kalkül, alle Energie im pazifischen Raum konzentrieren zu können. Kapitalismus kann nicht anders existieren denn als militarisierter Imperialismus, als Kolonialismus, Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Wer Geld will, muss es so bekommen! Deshalb warnt Jesus in der Bergpredigt: Ihr müsst wählen zwischen Gott und dem Mammon. Eins von beiden geht nur.

Im Sinne der Menschlichkeit ist sicher Mitgefühl zentral. Auch in industriellen Schlachthöfen lassen wir es ja größtenteils hinter uns.

Das Zitat wird Tolstoi zugeschrieben: Es kann nur solange Schlachtfelder geben, wie es auch Schlachthöfe gibt. Was damit angedeutet ist, stünde in großem Stil entfaltet bei Schopenhauer. Wer sein Mitleid gegenüber Tieren verliert, sie skrupellos und systematisch tötet, nur um Geld zu verdienen, wird kein Mitleid auch im Umgang mit Menschen empfinden.

Wie hängt diese Art der Abstumpfung mit der im Krieg zusammen?

Der Gehorsam beim Militär wird so eingeübt, dass das eigene Denken aus den Köpfen gesogen, die gesamte Seele wie chirurgisch aus dem Körper entfernt wird. Durch Gleichschritt, durch Kommando, durch Drill. Es ist die Umerziehung aller Wertbegriffe. Es gilt jetzt nicht mehr, was die Mutter einmal gesagt hat, der Pfarrer hätte sagen sollen – sondern allein, was der Drill-Sergeant sagt. Und wenn er sie anbrüllt, die Rekruten, die gerade 18-Jährigen: „Ihr stürmt diesen Hügel und ihr bringt sie alle um, ihr Scheißer!“ Dann werden sie sie alle umbringen. Schauen Sie sich nur mal die erste halbe Stunde von Kubricks Full Metal Jacket an. Ihr müsst Gott mehr gehorchen als den Menschen, heißt es aus dem Munde Petri im 5. Kapitel der Apostelgeschichte. Leistet keinen Eid, heißt es bei Mt. 5. Unbedingter Gehorsam ist – im Sinne Jesu – nur Gott gegenüber erlaubt und ganz sicher nicht gegenüber dem „Führer“ oder welch einem Hampelmann auch sonst.

Für alle, die Ihr Buch nicht gelesen haben: Was stellen Sie der im Februar 2022 von Scholz ausgerufenen Zeitenwende entgegen? Was ist Ihr Appell an die Menschen?

Die Aufforderung kann nur sein: Verweigerung des Wehrdienstes, absolute Verweigerung des Wehrdienstes! Lähmung dieser ganzen Maschinerie, Generalstreik in der Militärpolitik. Denn dies weiß jeder – mit oder ohne Bergpredigt: So schafft man keinen Frieden, so schafft man nicht mal Sicherheit! So bedroht man inzwischen die ganze Menschheit mit Unsicherheit. Die Deutschen sind gerade dabei, die F-35 zu bestellen unter Scholz, Tarnkappenbomber, die Atomwaffen transportieren können. Wir lagern hier in Deutschland, in Büchel, Atomwaffen. Das alles ist jederzeit einsatzbereit! Da sollten wir nicht länger reden von Freiheit, Demokratie, humanitärer Verantwortung – das sind Lügenblasen der Heuchelei.

Wer all dem politisch und radikal-pazifistisch etwas entgegengesetzt hat, war ja Gandhi, dem für Ihr Buch auch zentraler Stellenwert zukommt. Jedoch wurde er auch kritisiert; prominent etwa von George Orwell. Der auf die Juden verwies, zur Zeit des Dritten Reichs, und fragte, ob man ruhig mit ansehen solle, wie sie ausgerottet werden.

Die Frage mit den Juden wird leider unselig und fälschlich verknüpft mit der Motivation, in den Zweiten Weltkrieg einzutreten. Jörg Friedrich – Historiker und ausgezeichneter Buchautor – hat darüber geschrieben: Es gab das Ersuchen von Juden, dass bei den riesigen Bombardements auf die Landfläche des sogenannten Großdeutschlands doch die Gleisanlagen wenigstens bombardiert werden könnten, die nach Auschwitz führten. Das war die historische Antwort. Die scheinbare Rettung der Juden ist eine nachträgliche Feinrechtfertigung der Zerstörung so gut wie aller deutschen Großstädte mit am Ende 500.000 Toten.

Sie wollen sagen, den Alliierten ging es nie um Menschenleben?

Ganz richtig, in seinem Buch „Der Brand“ fragt Friedrich nach: Wann eigentlich beginnen die Skrupel – bei 500.000 Toten? Offenbar nicht – Zivilbevölkerung: alte Leute, kleine Kinder, Frauen, Hilflose. Beim Feuersturm in Hamburg. 43.000 Tote in einer Nacht – keine Skrupel, im Gegenteil: Admiral Harris feierte sich in der Operation Gomorrha. Bis hin zu den beiden Atombomben-Angriffe auf Hiroshima und Nagasaki am 6. und 9. August 1945 unter Harry Trumen. Da konnte Gandhi sagen: „Man hat Hitler mit Hitler besiegt.“ Und das ist die Logik eines jeden Krieges.

