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Oben & Unten | 30.04.2025
Flucht aus dem Paradies
In einem Paradies (egal welcher Couleur) haben wir Menschen keineswegs mehr Zeit für das Eigentliche, sondern genau das verlieren wir dort.
Text: Axel Klopprogge
 
 

Ein kluger Mensch sagte einmal, dass wir die Zukunft nicht kennen, weil wir nicht wissen, was wir wissen werden. Auf einen allwissenden Gott dürfte das eigentlich nicht zutreffen. Aber wenn Gott alles vorher weiß, dann gibt es für uns Menschen keinen Einfluss auf die Zukunft. Wir könnten nur noch das abarbeiten, was sowieso schon feststeht.

Es ist faszinierend, wie hartnäckig sich die Bibel dieser eigentlich zwingenden Schlussfolgerung verweigert. Nach der Schöpfungsgeschichte erschuf Gott den Menschen nach seinem Ebenbild und setzte ihn in den Garten Eden. Alles stand dem Menschen ohne Mühe zur Verfügung; nur eines war verboten: vom Baum der Erkenntnis zu naschen. Allerdings hatte Gott den Menschen als „starke künstliche Intelligenz“ konstruiert, das heißt mit der Möglichkeit, das Verbotene trotzdem zu tun und sich gegen seinen eigenen Schöpfer zu entscheiden. Und genau das tun Adam und Eva.

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Hat Gott das alles vorher gewusst und sozusagen schon eingebaut – und zwar nicht nur, dass der Mensch es machen kann, sondern auch, dass er es machen wird? Nun, nach der Bibel muss Gott erst einmal fragen: „Adam, wo bist du?“ Und ein Paradies zu schaffen, um es gleich wieder überflüssig zu machen, sieht nicht nach einem unentrinnbaren Bewegungsgesetz der Geschichte aus.

Die Menschen lernen, dass eigenständiges Handeln Folgen hat. Von nun an müssen sie unter Schmerzen gebären und ihr Brot im Schweiße des Angesichts essen. Erst jetzt beginnt das Menschsein. Das Paradies war nur ein Garten für Tiere, wie Hegel abfällig bemerkte. In meinem Buch Methode Mensch mache ich aus der Vertreibung eine Flucht aus dem Paradies.

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Und das Erstaunliche: Gott kommt mit. Der Garten Eden spielt von nun an keine Rolle mehr. Die Cherubim, die als Wachposten mit Flammenschwert den Zugang versperren, stehen sich die Beine in den Bauch. Kein Mensch versucht, dort hineinzukommen. Gott schlägt sich seitdem hier draußen mit uns Menschen herum. Genauso erstaunlich: Man kann mit ihm verhandeln – etwa Abraham, um die Vernichtung von Sodom abzuwenden (Gen 18, 22-33). Man kann sogar richtig mit ihm ringen wie Jakob, muss dabei allerdings mit einem Hüftschaden rechnen (Gen 32, 23-33). Wenn aber die Menschen Gott überraschen und umstimmen können, dann kann die Zukunft nicht vorherbestimmt sein. Wusste Gott vorher, dass er seine Meinung ändern würde?

Viele Bibelseiten später erzählen die Evangelien, dass Gott in Gestalt seines Sohnes zu uns ins irdische Jammertal kam. Aber er kommt nicht mit Blitz und Donner, sondern wird in einem Stall geboren. Er trägt Windeln aus demselben Grund, aus dem Babys auch heute noch Windeln tragen. Jesus verdient sich seinen Lebensunterhalt als Zimmermann. Seine Häuser baut er nicht mit Zauberkraft, sondern er wird gemessen, gesägt und gehämmert haben, eben all das, was beim Hausbau nötig ist. Auch von seinen Mistreitern kennen wir die Berufe, die nach damaliger Vorstellung keineswegs alle ehrbar waren. Jesus ermuntert zum Handeln, auch zum Vertrauen darauf, dass sich die Dinge, die man nicht vorher steuern kann, irgendwie fügen werden.

Jesus hat Freude am gemeinschaftlichen Essen und Trinken – und er thematisiert bewusst diesen Gegensatz zum asketischen Täufer Johannes (Mt. 11, 18-19). Er geht auch auf Partys, wie etwa die Hochzeit von Kanaan. Zum letzten Abendmahl werden Lamm und Rotwein aufgetischt, immerhin so viel, dass die Jünger ausgerechnet in seiner schwersten Stunde einschlafen.

Immer wieder erzählen die Evangelien von Situationen, in denen sich Jesus umstimmen lässt. Etwa in der Geschichte mit der Kanaaniterin, die er erst hart, ja beleidigend abfertigt, bevor er sich verblüfft ihren Argumenten geschlagen gibt (Mk 7, 24ff.). Oder auf der erwähnten Hochzeit von Kanaan, wo er zunächst seine Mutter Maria barsch zurückweist, als sie ihn um die Auffüllung des Getränkevorrats bittet – und dann doch nicht weniger als 520 Liter Wasser in Wein verwandelt. Auch Jesus selbst versucht in seinen letzten Stunden, den Kelch wegzuverhandeln.

