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Rezension | 22.08.2023
Lernen von Seymour Hersh
Seine Memoiren, was Journalismus ausmacht und eine unerwartete Konversation.
Text: Mirko Jähnert
 
 

Er ist einer der ganz Großen im Journalismus, vielleicht DER investigative Journalist unserer Zeit. Seymour Hersh ist den Regierenden auf die Füße getreten. Seine Artikel konnten politische Erdbeben auslösen. Ein Grund, mich mit seinem Wirken auseinanderzusetzen, festgehalten in einem lesenswerten Buch.

Sicher, der Name Hersh war mir ein Begriff, ohne dass ich hätte sagen können warum. Erst nach seiner Recherche zur Sprengung der Nordstream-Pipeline informierte ich mich mehr über seine Arbeit. Mỹ Lai, Watergate, CIA – und immer wieder Seymour Hersh. Ich legte mir sein Buch Reporter – Der Aufdecker der amerikanischen Nation zu. Neben einer Autobiografie findet man viel Lernstoff für die eigene journalistische Arbeit, was ich im Folgenden besonders hervorhebe.

Die Einleitung gerät zu einer Abrechnung mit dem heutigen Journalismus. Hersh stellt selbst die entscheidende Frage: Wäre eine kritische, tiefgehende Berichterstattung, wie er sie ein Leben lang praktizierte, heute überhaupt möglich? In einer 24/7 von Online-Nachrichten und sozialen Medien dominierten Welt? Schwer vorstellbar. Der Journalismus ist schneller, aber nicht besser geworden.

Seymour Hersh, 1937 in Chicago geboren, fand an der University of Chicago sein Thema: die Weltpolitik. Mit Journalismus hatte er noch nichts zu tun, abgesehen von den Kreuzworträtseln in der New York Times. Es sollte eine Weile dauern bis zum ersten Medienjob bei den City News in Chicago. Anfangs als Bürobote angestellt, schaffte er es durch Neugier zum Einsatz als Lokalreporter. Doch auch Hersh musste lernen, worauf es im Journalismus ankommt:

„Erster zu sein ist nicht halb so wichtig wie Fakten zu überprüfen und gründlich zu sein.“ (S. 28)

Nach der Armee verdingte er sich bei lokalen Wochenzeitungen. Sein Ehrgeiz machte ihn bald zum Berichterstatter bei der Nachrichtenagentur AP. Es war für Hersh leicht, Geschichten zu finden. Und er eckte an. Polizeikorruption, Verletzung von Bürgerrechten und dann der Vietnamkrieg, ein Thema, das für die Karriere noch wichtig werden sollte.

Um dichter an Regierungsbelangen dran zu sein, ließ er sich von AP in die Hauptstadt Washington versetzen. Als Neuling musste er sich anfangs mit dem Redigieren von Nachrichten begnügen. Beim Umschreiben ging er aber weiter. Er versuchte, die Hauptakteure persönlich zu sprechen und in die Tiefe zu gehen. Schließlich durfte er ab 1966 als Reporter arbeiten. Er nahm an Pressekonferenzen des Pentagon teil und fand widersprüchliche Aussagen zum Krieg. Das Ziel von nun an: die Wahrheit über Vietnam. Als Pentagon-Korrespondent lernte er, die Menschen zu finden, deren Amtseid der Verfassung und nicht dem Vorgesetzten galt und die ihn auf Missstände hinweisen konnten. O-Ton Hersh:

„Die Hauptlektion eines jeden Journalisten – lies, bevor du schreibst …“ (S. 82)

