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Bericht | 17.01.2024
Wunder mit Fachkräften
Deutschland studiert, Fachkräfte fehlen. Was bedeutet das im ganz normalen Leben? Ein Erfahrungsbericht.
Text: Rumen Milkow
 
 

Erst ist er jahrelang nicht fertig geworden, der neue Flughafen vor den Toren Berlins. Ob es am Fachkräftemangel lag oder an der Studienanfängerquote, die in Deutschland inzwischen bei 55 Prozent liegt, kann heute niemand mehr so genau sagen. Denn nun ist in ihm auch noch die Zeit stehen geblieben. Bisher dachte ich, Deutschland und mit ihm Berlin wären Bulgarien nur um eine Stunde hinterher. Spätestens bei meiner Ankunft in der Bundeshauptstadt wird klar: Dieser Flughafen und mit ihm das gesamte Land sind aus der Zeit gefallen. Aber der Reihe nach. Meine Geschichte spielt im November 2023.

USA, Bulgarien, Deutschland

Die letzten dreieinhalb Jahre habe ich vorzugsweise im Ausland verbracht, die meiste Zeit davon in Bulgarien. Im Sommer 2023 war ich zwei Monate in Kalifornien. Auch dort sind Fachkräfte rar, dafür gibt es jede Menge Obdachlose. In San Francisco stehen ihre Zelte sogar auf den Bürgersteigen im Stadtzentrum.

Erst im Mai 2023 war in den USA die Impfpflicht für Nichtstaatsbürger, die mit dem Flugzeug einreisen, abgeschafft worden. Dementsprechend gibt es keine Schilder mehr, die darauf hinweisen – weder am Flughafen in San Francisco noch in Sofia. Bulgarien hat eine entsprechende Regelung bereits zum 1. Juni 2022 aufgehoben. In meinem Beitrag Corona in Kalifornien hatte ich den anderen Umgang mit dem Virus in den Vereinigten Staaten beschrieben, der eher an Bulgarien erinnert. Anfang April 2023, also noch einen Monat vor den USA, ist die Coronavirus-Einreise-Verordnung für Deutschland ausgelaufen. Trotzdem befinden sich immer noch solche Hinweisschilder am Flughafen Berlin Brandenburg International:

Bildbeschreibung

Kein Strom

Noch in Sofia auf dem Flughafen erreichte mich der Anruf meiner Frau aus Berlin: Leider könne sie mich nicht vom Flughafen abholen, denn wir hätten keinen Strom und sie müsse sich darum kümmern. Im Nachbarhaus war gebaut worden – die Arbeiter, Fachkräfte schienen es nicht gewesen zu sein, waren schon weg. Freitagnachmittag ... Der Stromnetzbetreiber war bereit, eine Fachkraft zu schicken. Allerdings unter einer Bedingung: Bevor diese auch nur einen Finger rührt, bekommt sie 205 Euro, und zwar bar. Meine Frau solle sich rasch entscheiden, das Wochenende stehe vor der Tür und dann wird es noch teurer.

Am Telefon fragte mich meine Frau, ob eine solche Vorkasse üblich sei in Deutschland. In ihren über zehn Jahren in Berlin hatte sie so etwas noch nicht erlebt. Sie kennt es nur vom Tanken in den USA. Ich weiß es auch nicht. Gibt es in Bulgarien keinen Strom, was hin und wieder vorkommt, rufe ich meinen Bürgermeister an. Der sagt mir dann, was los ist und wann es wieder Strom gibt. Im Normalfall innerhalb der nächsten halben Stunde. Und das, obwohl viele Fachkräfte Bulgarien in Richtung Westen verlassen haben. Geld will mein Bürgermeister für seinen Service nicht.

Ich entschied, einen Freund und gelernten Elektriker anzurufen. Er, der zuvor viele Jahre in Berlin wohnte, lebt nun in der Uckermark. Als erstes erfahre ich von ihm, dass er dort seit Wochen kein Wasser hat, was daran liegt, dass Fachkräfte fehlen. Immerhin, er hofft, bis Weihnachten wieder Wasser zu haben. Was den Strom angeht, den ich in meiner Wohnung in Berlin nicht habe, so sei es wohl eine übliche Praxis, dass die Fachkraft bar bezahlt wird. Das gebe ich so an meine Frau weiter, bevor ich mich in den Flieger nach Berlin setze.

Im Labyrinth

Dort angekommen, stehen die Reisenden aus Sofia – und ich mit ihnen – im Flughafengebäude vor einer verschlossenen Tür, die einfach nicht aufgehen will. Irgendwann kommt eine Putzfrau und sagt, dass wir zurück und zur Passkontrolle müssten. Bulgarien gehört bekanntlich nicht zum Schengen-Raum. Immerhin, die Putzfrau ist auf dem aktuellen Stand. Hat sie vielleicht studiert? Für ihre Tätigkeit scheint sie jedenfalls überqualifiziert.

