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Bericht | 16.12.2022
Meinung ist hier Plural
In München gibt es einen Debattenraum, der seinen Namen verdient – zum Beispiel beim Thema Wirtschaft und Geld. Ein Bericht aus der Adventszeit.
Text: Hannes Pfeiffer
 
 

Wie kam es zu dem Schlamassel, in dem wir gerade sind? Wie schätzt du, geht es weiter? Was tun???

Man wolle wieder ins Gespräch kommen, über die Blasen hinweg, erklärt die Frau mit dem Mikrofon. Sabine Kaiser moderiert vor allem in der wissenschaftlichen und Finanz-Welt. Hier ist sie ehrenamtlich. Neben ihr warten vier Männer darauf, dass ihnen das Wort erteilt wird. Eine Runde je Frage, die ersten drei stehen fest. Danach freie Diskussion. Männer und Frauen sitzen hier bunt gemischt, Tendenz: 50 aufwärts. Der Verteiler des „Debattenraums“ ist übersichtlich – diesen Eindruck vermittelte die Sorgfalt, mit der vorab E-Mails beantwortet und am Eingang Namensschilder verteilt worden sind. Eine Gruppe Erlesener – die Adresse war wenige Tage vorher per Mail bekannt gegeben worden. Exklusivität prägt dann den gesamten Abend. Trotz Meinungsverschiedenheiten kann man reden (und man will), der Austausch lebt, ganz ohne Diffamierung und Anfeindungen. Auch parteipolitische Verwerfungen bleiben aus, die unterschiedlichen Positionen der Sprecher sind absehbar. Es ist der siebte „Debattenraum“, vor Ort organisiert in München. Auf dem Podium sitzen

  • Christian Kreiß – VWL-Professor, Buchautor (Das Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft, 2019) und Experte für die Große Depression 1929-1933,
  • Ralf Flierl – Wirtschaftsjournalist, Gründer und Chefredakteur des Anlegermagazins Smart Investor und Vertreter der Österreichischen Schule der Nationalökonomie,
  • der Anthropologe Cluse Krings – ebenfalls Buchautor (Vom Untergang der Moderne, 2021) und
  • Olaf Malek – Patentanwalt, Mitinitiator der Freien Linken München, nach eigenen Angaben „Marxist-Leninist auf der Suche nach neuen Ansätzen zur Weltrevolution“.

Vom Hayek-Jünger bis zum verspäteten Kommunisten ist alles dabei. Dazu große Namen. Entsprechend der Ansturm. Die ersten sechs Veranstaltungen hätten im kleinen Rahmen stattgefunden, fast familiär, sagt Kaiser. Die Vornamen auf den Namensschildern sind auch diesmal groß geschrieben, aber heute wird mitgeschnitten. Man ist unter sich. Und doch (oder gerade deshalb?): Meinung ist hier Plural.

Worüber man spricht

Wohin geht es mit Wirtschaft und Gesellschaft? Wohin wollen wir? Führen uns die tradierten Grundlagen der Wirtschaftslehre in die Irre?

Das Thema an diesem Abend ist weit. Angelpunkt ist die wirtschaftliche und gesellschaftliche Misere in Deutschland. Man spricht über „den Schlamassel“. In diesem Wort liegt vielleicht jener Konsens, der die Gruppe eint: der Dissens mit der Corona-Politik der vergangenen zweieinhalb Jahre. Es geht um die Sanktionen gegen Russland, um falsche Außenpolitik, ein falsches Geldsystem, falsche Anreize, Kapitalismus. Immerhin: Man versteht sich. Stichwörter sind Staatsdirigismus, das „richtige Geldsystem“. Am Ende ist man sich einig: Das Geldsystem steht vor dem Ende. Dafür der Auslöser ist für alle am Pult – außer für Olaf Malek – das Fiat-Geld seit 1971. Aber auch Malek sagt: Wie es ist, kann es nicht weitergehen.

Freier Markt oder Revolution?

Dann wird es kontrovers, wie zu erwarten: Ralf Flierl ist sich sicher, der Kapitalismus habe funktioniert. Das, was wir heute haben, sei aber gar kein Kapitalismus. Seine Lösung, mehrfach wiederholt: Schafft Zentralbanken wie die EZB ab. Flierl ist ein Apostel der libertären Schule. Für ihn hängt die Freiheit des Einzelnen von der Freiheit der Märkte ab, für die es „gutes Geld“ brauche. Man solle sich bloß anschauen, welche Häuser Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut worden sind und wie die neuen Häuser heute aussehen.

Für Cluse Krings ist die Moderne ein „Geschenk des Kapitalismus“. Er geht in die Ära der italienischen Stadtstaaten zurück, schwärmt vom Humanismus und springt dann in die späten 1970er-Jahre: Reagonomics. Der Untergang der Moderne, aber nicht des Kapitalismus. In seinem jüngsten Buch fragt er: „Droht uns ein zweites Mittelalter?“ Auch die Rede von Neo-Feudalismus findet er plausibel angesichts der Macht mancher „Philanthropen“.

