Das einzig Überraschende am 27. Oktober war die Wahlbeteiligung. Sie soll von zuletzt 34 Prozent auf jetzt 38 Prozent „hochgeschnellt“ sein. Viele waren davon ausgegangen, dass sich die Wahlbeteiligung weiter der Impfquote nähert, die in Bulgarien bei knapp über 30 Prozent liegt. Zum Vergleich: Die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl 2021 lag bei 76,6 Prozent, und die Zahl der Grundimmunisierten beträgt hierzulande offiziell 76,4 Prozent.
Wahlgewinner ist erneut die Partei GERB des früheren bulgarischen Ministerpräsidenten Boiko Borissow mit 26,4 Prozent (plus 1,7). GERB heißt „Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens“ und ist eine konservative Partei, die der CDU nahesteht und im Europäischen Parlament zur EVP-Fraktion gehört.
Auf Platz zwei kam die Partei PP („Wir setzen den Wandel fort“) unter Führung der beiden Geschäftsleute und Harvard-Absolventen Kiril Petkow und Assen Wassilew. PP bekam 14,2 Prozent der Stimmen und damit 0,1 Prozentpunkte weniger als bei der letzten Wahl im Juni. PP gilt als Pro-Europa- und Anti-Korruptions-Partei, richtiger ist wohl Pro-USA und Pro-Transatlantik.
An dritter Position befindet sich die Partei „Wiedergeburt“ mit 13,4 Prozent (minus 0,4) von Kostadin Kostadinow. „Wiedergeburt“ wird im Westen gerne als nationalistisch, wenn nicht gar als ultranationalistisch und pro-russisch bezeichnet. In Bulgarien wird die Partei, die sich unter anderem für die Rückkehr im Ausland lebender Bulgaren einsetzt, eher als traditionell und patriotisch wahrgenommen. Dass Gelder aus Russland fließen, wie immer wieder behauptet wird, konnte bisher nicht bewiesen werden.
An vierter und sechster Stelle kommen zwei Parteien, die vor dieser Wahl noch zusammen waren – und zwar als „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ (DPS) der in Bulgarien lebenden türkischen Minderheit. Zur Spaltung kam es nach einem Führungsstreit im Sommer. Zusammen haben beide Parteien heute 19 Prozent und damit mehr Stimmen als vor der Spaltung. Da waren es 17,1 Prozent. Dass sie zusammen in einer Regierung sitzen, dürfte auszuschließen sein.
Auf Platz fünf sind die Sozialisten (BSP) mit 7,6 Prozent (minus 1,8), auf Platz sieben die Partei „Es gibt ein solches Volk“ (ITN) mit 6,8 Prozent (plus 0,8) und auf Platz acht die im vergangenen Jahr gegründete Partei „Moral, Einheit, Ehre“ mit 4,6 Prozent. In Bulgarien gilt eine vier Prozent-Hürde.
Soweit zum Wahlergebnis, das keine wirkliche Veränderung zum Juni aufweist, weswegen eine Regierungsbildung schwierig, wenn nicht gar unmöglich scheint. Dies liegt vor allem an den drei größten Parteien – an GERB, PP und „Wiedergeburt“. GERB konnte nach der letzten Parlamentswahl keine Regierung bilden und hat zwar als Wahlgewinner erneut den Auftrag zur Regierungsbildung, dabei aber von Anfang an „Wiedergeburt“ ausgeschlossen.
Mit PP hat GERB schlechte Erfahrungen gemacht. Angefangen damit, dass unter der Regierung Petkow Borissow wegen Korruptionsverdacht verhaftet wurde – just an dem Tag, als der US-Verteidigungsminister Bulgarien besuchte. Da es keine Beweise gab, musste man ihn nach nur 24 Stunden wieder auf freien Fuß setzen, weswegen der Vorgang vor allem als Machtdemonstration verstanden wurde und als Ablenkung vom Protest gegen den Besuch von Lloyd Austin, organisiert von der Partei „Wiedergeburt“.
Nach der Wahl am 2. April 2023 gab es ein „Gentleman Agreement“ zwischen GERB und PP. Man einigte sich auf eine vorgezogene Neuwahl nach 18 Monaten. Die Zeit bis dahin wollte man abwechselnd bestreiten. Erst durch eine von PP geführte Regierung, danach durch eine von GERB. Da es keinen schriftlichen Vertrag gab, war seriösen Beobachtern klar, dass es sich eher um ein Himmelfahrtskommando handeln würde und nicht um eine stabile Regierung. Und so kam es dann auch.
