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Artikel | 23.04.2023
Das Gespräch ist abwegig geworden
Warum das einseitige Feindbild und das Abdriften sachlicher Debatten in identitäre Fronten uns den gemeinsamen Boden entziehen.
Text: Hannes Pfeiffer
 
 

Man ist für oder gegen Putin. Oder? Zwei Möglichkeiten – zwei Wege ins Verderben. Nehme ich die Identifikation mit dem Machthaber im Kreml oder das Feindbild, die allzu verkürzte Definition von ‚böse‘? Du bist für Frieden? Dann musst du gegen Putin sein. Niemand stellt sich hin und sagt: Ich bin für Putin! Doch die Unterstellungen an alle, die nicht explizit gegen ihn sind, werden dadurch nicht schonender. Die mediale Definitionsmacht duldet keine Grautöne. Bekennt man sich nicht ausdrücklich und händeringend zur „richtigen“ Seite, so lassen Beschimpfungen und Unterstellungen nicht lange auf sich warten.

Der Philosoph und Cicero-Kolumnist Alexander Grau schrieb 2017 in seinem Aufsatz Hypermoral, die „Moralisierung quasi aller gesellschaftlichen und politischen Fragen“ würde – als letzter „Gewissheitsanker einer Gesellschaft“ – vom Nachdenken entlasten, diene „der Emotionalisierung und damit der Massenmobilisierung im Kampf um die öffentliche Meinung“. Doch dieser Kampf geht über Leichen und nimmt in Kauf, dass ihm (mit der Sache selbst) der Ernst der Lage aus der Hand gleitet. Die „Gegen-Offensive“ darf alles, denn sie kämpft ja fürs Richtige. Angesichts eines eskalierenden Krieges mit einer Atommacht sollten wir aber „nicht aus Angst vor dem moralischen Tod Selbstmord begehen“, spitzte es Antje Vollmer, die vor Kurzem verstorbene Ur-Grüne, Aktivistin und ehemalige Vize-Bundestagspräsidentin zu Berliner Zeitung.

Die Identitätsmaschine

Eine schlichte Frage, die das ZDF kurz vor dem Russland-Besuch Xi Jinpings im März zur Schlagzeile machte, ist in mehrfacher Hinsicht bezeichnend für die schiere Unfähigkeit, miteinander zu reden:

„Wird Xi Russland mit diesem Besuch seine Unterstützung anbieten oder drängt er Putin womöglich zum Frieden mit der Ukraine?“

Erstens, das Grundverständnis dahinter: Man unterstützt den einen oder den anderen, keinesfalls keinen oder beide. Neutralität Fehlanzeige. So müssen sich jene, die der Ukraine nicht ihre „Solidarität“ im Sinne von Waffen- und Panzerlieferungen bescheinigen, anhören, sie seien „Trolle“ von Putin. Die Initiatoren des Ostermarschs in Haldensleben (Sachsen-Anhalt) zum Beispiel wurden jüngst aufgefordert, eine – bereits zugesagte – Unterstützung vom örtlichen Linken-Vorstand zurückzuzahlen, weil eingeladene Redner eine (wenn auch unbelegte) „starke“ und „zu erwartende“ „Nähe zu Putin“ gehabt hätten. Alles Vermittelnde, alles dazwischen wird vernichtet. Wer nicht vorauseilend Partei ergreift, ergreift Partei für die „Falschen“. Zurückhaltung, Mäßigung, Vorsicht, Ausschauhalten nach Frieden stehen unter Generalverdacht! Man unterstützt die eine – oder die Gegenseite!

Zweitens, die identitäre Logik: Hat man sich den „Falschen“ zu weit genähert, so ist die Kontaktschuld, gleichsam die Kontamination der eigenen Person, unausweichlich. Und weil Personen nach dieser Logik als unwandelbar gelten, heißt das konkret: Um Frieden zu erreichen, müsse man Putin dazu drängen oder gar ihn stürzen. Keinesfalls könnte Frieden in seinem Interesse sein. Per definitionem: Wie „Verschwörungstheoretiker“ (nach der üblichen repressiven Definition) niemals die Wahrheit sagen, kann Putin nicht für Frieden oder irgendein erstrebenswertes Gut sein. Diese überwiegend identitär (also auf Gruppenzugehörigkeit) fixierte Logik der Debatte zeigt sich auch darin, dass es noch immer „keine inhaltliche Debatte über die jetzt brennende Frage“ gibt. „Wie kommen wir denn zum Frieden hin?“, monierte Antje Vollmer.

