Amanda ist zurückgekehrt in ihr kleines Heimatdorf in den Abruzzen in der Gegend von Pescara. Amanda, Tochter der Ich-Erzählerin Lucia, hatte das Dorf und die Familie verlassen, um in Mailand zu studieren. „Im Dorf bleiben, keinesfalls“. Sie kehrt zurück, als die Pandemie ausbricht und zieht wieder bei ihrer Mutter ein. Allerdings ist sie in sich gekehrt und nicht ansprechbar: „Bei Tisch muss der Fernseher laufen, damit sie das Schweigen nicht spürt, die Last meines Blickes“. Sie isst nicht, liegt bis spät am Tag im Bett. Manchmal besucht sie den Großvater. Die Eltern sind getrennt, der Vater lebt in Turin und geht seiner Bankkarriere nach. Er will nicht zurück – auch nicht, um seine Tochter zu sehen. Lucia führt ein unspektakuläres Leben als Physiotherapeutin mit eigener Praxis und ist in der Dorfgemeinschaft gut integriert.
Der Großvater besitzt Ländereien. Man spricht auch vom Wolfszahn – ein Felssporn, der dem Wald und dem Besitz der Familie den Namen gegeben hat. Früher war dort ein Campingplatz, der Osvaldo gehörte, einem Freund des Großvaters. Auf diesem Campingplatz muss vor vielen Jahren etwas passiert sein. Es wird geheimnisvoll von „der Sache“ gesprochen, etwa 30 Jahre her. Lucia war eng befreundet mit Doralice, der Tochter von Osvaldo. Doralice arbeitete manchmal am Kiosk auf dem Campingplatz und Lucia half ihr dabei. In der Nähe des Campingplatzes gibt es einige Schafhirten mit ihrer Herde, die im Wald leben und nur zum Grasen der Schafe ins Dorf kommen. Manche von ihnen leben zurückgezogen und sind eigentümlich.
Die Geschichte spielt abwechselnd im Jetzt und in der Vergangenheit. Lucia hat etwas Schlimmes erlebt vor 30 Jahren, das sie scheinbar noch nicht verarbeitet hat. Zu ihrer Freundin Doralice, mit der sie als Mädchen ununterbrochen zusammen war, hat sie keinen Kontakt mehr. Sie lebt seit vielen Jahren in Kanada.
Wir erfahren, dass zwei Mädchen, die auf dem Campingplatz ihre Ferien verbrachten, tot aufgefunden wurden und dass Doralice diesem Verbrechen entkommen konnte. Sie hat den Täter erkannt, der mit Hilfe der Dorfbewohner überführt und dem der Prozess gemacht wird.
In der kleinen Dorfgemeinschaft kennt jeder jeden. Man unterstützt sich gegenseitig, toleriert, schafft damit starke Beziehungen und Loyalitäten und schweigt über das, was vor 30 Jahren passiert ist. Der Mörder ist verurteilt worden, aber die Geschichte lebt in den Köpfen weiter. Lucia trägt eine große Schuld mit sich herum und fragt sich immer wieder, was passiert wäre, wenn sie damals ihre Verabredung mit Doralice eingehalten hätte.
Erst durch die Rückkehr der Tochter Amanda in die Dorfgemeinschaft und durch ihr merkwürdiges Verhalten erkennt die Mutter Lucia Parallelen zu ihrem eigenen Trauma. Sie versucht zu ergründen, was in Amanda vorgeht. Die Tochter wiederum ist neugierig geworden, möchte mehr darüber erfahren, was aus dem Campingplatz geworden ist, und verhindert damit den Verkauf an einen Investor. Diese Handlung scheint zum Rettungsanker für sie zu werden.
Ein klug inszenierter und feinfühliger Roman, der verschiedenen Handlungssträngen folgt und eine wahre Kriminalgeschichte mit den Folgen des Corona-Lockdowns verbindet. Wobei die Pandemie keine große Rolle spielt.
Das Verbrechen ereignete sich tatsächlich 1997 am Monte Morrone. Durch den Mord an den zwei Mädchen und den Missbrauch wurde den Menschen bewusst, dass es selbst in idyllischen Naturlandschaften keine Sicherheit gibt. Donatella di Pietrantonio, selbst in den 1960ern in der italienischen Provinz aufgewachsen, sieht die Ursache für den Femizid in den Strukturen. Sie beschreibt einfühlsam das Leben in der Enge einer Dorfgemeinschaft und einer konservativen Männerwelt sowie die Suche nach einer Erklärung ihres eigenen Lebens und seiner Zerbrechlichkeit. Die Autorin ist der Hauptperson Lucia sehr nahe. Beide versuchen, sich den patriarchalischen Strukturen zu widersetzen, wobei das Thema im Buch nicht im Vordergrund steht, sondern sehr fein und dezent beschrieben wird.
Dem Leser werden fragile Familienbeziehungen gezeigt, Loyalitäten sowie das Schweigen und die Scham, die über der Dorfgemeinde liegen nach so vielen Jahren der Erinnerung. Es geht um ein Generationenthema. Jeder braucht etwas Anderes von Lucia. Der Erzählmechanismus rotiert, der Fokus verändert sich, aber alles ist gleichzeitig da. Am Ende fühlt man sich anders, wir betrachten die Geschichte anders, eben die zerbrechliche Zeit. Der Roman richtet sich ebenso an junge Leser, die sich in der Zerbrechlichkeit Amandas wiederfinden können, mit Blick auf die Einsamkeit während der Pandemie und die Suche nach sich selbst.
Die Autorin wurde 2024 in Italien mit dem Premio Strega ausgezeichnet. Außerdem erhielt sie für ihr Buch den Premio Strega Giovani 2024, der ihr von der jungen Leserschaft verliehen wurde. Sie arbeitet noch nebenbei als Kinderzahnärztin in Penne in der Provinz Pescara.
Das Buch ist im Antje Kunstmann Verlag in München erschienen und wurde von Maja Pflug aus dem Italienischen übersetzt. Maja Pflug hat alle Bücher von Donatella di Pietrantonio übersetzt. In diesem Roman hat sie die Sprachnuancen zwischen Standarditalienisch, Dialekt und Charakterbeschreibungen herausragend getroffen.
Donatella di Pietrantonio: Die zerbrechliche Zeit. München: Antje Kunstmann Verlag 2024, 22 Euro.
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