Noch während der Vorgespräche im Mai wurde eine parteiinterne Rede des PP-Co-Vorsitzenden Assen Wassilew geleakt. Eine westliche Botschaft soll ihm Namen für die nächste Regierung genannt haben. Der Vorgang erinnert an das abgehörte Telefonat von Victoria Nuland vor jetzt zehn Jahren, als es um die künftige Regierung in der Ukraine ging. Das Leak ist durch die Bemerkung Nulands „And fuck the EU!“ bekannt geworden. Toshko Jordanow (ITN) nannte den Vorgang im bulgarischen Parlament „eine Demonstration dessen, was ein tiefer Staat ist“.
Durch dasselbe Leak wurde auch bekannt, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Bulgarien in die Eurozone schleusen wollte. Demnach soll von der Leyen Petkow empfohlen haben herauszufinden, wie er die Regeln umgehen könne. Obwohl Petkow von einer „manipulierten Aufnahme“ sprach, geht man in Bulgaren von seiner Echtheit aus. Auch weil der US-Botschafter in Bulgarien, Kenneth Merten, sich nach Bekanntwerden zu einem Dementi genötigt sah.
Korruption spielt in der Berichterstattung über Bulgarien im Westen immer eine zentrale Rolle, wenn nicht gerade ein Anti-LGBTQ-Gesetz nach russischem Vorbild verabschiedet wird wie im August dieses Jahres. Mit Sicherheit gibt es Korruption, genauso wie es eine Mafia gibt, die sich heute aus Unternehmern rekrutiert. Es gilt, was der aus Bulgarien stammende Autor Ilija Trojanow einmal so formulierte: Die Mafia ist nicht Teil des Staates, sondern umgekehrt, der Staat ist Teil der Mafia. Darüber hinaus gab und gibt es aber auch russische, US- und EU-Interessen in Bulgarien.
So wurde beispielsweise im Dezember 2022 beschlossen, dass das einzige Atomkraftwerk des Landes in Kosloduj an der Donau in Zukunft von der US-Firma Westinghouse bestückt wird. Es handelt sich dabei um ein Kraftwerk sowjetischer Bauart, das bisher von Russland mit Uran versorgt worden war. Eine direkte Gasversorgung aus Russland unter Umgehung der Ukraine durch South-Stream, das Gegenstück zu Nord-Stream, wurde durch die EU bereits 2014 verhindert. Hier musste also nicht gesprengt werden.
Zurück zur aktuellen Wahl: Präsident Rumen Radew stellte am 31. Oktober fest, dass die Wahlergebnisse für keine Beruhigung in der Öffentlichkeit sorgen, sondern im Gegenteil für Spannungen und Fragen. Beispielsweise die, welche Rolle lokale Bürgermeister und Unternehmen bei der Wahl spielen. Dass GERB trotz der Korruptionsvorwürfe gegen den Vorsitzenden zum wiederholten Male Wahlen gewinnt, dürfte vor allem daran liegen, dass es der Partei im Gegensatz zu allen anderen gelungen ist, insbesondere auf dem Land eine breite Basis aufzubauen, zum Beispiel unter Bürgermeistern.
Einer von ihnen, er möchte nicht namentlich genannt werden, bestätigte mir, dass Borissow natürlich ein Bandit sei, aber das seien alle Politiker. Mit einem Unterschied: „Bruder Boiko ist ein alter Bandit, der abgibt.“ Jüngere Banditen müssten erst reich werden, um abgeben zu können. In Bulgarien denkt man eher pragmatisch, sofern man sich überhaupt mit Wahlen beschäftigt. Eine große Mehrheit der Bevölkerung tut das gar nicht erst.
Angesichts einer Beteiligung von gerade einmal 38 Prozent stellt sich ohnehin die Frage: Welches Mandat hätte eine Regierung überhaupt? Auch deswegen, aber vor allem weil die Gewählten wiederholt keine Regierung bilden konnten, hat die Partei ITN vor zwei Jahren die Idee einer Präsidialdemokratie ins Spiel gebracht. De facto hat Präsident Radew bereits jetzt mehr Macht, als er haben sollte, denn er hat schon mehrfach Regierungen ernannt. Nur, bei seiner Wahl vor drei Jahren war die Wahlbeteiligung ähnlich niedrig wie bei der aktuellen Parlamentswahl, sodass sich auch hier die Frage stellt: Welches Mandat hätte ein solcher Präsident?
Hinzu kommt, dass sich Radew wiederholt für eine Beilegung des Ukraine-Krieges durch Verhandlungen ausgesprochen hat, was einigen ein Dorn im Auge sein dürfte. So wird es wohl vor dem Übergang zu einer Präsidialdemokratie eher Neuwahlen im Frühjahr geben und dann im Herbst die Direktwahl des Präsidenten. Sofern nichts dazwischenkommt, beispielsweise ein nationaler Notstand, über den immer mal wieder gesprochen wird in Bulgarien.
Bilder: Wahlplakate zur Parlamentswahl am 2. April 2023 (Titel), Protest gegen den Besuch des US-Verteidigungsministers am 22. März 2022 in Sofia + Dauerbaustelle bulgarisches Parlament
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