378833074d41a8fe3e9107c960b25655
Bericht | 15.07.2023
Demokratie im Leerlauf
Wenn Abgeordnete die Abstimmungen schwänzen, täuschen sie ihre Wähler. Einige fallen dabei besonders auf.
Text: Mirko Jähnert
 
 

Im Grundgesetz wurde 1949 die repräsentative Demokratie in Deutschland festgeschrieben. Der Paragraf 38, Absatz 1 besagt:

„Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.“

Der Bundestag hat eine besondere Bedeutung. Er ist das einzig direkt gewählte Gremium im parlamentarischen Regierungssystem. Der Bürger gibt einem Kandidaten beziehungsweise vorgeschlagenen Mitgliedern einer Partei seine Stimme zur Vertretung seiner Interessen. Nach der Wahl 2021 hat der Bundestag 736 Mitglieder. Das ist die höchste Zahl seit 1949.

Die Hauptaufgabe des Bundestages ist die Gesetzgebung. Diese wird durch Mehrheitsentscheidungen herbeigeführt. Bei besonders wichtigen Themen oder auf Antrag einer Fraktion wird namentlich abgestimmt. Die Teilnahme an einer namentlichen Abstimmung ist für die Abgeordneten verpflichtend. Ein Fehlen kann mit Ordnungsgeldern sanktioniert werden. So steht in Paragraf 13, Absatz 2 der Geschäftsordnung des Bundestages:

„Die Mitglieder des Bundestages sind verpflichtet, an den Arbeiten des Bundestages teilzunehmen. An jedem Sitzungstag wird eine Anwesenheitsliste ausgelegt, in die sich die Mitglieder des Bundestages einzutragen haben. Die Folgen der Nichteintragung und der Nichtbeteiligung an einer namentlichen Abstimmung ergeben sich aus dem Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Deutschen Bundestages (Abgeordnetengesetz).“

Die Realität sieht leider anders aus. Die namentlichen Abstimmungen sind auf der Webseite des Bundestages abrufbar. So kann jeder Bürger sich einen Eindruck davon verschaffen, wie sein gewählter Abgeordneter zu den Themen und Gesetzesvorlagen abgestimmt hat. Oder ob er der Abstimmung ferngeblieben ist. Das kommt nicht einmal selten vor. Bis zu 25 Prozent beträgt der Anteil der Abstimmungsschwänzer.

Beispiele:

Am 23.6.2023 beschloss der Bundestag die Verlängerung des Bundeswehreinsatzes im Libanon. 189 Mitglieder des Bundestages, rund 26 Prozent, haben sich an der Abstimmung nicht beteiligt. Immerhin auch mehr als 17 Prozent der SPD-Abgeordneten. Welche Partei stellt nochmal den derzeitigen Verteidigungsminister?

Das Pflegeunterstützung und -entlastungsgesetz wurde von der Ampelkoalition am 26.5.2023 zum Beschluss eingereicht. Jeder zehnte Abgeordnete der Regierungsparteien hielt eine Teilnahme nicht für nötig.

Insgesamt glänzen aber vor allem die Oppositionsparteien mit Abwesenheit. Die Fraktionen der AFD (15 Prozent) und der LINKEN (19 Prozent) erfüllen ihr Mandat am wenigsten. Dass die Regierungsparteien SPD und DIE GRÜNEN mit knapp unter zehn Prozent am besten abschneiden, ist da nur ein schwacher Trost.

Ich habe 89 namentliche Abstimmungen der laufenden Legislaturperiode untersucht. 39 Abgeordnete haben an mindestens 30 Stimmabgaben nicht teilgenommen, also mehr als ein Drittel verpasst. Natürlich kann es berechtigte Gründe geben. Krankheit zum Beispiel. Auch Mitglieder der Regierung werden nicht alle Termine im Kalender berücksichtigen können. Unter den Volksvertretern, die am häufigsten fehlen, findet man einige bekannte Namen. Die Präsenz in den Medien, auf Twitter oder YouTube ist hier deutlich größer als am eigentlichen Arbeitsplatz.

Was sagen die Fraktionen zu diesen Zahlen? Ich habe dazu alle Fraktionen der im Bundestag vertretenen Parteien sowie die 14 Abgeordneten mit den meisten Fehlzeiten per E-Mail angeschrieben und um Erklärungen zu den Abwesenheiten gebeten. Ein Test auch in Kommunikation und Transparenz.