Kommen wir nochmal auf die Kritik Orwells zurück …

Den Vorschlag des kollektiven Selbstmords wird Gandhi so nicht gemacht haben – ich bestreite das –, aber er selber hat auf große Krisen reagiert mit Nahrungsverweigerung, mit Askese und mit Fasten, und damit großen Einfluss auf die indische Bevölkerung gewonnen. Und so ähnlich, denke ich, hätte er den Widerstand der Juden auch befürwortet. Im Übrigen – damals war es ja noch möglich, dass Juden hätten aus dem Reichsgebiet entkommen können. Das Paradox jedoch war: Es wollte kaum jemand sie haben. Die Geschichte des Exodus kennen Sie – bis zur Wannseekonferenz war das noch eine Idee sogar der Nazis, man könnte die Juden – statt sie in die „Endlösung“ hineinzutreiben zur physischen Vernichtung – irgendwohin aussiedeln. Für Madagaskar gab es Pläne. Man wollte sie loswerden, sie auf dem Sklavenmarkt international verkaufen. All das ist pervers. Wer also sagt, wir hätten die Juden retten müssen, hat absolut Recht. Aber die Möglichkeit war da und wurde unmenschlicherweise verweigert. Und jetzt rückwärts blickend erklärt man, der Zweite Weltkrieg sei notwendig gewesen zur Rettung jüdischen Lebens. So war es historisch aber nicht, und so kann es auch nicht sein. Gandhi konnte sagen: „Es gibt keinen Weg zum Frieden. Der einzige Weg zum Frieden ist der Friede selber. Man muss mit dem Frieden anfangen, wenn man beim Frieden ankommen will.“ Man kann nicht Gift sähen und am Ende Nahrungsmittel ernten! Man muss von den Mitteln her auf das Ziel hin denken, und nicht umgekehrt vom Ziel her alle Mittel rechtfertigen. Das ist ein Grundfehler nach der Meinung Gandhis, und da stimme ich sehr mit ihm überein. Orwell konnte selbst mal darüber nachdenken, was Kriege eigentlich mit uns machen: Es waren Bomber über ihm, deutsche Bomber. Und keiner in den Cockpits der Angriffsmaschinen hatte die Absicht, ihn, George Orwell, zu töten. Aber das könnte er vermutlich machen, weil es ihm befohlen wird. Wenn das der Krieg ist, was macht er mit uns Menschen? So fragte Orwell.

In seiner Autobiografie schrieb Gandhi 1925: „Mittlerweile bin ich überzeugt, dass alles, was mir möglich ist, sogar einem Kind möglich ist. (…) Die Mittel für die Suche nach der [göttlichen] Wahrheit sind so einfach wie komplex. Einem arroganten Menschen kommen sie wahrscheinlich unmöglich, einem unschuldigen Kind jedoch sehr möglich vor.“

So ist das, ja.

Mir schien hierin etwas mitzuschwingen, das auch Sie in Ihrer tiefenpsychologischen Beschäftigung mit Märchen motiviert. Was ist es, das Erwachsenen oder arroganten Menschen abhanden kommt? Können wir von den Kindern Friedfertigkeit lernen?

Das ist ein wichtiger Gedanke in der ganzen Botschaft Jesu, sogar zwei Mal. Im neunten Kapitel des Markus-Evangeliums gefragt, was wir tun sollten, sagt Jesus: Wenn ihr nicht lernt, zu werden wie die Kinder, könnt ihr in Gottes Reich nicht eintreten, werdet ihr Gott gar nicht erst verstehen. Ein Kind weiß, dass es nur lebt von Liebe. Und es antwortet auf die Liebe, die es findet, mit Vertrauen. Das ist die Art für Jesus, unser Verhältnis zu Gott zu beschreiben und, wie wir miteinander umgehen sollten. Kinder sind in ihrem Denken und Fühlen geschlossen und einheitlich. Die müssten wir retten vor unserer Erwachsenenwelt, die alles polarisiert in Gegensätzen – nach gut und böse, nach vernünftig und unvernünftig, nach Lust- und Realitätsprinzip …

In diesem Sinne ist auch Ihr Anliegen, die Bibel symbolisch zu deuten?

Genau. Ich glaube, wir sollten sie lesen nach Art der Dichter, der Musiker und Maler. Im Gefühlsbereich existenziell vertieft, sodass unser Denken nicht dauernd den Gefühlen widersprechen muss. Nach Art der Erwachsenen zerspalten wir alle Dinge, die dabei nur als Einheit eine integrale Form des Menschseins uns erlauben. Die sollten wir wieder gewinnen und das ist auch das Angebot Jesu.

In vielen der Märchen hat diese Einsicht zentralen Stellenwert. Erfahren wir nicht auch in der Geschichte vom Kleinen Prinzen, was den Erwachsenen fehlt?

Ja, beim Kleinen Prinzen finden Sie das so ausgesprochen: Die erwachsenen Menschen sind entschieden sehr sonderbar, sagt er. Aber auch dort finden Sie die Spaltung zwischen dem Flieger, der schon wieder abhebt, und dem Kleinen Prinzen, der auch zurück muss zu seinem entfernten Planeten und seiner Rose, die dort auf ihn wartet. Saint-Exupéry hat jedoch keine wirklich synthetische Lösung. Die finden Sie im Neuen Testament. Und in den Märchen der Brüder Grimm ganz oft. Dort ist die Erfahrung: Nur die Liebe kann uns selbst bewahren, und zu uns selbst zurückführen, wenn wir uns verloren haben. Das heißt, bezogen auf unser Thema: Bekämpfe das Böse nicht, sondern überliebe es!

Und in Ihrem Buch heißt es entsprechend „Nur durch Frieden bewahren wir uns selber“. Herr Drewermann, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Hannes Pfeiffer ist Student an der Freien Akademie für Medien und Journalismus.

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