Warum soll man eigentlich Lahme und Aussätzige heilen und Tote zum Leben erwecken, wenn das wahre Leben erst nach dem Tod beginnt? Obwohl Gottes Sohn bestens informiert sein müsste, beschreibt er mit keinem Wort die Zustände im Himmel. Er hat es auch nicht eilig, dorthin zurückzukehren. Eher hat man den Eindruck, dass er gerne noch ein bisschen geblieben wäre. Gefällt es Gott bei uns besser als bei sich daheim?

Die Apostel sind alles andere als perfekte Menschen. Detailliert werden ihre Fehler beschrieben. Und doch sind es diese fehlbaren Menschen, die von einem aussichtlosen Startpunkt aus die neue Kirche aufbauen. Sie arbeiten weiter in ihren Berufen, zum Beispiel als Zeltmacher wie der Apostel Paulus. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“ sagt er scharf zu seiner Gemeinde (2. Thessalonischer). Untätig und frömmelnd das Ende abzuwarten, in der Gewissheit, dann auf der richtigen Seite zu stehen, lehnt Paulus energisch ab. Und er verkündet: „Alles ist erlaubt, aber ich will mich von nichts beherrschen lassen!“ (1. Korinther 6, 12) Mit anderen Worten: Menschen können entscheiden, aber sie müssen ihren Kopf und ihre Hände gebrauchen und die Verantwortung tragen. Die Zukunft ist offen.

Auf den letzten Seiten der Bibel kommt für mich der wirkliche Sündenfall. Aber nicht der Sündenfall des Menschen, sondern der Sündenfall der Bibel: die Offenbarung des Johannes. Sie war in der frühen Kirche umstritten – Eusebius von Caesarea nannte sie im 4. Jahrhundert „eine gefälschte Schrift“.

Jesus selbst hatte betont, dass niemand das Ende der Welt kenne, auch er nicht. Die Offenbarung dagegen beschreibt den Ablauf der endzeitlichen Geschehnisse bis ins letzte Detail. Alles ist genau vorgeplant wie eine bombastische Operninszenierung: sieben Siegel, Pferde verschiedener Farben, sieben Posaunen, Hagel und Feuer mit Blut, ein Tier mit zehn Hörnern und sieben Köpfen, das tausendjährige Reich, der Antichrist, der letzte Kampf und das Weltgericht. „Kitsch as Kitsch can“ kombiniert mit pedantischem Geschichtsdeterminismus: Menschen als Individuen oder Akteure kommen nicht mehr vor, nur noch als Kanonenfutter und anonyme Masse. Und am Ende wartet das ewige Leben in einem neugeschaffenen himmlischen Jerusalem. Eine Retortenstadt wie das Märkische Viertel oder Marzahn, aber im Einrichtungsstil russischer Oligarchen. In dieser Smart City gibt es keine Versuchung und keine Entscheidungen mehr, nicht einmal mehr den Unterschied zwischen Tag und Nacht. In der Perfektion ist alles alternativlos. Und Gott lässt sich unablässig die immergleiche Lobpreisung auf der immergleichen Harfe vorsingen. Echt jetzt? Auf so etwas steht Gott? Und was um Himmels willen sollen wir Menschen da?

Die Bibel ist dort göttlich, wo sie es nicht zu sein versucht. Wo sie das Göttliche ausmalt, wird sie so erbärmlich wie jede andere Utopie. Auch in der Offenbarung des Johannes ist Utopie nur ein anderes Wort für Dystopie. Immer sind es Konzepte menschlichen Glücks, in denen Menschen nur noch als Knetmasse vorkommen. Wie in den Verheißungen der künstlichen Intelligenz wird uns versprochen, dass wir dann endlich Zeit für das Eigentliche haben. Aber was ist denn das Eigentliche, wenn wir nicht mehr entscheiden, nicht mehr ausbrechen, nicht mehr scheitern, nicht mehr arbeiten, uns nicht mehr mit der Welt und mit Gott anlegen? Karl Marx schrieb einmal in einem ähnlichen Zusammenhang: Dann bleiben uns nur noch tierische Funktionen wie Fressen, Verdauen, Ausscheiden und Zeugen. Nun, mit unseren perfekten Astralleibern werden wir selbst das nicht mehr machen. Ich bleibe lieber hier.

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Mehr zum „Thema Flucht aus dem Paradies“ auch im Interview mit dem Maler Klaus Böllhoff in der Rubrik Tresen auf dieser Webseite.

Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel „Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne „Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch.

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Bildquellen: @Axel Klopprogge (Titel), Klaus Böllhoff: AD-EV-AM, K+ 1986 / 2022; FLUCHT AUS DEM PARADIES (oder EXPEDITION), K+ 2022