Ich sitze auf dem Flughafen in Sofia und warte auf den Flieger nach Berlin. Seit Corona pendele ich zwischen Bulgarien und der deutschen Hauptstadt. Auch diesmal habe ich ein mulmiges Gefühl, graut es mir regelrecht vor der Rückkehr. Seit über 30 Jahren lebe ich in Berlin, der Geburtsstadt meiner Mutter. Bis vor vier Jahren war ich immer nur im Urlaub in Bulgarien, dem Herkunftsland meines Vaters. Seit Corona ziehe ich als Ungeimpfter die Schluchten des Balkans Berlin vor.
Mit nur knapp über 30 Prozent ist die Impfquote in Bulgarien die niedrigste in der Europäischen Union. In Deutschland sind es fast 80. Zieht man die ab, die sich die Impfung gekauft haben – es soll sie auch in Deutschland gegeben haben, in Bulgarien wurde ganz offen darüber gesprochen – stehen über’n Daumen drei Viertel Ungeimpfte in Bulgarien einem Viertel in Deutschland gegenüber. Und mit ihnen verschiedene Weltbilder und Glaubenssätze.
Ähnlich sieht es in Sachen Ukraine-Krieg aus, nur umgedreht: Mit 63 Prozent Ablehnung weiterer Waffenlieferungen steht Bulgarien diesmal an erster Stelle in der EU. Gefolgt von Griechenland mit 54 Prozent und Italien mit 53. Deutschland liegt aktuell bei 51 Prozent. Während 61 Prozent der Bulgaren der Meinung sind, Europa sollte die Ukraine dazu drängen, ein Friedensabkommen mit Russland auszuhandeln, sind dies in Deutschland nur 41.
Doch zurück zu Corona. Während meiner Zeit in Bulgarien bin ich nahezu ausschließlich auf Menschen gestoßen, die das gängige Narrativ nicht teilen. In meinem Dorf beispielsweise sind gerade einmal zehn Prozent geimpft. Mein Bürgermeister und mit ihm die übergroße Mehrheit sind es nicht. Auch in der Hauptstadt Sofia habe ich viele Menschen getroffen, die die Corona-Erzählung von Anfang an nicht geglaubt haben. Darunter eine Anwältin, die für eine italienische Firma arbeitet; außerdem eine Person, die für die US-amerikanische Botschaft tätig ist. Darüber hinaus eine Juristin, die in Spanien studiert hat und mit Corona nach Bulgarien zurückgekehrt ist. Genauso wie eine Krankenschwester (sie arbeitete in Stuttgart), ein Software-Experte, der viele Jahre in Bayern lebte, und eine Projektmanagerin aus dem, wie sie es nennt, „Corona-Knast“ Irland.
Während Corona war ich auf zahlreichen Protesten in Sofia, um darüber zu berichten. Dort lernte ich den obersten, für die Sicherheit der bulgarischen Regierung zuständigen Polizisten kennen. Ich erfuhr, dass er zum Erfahrungsaustausch in Berlin war und feststellen musste, dass das Vorgehen der Berliner Polizei um einiges härter sei. Das wäre aber nicht sein Stil, er gehe lieber auf die Demonstranten zu und spreche mit ihnen. Wahrscheinlich habe ich mich deshalb auf Corona-Protesten in Sofia immer sehr sicher gefühlt.
Bis heute ist die Situation in Berlin eine andere: So erklärte mir zum Beispiel bei meinem letzten Besuch die Anwältin meines Mietervereins während einer Beratung, warum es richtig sei, Waffen in die Ukraine zu schicken. Zuvor belehrte mich ein Bekannter darüber, wie gefährlich es sei, die Berliner Zeitung zu lesen. Und kürzlich gab mir ein Fremder mit auf den Weg, dass das deutsche Gesundheitswesen das beste der Welt sei. Allen Belehrungen ist gemeinsam, dass sie ungefragt und mit erhobenem Zeigefinger erfolgen und meine Meinung das Gegenüber nicht interessiert.
Wenn ich eines gelernt habe in Deutschland: bestimmte Themen besser meiden! Ansonsten kann es passieren, dass derselbe, der eben noch das deutsche Gesundheitssystem lobte, noch nie etwas von den RKI-Protokollen gehört hat, ebensowenig über Impfschäden und demzufolge auch nichts von einer Corona-Aufarbeitung wissen will.
Ich denke an das Gespräch mit meinen Nachbarn, kurz vor meinem Aufbruch zum Flughafen. Sie ist Ärztin, er pensionierter Polizist, beide nicht geimpft. Das Thema Corona ist kein Tabu in Bulgarien, genauso wie der Ukraine-Krieg. Man spricht darüber ganz normal, auch wenn man unterschiedlicher Meinung ist. Und, vielleicht das Wichtigste: Man ist danach immer noch Freund, Bekannter, Kollege. Meine Nachbarn waren einst große Fans von Deutschland, die Ärztin ist immer noch verliebt in das Land der Dichter und Denker. Erst kürzlich sind beide wieder dagewesen, hätten das Land aber nicht wieder erkannt. Kaum noch etwas würde funktionieren. Sie fragen sich, was passiert ist und woher die Obrigkeitshörigkeit der Deutschen kommt.
Misstrauen gegenüber den Herrschenden hat in Bulgarien eine lange Tradition und geht möglicherweise auf die Türkenzeit zurück. Nach der Wende heißt hier bis heute nach der „Demokratie“ – „Demokratie“ ganz bewusst in Anführungszeichen. Der Blick der Bulgaren auf die Welt erinnert daran, dass das Bild, das auf unserer Netzhaut ankommt, auf dem Kopf steht. Erst unser Gehirn dreht es „richtig“ rum. Der Bulgare stellt dieses „richtige“ Bild der Wirklichkeit oft wieder von den Füßen auf den Kopf. Ich würde nicht so weit gehen, ihn deshalb Superhirn zu nennen. Aber ich halte es mit Tucholsky, der gesagt hat: „Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig.“
Rumen Milkow hat am Kompaktkurs Journalismus an der Freien Akademie für Medien & Journalismus teilgenommen.
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