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Oben & Unten | 02.04.2025
Faktencheck und Fakefilter
Gender Pay Gap, Homeoffice und New Work, SUV-Akzeptanz und Gewalt gegen Frauen: Der Statistik-Teufel steckt oft im Detail.
Text: Axel Klopprogge
 
 

Im Feuilleton der FAZ fand sich vor einiger Zeit eine Notiz mit der Überschrift „Di Pietrantonio ausgezeichnet“ – eine Autorin, die ich sehr schätze. Im genannten Artikel wird unter Bezug auf ihren neuen Roman „L’età fragile“ behauptet, dass in Italien „etwa alle 72 Stunden ein Mann seine Partnerin oder ehemalige Partnerin tötet“. 2023 gab es in Italien 329 Tötungsdelikte. Seltsamerweise gehen in den gängigen Statistiken die Begriffe Tötungsdelikte und Morde wild durcheinander – obwohl zu Tötungsopfern auch fahrlässig Getötete im Straßenverkehr gehören können. Von den 329 Getöteten waren 120 weiblich – daraus entsteht die Aussage „alle 72 Stunden“. Zwei Drittel der Tötungsopfer waren Männer, also könnte die Überschrift auch lauten „alle 36 Stunden wird ein Mann getötet“. In beiden Fällen sind die Täter überwiegend männlich, aber immerhin sind 15 Prozent der Tatverdächtigen weiblich. Zwar gilt generell, dass Mörder zu einem großen Anteil aus dem familiären Umfeld stammen, trotzdem wurden nicht 100 Prozent der weiblichen Mordopfer von ihrem Partner getötet, sondern nur 50 Prozent – auf Italien bezogen müsste es also „alle 144 Stunden“ heißen.

Aber die plakative Nennung der Stundenzahl ist grundsätzlich sinnfrei. Im internationalen Vergleich liegt die Mordrate in Italien mit 0,5 pro 100.000 Einwohner recht niedrig – niedriger als in Deutschland (0,8). Die 72- bzw. richtigerweise 144-Stunden-Frequenz ergibt sich aber nur zum geringen Teil aus der Mordrate selbst, sondern vor allem daraus, dass Italien rund 60 Millionen Einwohner hat. Hätte es nur sechs Millionen Einwohner wie Dänemark, dann wären es bei derselben Mordrate 1440 Stunden. Hätte Italien wie China oder Indien 1,4 Milliarden Einwohner, würde alle sieben Stunden eine Frau von ihrem Partner getötet.

Selbstverständlich geht es mir nicht darum, Gewalt gegen Frauen zu verharmlosen. Mir geht es eigentlich gar nicht um das Beispiel. Ich bin es vielmehr leid, ständig mit offensichtlich falschen oder manipulativ umgedeuteten Statistiken behelligt zu werden.

So liest man immer wieder, dass Temperaturen oder sonstige Wetterereignisse in einem bestimmten Monat oder Jahr vom langjährigen Mittel abweichen. Nun, jeder Schulabgänger sollte wissen, dass statistische Durchschnitte oder auch Mediane rechnerische Größen sind, sie sich im Laufe der Zeit bilden, ohne dass auch nur ein einziger Messwert genau dort angesiedelt gewesen sein muss.

Hexenverbrennungen sollen einer der großen Anschläge der Männer gegen unliebsame Frauen gewesen sein. Wie passt das dazu, dass in der fraglichen Epoche genauso viele Männer wie Frauen wegen Hexerei verbrannt wurden? Und wie erklärt sich, dass bei der Inquisition die weitaus meisten Anzeigen von Frauen erstattet wurden?

In der Coronazeit und bis heute kursieren Behauptungen, dass 80 Prozent der Arbeiten vom Homeoffice aus gemacht werden könnten und unter dem Stichwort New Work auch der Rest nur noch eine aussterbende Spezies sei. Tatsächlich jedoch bezogen sich die Zahlen nicht auf alle Beschäftigten, sondern nur auf einen Teil der Bürobeschäftigten, die offenbar nur noch sich und ihre Lebenswelt wahrnahmen.

Unausrottbar geistert die Behauptung eines Gender Pay Gaps von 20 Prozent durch die Lande. Die Zahl ergibt sich, wenn man laut statistischem Jahrbuch die Lohnsumme aller Männer durch die Anzahl der Männer und die Lohnsumme aller Frauen durch die Anzahl der Frauen dividiert. Bei einer solchen Ableitung wird nicht nur übersehen, dass die summarische Betrachtung einer Gruppe nicht dasselbe ist wie die ungleiche Bezahlung für die gleiche Aufgabe. Es wird auch verschwiegen, dass die Zahlen nicht teilzeitnormiert sind und so den größeren Teilzeitanteil weiblicher Erwerbstätiger außer Acht lassen.

Am 28. Dezember 2020 berichtete das Handelsblatt: „Trotz sinkender sozialer Akzeptanz: SUV-Anteil wird weiter steigen. Nach einer Studie könnten SUVs im kommenden Jahr 34 Prozent aller Neuwagen darstellen.“ Im November 2022 waren es bereits 40,4 Prozent, heute bereits 43 Prozent und bei Elektrofahrzeugen gar über 50 Prozent. Wie passt das zusammen? Was ist Akzeptanz, wenn nicht das, was akzeptiert ist?

Alle diese Zahlen lassen sich in fünf Minuten durch eine Internet-Recherche entzaubern oder gar in ihr Gegenteil verkehren. Bei anderen bedarf es manchmal ein bisschen Sach- oder Fachkenntnis. Aber selbst, wenn die Fehler nicht jedem fachfremden Leser auffallen müssen: Jemand, der als Aktivist oder Experte in einem Thema anklagend die Stimme erhebt und Gehör beansprucht, muss es wissen. Sonst betrügt er.

Wir haben uns über „alternative Fakten“ aus dem Munde Donald Trumps oder über Fake News in den sozialen Medien aufgeregt. Aber offenbar ist es nicht auf diese Szene beschränkt, sondern es gehört zum täglichen Brot von Aktivisten und Beauftragten jeder Couleur, solche Zahlen zur Begründung ihrer Existenz zu produzieren.

Was soll ich als halbwegs aufmerksamer Leser tun, dem die methodische und lebenswirkliche Abstrusität vieler „wissenschaftlicher Studien“ bisweilen auffällt? Im ersten Schritt muss ich logischerweise aus dem statistischen Tuning schließen, dass das adressierte Problem in der Realität nicht groß genug ist, um unsere Aufmerksamkeit zu verdienen. Und angesichts des permanenten Overkills an vermeintlichen Skandalen werde ich im zweiten oder dritten Schritt gar nichts mehr glauben. Das ist nicht nur schade, sondern fatal, denn selbstverständlich gibt es Missstände, die unsere Aufmerksamkeit erfordern. So werden Verständnis und die Suche nach einer Lösung verhindert. Und eine letzte Frage: Hatten eigentlich diejenigen, die Fake Filter propagieren und Faktenchecker sein wollen, jemals die genannten Behauptungen im Sinn?

Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch.

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