Zu seinen Stärken gehört, das Vertrauen von Wissenschaftlern, Armeeangehörigen oder Geheimdienstlern zu gewinnen. Aus Kontakten wurden später Quellen. Im September 1969 bekam er einen Hinweis auf ein Massaker im südvietnamesischen Dorf Mỹ Lai. Hersh recherchierte, studierte Zeitungsberichte und sprach mit Beamten im Regierungsumfeld. Er fand einen beteiligten Soldaten und konnte aufdecken, dass durch die US-Armee mehr als 500 Zivilisten zusammengetrieben und niedergemetzelt wurden. Dafür gab es 1970 den Pulitzerpreis – die Eintrittskarte in die Redaktion der New York Times, wo er über Bombardierungen ziviler Ziele berichtete, über den Watergate-Skandal und darüber, dass US-Außenminister Kissinger Journalisten abhören ließ. Das größte Aufsehen erregte jedoch ein Artikel über die illegalen CIA-Spionageoperationen gegen Kriegsgegner in den USA vom Dezember 1974.

"Harte und geduldige Arbeit mithilfe von Insiderinformationen“, sagt Hersh in seinem Buch (S. 263). Mir wurde beim Lesen von Reporter klar, dass ich eine Rezension schreiben würde. Und ich hatte eine Idee. Ist es möglich, dem großen Seymour Hersh ein paar Fragen zu stellen? Zu seinem Lebenslauf oder gar zu Nordstream? Ich tat es einfach und schrieb. Daraus entstand ein Mailwechsel, den ich nicht für möglich gehalten hätte: „Persönliche Fragen? Eher nein. Zu den Pipelines auch nicht. Aber zu Journalismus: Feuer frei!“ Das war aufregend. Ich kommunizierte gerade mit der Legende des investigativen Journalismus! Ich formulierte etliche Fragen. Zu viele, wie er mir zu verstehen gab. Ich ließ nicht locker und kürzte auf drei Fragen, die ich für Neulinge wie mich interessant fand, und bekam gleich den ersten Tipp:

„Well, you've got the first lesson. Done. Be very aggressive.“

Dran bleiben, hartnäckig sein! 1979 verließ Hersh die Times, arbeitete wieder freischaffend und begann mit einem Buch über Henry Kissinger. Auch dabei galten für ihn journalistische Kriterien:

„Lies, bevor du schreibst, finde diejenigen Menschen, die die Wahrheit kennen oder eine Wahrheit, und lass die Fakten für sich sprechen.“ (S. 321)

Es folgten weitere Bücher und eine kurze Zusammenarbeit mit Filmemacher Oliver Stone. Nach einiger Zeit kehrte er zurück zu seinem Metier, zu lange recherchierten Artikeln. Nach 9/11 befasste sich Seymour Hersh intensiver mit dem Nahen Osten. Er berichtete über Afghanistan und den Krieg im Irak und hatte wieder einmal einen großer Wurf. Er deckte die Folter an irakischen Kriegsgefangenen durch US-Soldaten im Gefängnis Abu Ghraib auf und blieb danach thematisch in der Region. Mehrmals interviewte er beispielsweise den syrischen Präsidenten Baschar Assad. Am Ende des Buches zieht Hersh Bilanz. So sagt er:

„Ich habe nie ein Interview geführt, ohne zuvor alles über meinen Interviewpartner zu erfahren, was mir möglich war.“ (S. 418),

Sein letzter Satz lässt den heutigen Mainstream-Journalismus alt aussehen:

„Ich habe den Großteil meiner Laufbahn damit verbracht, die offiziellen Narrative infrage zu stellen, und ich bin dafür in größtem Maße belohnt und nur wenig bestraft worden. Ich würde es nicht anders machen wollen.“ (S. 421)

Auf meine Fragen hat Hersh nicht mehr reagiert. Die Antworten habe ich in seinem Buch gefunden. Seymour Hersh ist immer noch als Journalist aktiv. Wer wissen möchte, was er zu sagen hat, kann ihm auf der Autorenplattform Substack folgen. Hier ist er frei von redaktionellen Zwängen und hat direkten Draht zu den Lesern. Manchmal auch sehr direkt, wie ich erfahren durfte.

Bildbeschreibung

Mirko Jähnert hat am Kompaktkurs Journalismus an der Freien Akademie für Medien und Journalismus teilgenommen.

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Bildquellen: Wikimedia Commons CC BY-2.0