Also eine „Deformation des Kapitalismus“? Für Olaf Malek ist das ein „weißer Schimmel“. Die Deformation liege in der Natur des Kapitalismus selbst. Flierl und Malek könnten also kaum weiter auseinander liegen. Malek hat sich den Marxismus als Autodiktat beigebracht. Links zu sein, antikapitalistisch – diese Kriterien erfüllt er. Die konkreteren Fragen der Moderatorin kann er oft kaum beantworten. Er habe „von diesen ganzen finanz-ökonomischen Dingen“ nicht viel Ahnung, sagt er einmal. „Sozialismus“ – schnell machen die üblichen Vorbehalte und Gemeinplätze die Runde. Von Malek hört man Wendungen wie „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“. Manches hat das Gegenlager nicht ohne Sarkasmus antizipiert: Die bisherigen Sozialismen waren alle „keine richtigen". In dieser Runde spielt Malek den prototypischen Marxisten, beinah karikiert. Für ihn ist klar: Es hilft nur „die Revolution". Seine Leseempfehlung, ein Buch zur „Planwirtschaft“, liegt vor ihm. Als es hart auf hart kommt, hebt er es hoch fürs Publikum. Krings ist sichtlich amüsiert.

Mephisto oder Psychopathen?

Zum Mephisto-Prinzip in unserer Wirtschaft gehören für Christian Kreiß sieben falsche und schädliche Grundannahmen. Für akademische Abhandlungen ist heute kein Platz, aber Mephisto fällt als Schlagwort. Damit sind die Kategorien gut und böse im Spiel. Seiner Meinung nach „stecken massive geistige, spirituelle Kräfte“ hinter dem Schlamassel der Zeit. Kreiß zitiert Mephisto. „Staub soll er fressen, und mit Lust.“ Der Professor spricht von einem „Frontalangriff auf unsere Herzen“, auf Freiheit und Demokratie. Neben Flierls Pokerface wirkt seine Mimik empathisch, beinah tiefenentspannt. Hinterher erfahre ich, dass sein zweites Leben mit 35 begann, Ausgangspunkt: ein Buch von Rudolf Steiner (Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?). Heute propagiere man immer stärker Demokratie und Frieden, sagt Kreiß, und wolle beides eigentlich abbauen. Unserer Zeit attestiert er eine „geistige Dekadenz“, die ganz erbärmlich sei. Auch bei dieser Diagnose sind sich die vier Herren auf dem Podium sehr einig.

Statt von gut und böse spricht Ralf Flierl von Psychopathie und Empathie. Das „falsche Geldsystem“ sei schuld. Dieses spüle die Psychopathen prinzipiell nach oben. Ein Prozent der Bevölkerung. Das reicht. „End the FED“, zitiert Flierl Ron Paul. Für „gutes Geld“ müsse die Zentralbank weg. Siehe oben. Siehe Ludwig von Mises, siehe Friedrich August von Hayek. Das große Aber sitzt nur einen Stuhl weiter. Neben Olaf Malek outet sich auch Cluse Krings als radikaler Materialist: Das Gute und das Böse sehen beide als Erfindungen, als menschliche Setzungen. Krings zählt auf „Potlatch“, eine Art des Geschenke-Tauschs unter kanadischen Indigenen, in der Wohltäterschaft zählt. Dem Sozialismus sei dies Konzept näher als dem Kapitalismus, so der Anthropologe. Sein Appell: Liebe Leute, schaut nach Kanada! Dort könnt ihr was lernen.

Debattenraum

Den Zeitgeist jagen

Eine Hyperinflation wie 1923 – einen „Crack-up-Boom“ – hat Ralf Flierl schon 2010 und 2013 kommen sehen. Also erhöhte Lebensmittelpreise, Lebensmittel-Horten, Investieren in Edelmetalle und Immobilien und einen Anstieg der Energiepreise. Themen der Stunde. Christian Kreiß sagt, die Inflationsgefahr sei gebannt. Die USA hätten die Welle bereits gebrochen, während Deutschland mit „hausgemachten Dummheiten“ (in der Außenpolitik) das eigene Land an die Wand fahre. Wir würden den Zeitgeist jagen, sagt die Moderatorin. Christian Kreiß und seine drei Mitstreiter jagen die Gegenwartsideologie. „Amerikanische Oligarchen sind ja die guten.“ Im Gegensatz zu den russischen, das seien immer die schlechten. Olaf Malek: „Die Monopole haben die Macht. Wie wollen wir die denn brechen?“ Nach zwei Stunden moderierter Diskussion mischen sich Publikum und Referenten. Um Meinungen und Ratlosigkeiten zu begegnen, bleibt Zeit für spontane Gesprächsgruppen. Das Anliegen für diesen Abend war: frei zu sprechen. Dabei kamen liberale, libertäre, linke, rechte und konservative Stimmen zu Wort. Ein Debattenraum. Vielleicht lässt sich ein solches Format eines Tages auch wieder in die Öffentlichkeit tragen.

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Hannes Pfeiffer ist Student an der Freien Akademie für Medien und Journalismus.

Bildquellen: Screenshot