Am schnellsten reagiert die AfD auf meine Anfrage. Sie bezieht sich ausführlich auf die verschiedenen Tätigkeiten ihrer Abgeordneten, zum Beispiel in den Ausschüssen, und konstatiert: „Eine durchgehende Präsenz im Plenum ist zwar wünschenswert, …aber nicht durchgehend möglich.“

Die Fraktion der GRÜNEN verweist mich auf einen Artikel der Bundeszentrale für politische Bildung zur Arbeitswoche eines Bundestagsabgeordneten (6), hat aber zu den „jeweiligen individuellen Gründe einzelner Bundestagsabgeordneten, an Plenarsitzungen ggf. nicht teilzunehmen, … keine Kenntnis“

Wortkarg ist die Pressestelle der SPD-Fraktion. Ich bekomme einen Artikel des SPIEGEL aus dem März 2023 zugeschickt, in dem es fast ausschließlich um die Abgeordnete der LINKEN Sarah Wagenknecht zu diesem Thema geht. Die 1. Parlamentarische Geschäftsführerin der SPD Katja Mast wird darin kurz mit dem Satz zitiert: „Fehlen aus Krankheits- oder familiären Gründen sei kein Problem. Wenn es unentschuldigt ist, fragen wir natürlich nach – meist direkt per SMS.“

Die stellvertretende Pressesprecherin der FDP-Fraktion Laura Staudacher möchte erst wissen, für wen ich schreibe, dafür bekomme ich ein Allgemeinplätzchen als Antwort: „Zu Abwesenheiten kann es auch durch Teilnahme an internationalen Konferenzen, Mutterschutz oder schlicht aus Krankheitsgründen kommen.“

Die CDU/CSU sowie die Fraktion der LINKEN reagieren nicht auf meine Anfrage. Als Wähler bin ich scheinbar erst wieder in zwei Jahren interessant. Die Message ist angekommen.

Fünf Abgeordnete, die ich direkt kontaktiert habe, antworten mit Hinweis auf länger dauernde Erkrankungen. Die anderen neun Volksvertreter hüllen sich in Schweigen. Sarah Wagenknecht und Sevim Dagdelen von der Fraktion der LINKEN gehören zu den Abgeordneten mit den meisten Abwesenheiten bei namentlichen Abstimmungen. Auf Twitter sind sie dagegen regelmäßig präsent. Ebenso wie die partei- und fraktionslose Joana Cotar. Immerhin hat sie alle Fragen der Bürger auf dem Portal Abgeordnetenwatch beantwortet. Manfred Grund von der CDU, der auf seinem Facebook-Account mit dem Slogan Stark vor Ort. Stark in Berlin“ wirbt, hat 41 von 89 Abstimmungen verpasst. Die letzten Nachrichten unter dem Punkt Aktuelles auf der Homepage von Jürgen Pohl (AfD) stammen vom September 2021, also dem Wahlmonat. Seitdem hat er bei 45 namentlichen Abstimmungen gefehlt. Ebenfalls in selbstbestimmter Bundestagsteilzeit bei vollem Diätenbezug sind die Unionsvertreter Peter Ramsauer und Paul Ziemiak.

Die repräsentative Demokratie steht zu Recht in der Kritik. Friedemann Willemer sieht sie gar als gescheitert. Parteienmonopol, gebrochene Wahlversprechen und Fraktionszwang sind nur einige Gründe. Wer die Entscheidungen des Bundestags verfolgt, wird sich nur selten „vertreten“ fühlen. Wenn ein nicht geringer Teil der Abgeordneten an den Abstimmungen nicht einmal teilnimmt, zeigt das, wie weit diese sich von der Rolle als Volksvertreter entfernt haben. Wenn interessierte Bürger auf Anfragen per Mail oder über die Seite Abgeordnetenwatch keine Antwort erhalten, ist Politikverdrossenheit die Folge. Die große Anzahl der Nichtwähler sind der Elefant im Raum. Es ist überfällig, das aktuelle System zu hinterfragen und auf mehr direkte Demokratie und Bürgerbeteiligung zu drängen.

Mirko Jähnert hat am Kompaktkurs Journalismus an der Freien Akademie für Medien und Journalismus teilgenommen.

Mehr von Mirko Jähnert:

Latin Loser

Heizen auf Pump(e)

Bildquellen: Tobias Golla, Pixabay