Was das „Böse“ macht

Drittens, das einseitige Feindbild besagt also: Putin ist der Krieg schlechthin; und da Krieg schlecht ist, muss man Putin bekämpfen. Reden kann man nur, wo Möglichkeiten, Potenziale in Personen noch angelegt sind, sie nicht einseitig und objektifiziert zum monolithen Bösewicht verklärt werden. Der Philosoph David Hume bemerkte einmal: „Die Menschen sind in allen Zeiten und Orten so sehr dieselben, dass uns die Geschichte auf diesem Gebiet nichts Neues oder Fremdartiges berichtet.“ Doch die Geschichte verrät: Das Feindbild ist der Anfang eines jeden Krieges. Mit ihm ist immer eine anthropologische Setzung gemacht. Wir kennen sie aus Spielfilmen. Während die Guten – für die Story unerlässlich – eine Entwicklung durchmachen und relativ flexibel sind, müssen die Bösen als Kontrastfolie herhalten, ihr Charakter steht ein für allemal fest. Das ist das Feindbild.

Doch pauschale Aussagen über die Natur eines Menschen (jenseits empirisch feststellbarer Fakten) haben immer auch konstitutiven Charakter. Müsste man nicht den Schritt, maßgebliche Akteure in einem Konflikt als unwandelbar hinzustellen, als Kriegshandlung per se begreifen? Zumindest folgt aus ihm, dass nicht länger der Kompromiss zwischen zwei Akteuren die wesentliche Variable zur Konfliktlösung darstellt, sondern einer der Akteure selbst. Doch eine möglichst friedliche und ausgleichende Lösung kann immer nur dann gefunden werden, wenn beide Akteure als vernunft- und verhandlungsfähig ernstgenommen werden. Passiert dies nicht, so werden schnell bellizistische Motive – wie das Drängen auf einen Regime Change – legitimiert. Solche Stimmen tönen inzwischen auch aus deutschen Leitmedien.

Aber waren nicht völkerrechtswidrig immer die anderen?

Monströse Fronten

Auffällig wird schnell, dass es um Inhalte nicht mehr geht. Aussprüche wie „den Falschen keine Plattform bieten“ oder jemanden zu canceln sind längst üblich. Aber Möglichkeit ist zwischenmenschlich. Die Verbannung der Inhalte bezeugt einen Clash der Identitäten. Zwischen ihnen gibt es nichts mehr, keinen Raum der Vermittlung, keine Möglichkeit. Unvoreingenommen mit der „falschen“ Person zu sprechen – ein Unding. In der Identität ist alles schon angelegt – wie in Maschinen. Die Unterstellung der Unmöglichkeit. Gespräche sind affirmativ oder abgrenzend – das Höchste der Gefühle ist dann ein tendenziöser Verriss! Die Welt ist rigide geworden. Aber ist dann der Aufprall noch zu vermeiden? Wie kann da noch verhandeln, wer anderer Meinung ist?

„Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass wir nicht in der Lage sind, Russlands Verhalten zu ändern“, sagte der ukrainische Präsident Selenskyj Ende Februar der italienischen Zeitung Corriere della Sera zufolge.

Anstatt Handlungsspielraum und Potenzialen im Gespräch eine unüberwindbare Schlucht? Die Möglichkeit ist, wie es scheint, vom Zwischenmenschlichen (Interpersonellen) – im Gespräch eine Lösung, einen Konsens zu finden – ins Personelle, in die Identität der Beteiligten selbst, abgerutscht. Und damit versandet. Personelle Attribute werden aufsummiert, die Gesprächsinitiative wird abwegig mit Verweis auf den berechneten Misserfolg. Anthropologie im aufklärerischen Sinne würde bei menschlicher Spontanität, und dadurch: Interaktionsmöglichkeiten ansetzen. Das ergebnisoffene Gespräch überwindet die Identität zugunsten der Erkenntnis! Aber: Spontanität ist zwischen Identitätsfronten versickert. Aus dem Zwischenraum absorbiert in mehr oder weniger festgefahrene Charakteristika; mit dem Schwinden von zwischenmenschlichem Handlungsspielraum erhöht sich die Reibung zwischen den Fronten. Monströse Fronten, die verkeilen – zu kollidieren, einander gar zu schlucken oder zu zermalmen drohen. Zugegeben, das ist ein negatives Bild.

Muss es wirklich dabei bleiben? In einem zweiten Teil werde ich eine Brücke schlagen zu menschlichen Potenzialen, getreu dem Motto: den Balken im eigenen Auge sehen.

Hannes Pfeiffer ist Student an der Freien Akademie für Medien und Journalismus.

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Bildquellen: 愚木混株 Cdd20, Pixabay