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Kommentar | 15.06.2023
Musterungspflicht: Aber für wen?
Die Wehrbeauftragte des Bundestages schlägt eine Musterungs- statt einer Wehrpflicht vor. Mein Vorschlag: Politiker mustern. Die scheinen mir dienstuntauglich.
Text: Anna Gémes
 
 

Nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius die Wiedereinführung der Wehrpflicht als nicht umsetzbar eingestuft haben, hat die Werbebeauftrage des Bundestages, Eva Högl (alle SPD), eine verpflichtende Musterung für „jedes Geschlecht“ vorgeschlagen. Nach der Bestätigung der Wehrfähigkeit soll jeder Staatsbürger dann selbst entscheiden, ob er zur Bundeswehr möchte oder nicht. Die Idee dahinter: Keiner kann mehr sagen, er habe gar nicht gewusst, dass es diese Armee gibt. Auch ein „verpflichtendes soziales Dienstjahr“ bei der Bundeswehr, beim THW, beim DRK und so weiter steht zur Diskussion.

Anlass für diese Debatte ist der Personalmangel der Bundeswehr. Seit 2011 ist die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt, aber nicht abgeschafft, wie viele glauben. 2022 haben sich 9595 Freiwillige für einen Wehrdienst entschieden.

Mir ist bewusst, dass die Beziehung zwischen den Deutschen und ihrer Armee schwierig ist. Auf einen deutschen Patrioten zu treffen, ist ungefähr so leicht, wie eine Nadel im Heuhaufen zu finden. Sollte Deutschland trotzdem eine verpflichtende Musterung für Männer und Frauen im wehrpflichtigen Alter einführen?

Nein. Soll die Musterung etwa weitere Patrioten herbeizaubern? Wer sich zum Wehrdienst berufen fühlt, ist bereits bei der Bundeswehr. Solange die deutsche Regierung nicht die Interessen der eigenen Bürger und des eigenen Landes vertritt, sondern die der USA, kann die Bundeswehr lange auf heimatliebende motivierte junge Menschen warten. Die Musterung der Frauen ist Geld- und Zeitverschwendung. Als Frau sehe ich die Verteidigung des Landes nicht als meine Aufgabe. Viel eher möchte ich meine Zeit in Ehe und Familie investieren.

Das Argument von Verteidigungsminister Pistorius gegen eine Wehrpflicht war die fehlende Infrastruktur und der Personalmangel. Doch auch für eine Musterung von rund 800.000 jungen Menschen im Jahr fehlen Infrastruktur und Personal. Haben wir Gebäude oder müssen die erst für viel Geld saniert werden? Woher kommt die Leute für die Pflichtmusterungen? Wer stellt ein und wer zahlt?

Außerdem muss die Frage gestellt werden, warum die Bundeswehr überhaupt mehr Personal benötigt. Für die Verteidigung Deutschlands bei einem Angriff? Oder für die Stellvertreterkriege der Nato unter Schlagworten wie „Terrorbekämpfung“ und „humanitärer Krieg“? Nato und Bundeswehr brauchen nicht mehr Personal, um sich in Konflikte souveräner Länder einzumischen.

Das Zeichen, dass Deutschland via Aufrüstung und Personalaufstockung an andere Länder senden würde, ist eine unnötige Provokation. Diplomatie ist das wichtigste Werkzeug der Außenpolitik. Wir sollten auf die diplomatischen Fähigkeiten unserer Politiker setzen statt auf mehr Soldaten. Glauben wir ernsthaft, dass internationale Konflikte militärisch gelöst werden können? Ich meine, schon im Kindergarten gelernt zu haben, dass Gewalt keine Lösung ist.

Könnten wir bitte eine Musterungspflicht für Politiker einführen? Dann müssten wir uns nicht mehr vor der ganzen Welt fremdschämen.

Es mag sein, dass die Bundeswehr als systemrelevant gilt. Aber was ist mit den anderen systemrelevanten Berufen? Was ist mit Krankenpflegern, Hebammen, Polizisten? Was mit Ärzten und Feuerwehr? Auch da herrscht überall Personalmangel. Sollen wir auch da eine Musterungspflicht einführen?

Was wir brauchen, liegt auf der Hand: eine Regierung, die die Interessen ihrer Bürger vertritt und auf die wir uns verlassen können. Dann wären mehr Menschen bereit, ihr Land zu verteidigen. Wir brauchen nur so viele Soldaten, dass wir uns im Notfall verteidigen können. Für Nato-Kriege und die Einmischung in Krisen souveräner Länder haben wir schon jetzt mehr als genug.

Anna Gémes ist Studentin an der Freien Akademie für Medien und Journalismus.

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Bildquellen: Alexander Fox @Pixabay