An der Passkontrolle dann bereits erwähntes Hinweisschild, das ich, geht es nach der Einweiserin (es ist nicht die Putzfrau), nicht fotografieren soll. Da ich kein Verbotsschild sehe, frage ich nach. „Na wegen Grenze und so!“ Aber das Schild darf ich schließlich doch fotografieren. So entscheidet die Einweiserin, die offensichtlich keine Fachkraft ist. Vielleicht sollte ich bei meiner nächsten Ankunft am BER einen Schraubenzieher dabeihaben, um das veraltete Schild abzuschrauben. Aber ist das denn erlaubt? Ich meine einen Schraubenzieher mitzuführen?

Die Mitarbeiter der Passkontrolle sind auf jeden Fall Fachkräfte, das sieht man auf den ersten Blick, und zwar an ihrer Uniform. Sicherlich, sie sind stark limitiert, was ihre Zahl angeht, aber es gibt sie. Dass die veralteten Hinweisschilder immer noch direkt neben ihnen hängen, kann nur am Fachkräftemangel liegen. Anders kann ich es mir nicht erklären.

Nach der Passkontrolle muss ich nur noch die Gepäckausgabe finden, was gar nicht so leicht ist im Labyrinth des neuen, aber aufgrund der Bauzeit bereits veralteten Flughafens. Als ich endlich das Band gefunden habe, fährt darauf nur noch ein Gepäckstück: meins.

Flaschen sammeln verboten

Dann weiter zur Bahn. Vorher einen Fahrschein kaufen. Erste Kommunikationsversuche mit einem Fahrscheinautomaten sind selbst für einen Muttersprachler wie mich eine Herausforderung. Oder liegt es daran, dass ich keine Fachkraft bin beziehungsweise ein Semester zu wenig studiert habe? Immerhin waren es 13. Ein Fahrschein in die Stadt kostet vier Euro, was acht Lewa sind. In Sofia kann ich damit zwei volle Tage fahren. Als nächstes den richtigen Bahnsteig und einen Entwerter für den Fahrschein finden. Alles nicht so einfach.

Sicherheitsleute diskutieren dort mit einem Flaschensammler. Meine Neugier ist geweckt. Nachdem sie von ihm abgelassen haben, spreche ich sie an. Sie gehören zum Flughafen und sind dem Flaschensammler in den Bereich gefolgt, der zur Deutschen Bahn gehört, um ihm mitzuteilen, dass im Flughafen das Sammeln von Flaschen aus Abfalleimern verboten sei. Das stehe so in der Hausordnung.

Wie es im Bereich der Deutschen Bahn ist, wo wir uns in dem Moment befinden, wissen die Sicherheitsleute nicht. Sie seien aber keine schlechten Menschen, falls ich das denken sollte. Sie machen nur ihren Job. Sind sie unter- oder eher überqualifiziert, wenn sie sich in einen Bereich begeben, dessen Regeln sie nicht kennen? Ich bin mir nicht sicher, ob ich lachen oder weinen soll. Ich entscheide mich dafür, es positiv zu sehen. Und freue mich, dass jemand seinen Job macht.

Wunder im Doppelpack

Zu Hause angekommen gibt es Strom und meine Frau ist um 205 Euro ärmer. Es stimmt also nicht ganz, dass die Bundeshauptstadt „The City That Never Works“ ist. Die vom Netzbetreiber entsandte Fachkraft hat auf dem Protokoll vermerkt, dass wir keine Schuld daran tragen, dass die Stromzufuhr unterbrochen und unsere Wohnung „spannungslos“ war. Das müssen die Arbeiter von nebenan gewesen sein, die den verplombten Sicherungskasten aufgebrochen und uns die Sicherung rausgedreht haben. Die 205 Euro sind erstmal weg, genauso wie die Arbeiter.

Die tauchen nach drei Wochen das nächste Mal auf der Baustelle auf und gleich ist auch wieder der Strom weg. Diesmal kann ich sie sofort aufklären oder besser: weiterbilden. Das ist ganz klar das Neue, was man jetzt wissen muss. Beim Fachkräftemangel muss jeder mithelfen. Es bedarf einer gemeinsamen Kraftanstrengung.

Das Wunder: Die 205 Euro hatte meine Frau bereits vor dem erneuten Auftauchen der Arbeiter zurückerhalten. Wäre das nicht geschehen, hätte mir möglicherweise die Motivation gefehlt, mich in Sachen Fachkräfteweiterbildung zu engagieren. Oder vielleicht gerade deswegen – wer weiß? Aktuell überlege ich, Fachkräfte-Aus- und -Weiterbilder zu werden.

Auch in der Uckermark ist ein kleines Wunder geschehen. Noch vor Weihnachten kam das Wasser zurück, nachdem mein Freund, der gelernte Elektriker, wochenlang ohne auskommen musste. Genauso wie beim Strom würde es in Sachen Wasser in Bulgarien anders laufen. Obwohl viele Fachkräfte das Land verlassen, sich „evakuiert“ haben, wie man in Bulgarien sagt. Auch dies eine mögliche Lösung des Problems. Bleibt die Frage: Wohin?

Rumen Milkow hat am Kompaktkurs Journalismus an der Freien Akademie für Medien & Journalismus teilgenommen.

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Bildquellen: Titel: © Annika Bauer, Flughafen Berlin Brandenburg GmbH; Autor