Neulich beschlich mich ein seltsames Gefühl. Für mein Buch „Links oder rechts oder was?“ stellte ich Essays zusammen, die sich mit den Verrücktheiten und Bevormundungen einer woken Pharisäerschicht bei gleichzeitiger Unfähigkeit in der Lösung realer Probleme beschäftigten. Die Texte mündeten in der Frage, was an dieser Schicht eigentlich links sein soll. Obwohl nichts an den Aufsätzen falsch oder irrelevant ist, kam es mir für einen Moment so vor, als würde ich gegen jemanden nachtreten, der bereits am Boden liegt.
Von zwei aufmerksamen Lesern bekam ich kritische Rückmeldungen, die sich auf den ersten Blick widersprechen: Der erste Leser lebt in Bayern auf dem Land und arbeitet in München. Er teilt meine Abneigung gegen den woken Firlefanz, aber er findet es übertrieben oder gar kontraproduktiv, sich ständig daran zu reiben. Die woken Schuldmechanismen hält er für Selbstbeschäftigungen kleiner weltabgewandter Zirkel, denen man am besten gar keine Aufmerksamkeit geben sollte. Es sei eher an der Zeit, sich mit „den Rechten“ auseinanderzusetzen. Der andere Leser wohnt und arbeitet in Berlin und ist beruflich und privat umgeben von den ganzen woken Tendenzen. Auch er lehnt sie ab, aber den von mir behaupteten Umschwung bezweifelt er. Vielmehr hat er das Gefühl, dass der woke Spuk und das damit verbundene Desinteresse an realweltlichen Themen sogar noch zunimmt.
Wie passen diese Eindrücke zusammen, denen man noch weitere hinzufügen könnte? Etwa derjenigen, die einfach nur über Gendersprache lachen, versus anderer, die gar nicht lachen können, weil sie aus ihren Jobs gemobbt werden. Ich glaube, dass beide Wahrnehmungen und Deutungen zugleich Recht und Unrecht haben. In gewisser Weise drückt sich darin genau das Problem aus: Während einige wenige zur Rettung der Welt grüne Streifen auf die Züge malen, warten viele vergeblich darauf, dass die Züge überhaupt kommen.
Aber es ist etwas passiert in den vergangenen zwei Jahren. Die woke Meinungsführerschaft hat sich aufgelöst. Die Routine der Vorwürfe und Schuldmechanismen, von denen wir uns hätten einschüchtern lassen, verfängt nicht mehr. Das ewige „Haltung zeigen“ und „Zeichen setzen“ hat sich verbraucht. Der heftige Flirt der Deutschen mit den Grünen ist ermattet. Gewogen und zu leicht befunden. Die fesche Lola, von der alle Jungs des Viertels geträumt haben, entpuppte sich als Blaustrumpf mit Putzfimmel.
Aber so schnell werden wir die Plage nicht los. Es gibt einfach zu viele, die sich an den Universitäten, in den Medien, im Kulturbetrieb und den staatlich finanzierten Vorfeldorganisationen eingenistet haben. Sie werden weiter nerven. Sie werden ständig neue Schuldtatbestände erzeugen. Einfach weil sie nichts anderes gelernt haben. Eine möglichst hohe Staatsquote und der Glaube an den Staat als Gerechtigkeits- und Wahrheitsgaranten ist ein präsenter Reflex.
Die Kombination aus Selbstgerechtigkeit und Realitätsverweigerung hat den Raum für fragwürdige politische Tendenzen überhaupt erst geschaffen. Wer mit seinen persönlichen Interessen und allgemeinen Bedenken bei den bisherigen Adressaten kein Gehör mehr findet, der sucht eben woanders. Wir sollten aber, um ein Bild von Douglas Murray zu gebrauchen, nicht einen Heiligen Georg spielen, der nach der Tötung des woken Drachens immer noch wild mit dem Schwert in der Gegend herumfuchtelt. Wir sollten nicht zu den Pharisäern 3.0 werden, die sich auf ewig an den Pharisäern 2.0 abarbeiten.
Auch wenn ich persönlich wenig Lust dazu habe, müssen wir uns mit den Thesen, Anliegen und Argumentationen der „Rechten“ auseinandersetzen. Ich befürchte, dass ich in einer Diskussion mit einem AfDler ziemlich alt aussähe. Aber nicht, weil deren Konzepte so toll wären, sondern einfach, weil ich mich noch zu wenig mit ihnen beschäftigt habe und zu wenig geübt in der Debatte bin. Was sind legitime Anliegen, die nirgends sonst eine Heimat finden? Was sind Auffassungen, die ich nicht teile, die aber als solche vertretbar sind? Was sind verdeckte Vorhaben, die man nicht im Programm findet? Welche davon bedrohen eine freiheitliche Demokratie? Und was bedeuten die unappetitlichen Elemente bis hin zu unverhohlenem Nazikitsch?
Aber auch die Linke muss endlich aufwachen. Es war erstaunlich, dass es nicht die Liberalen, sondern Altlinke waren, die sich dem grün-woken Obrigkeitsdenken entgegengestellt haben. Danke dafür. Aber was nun? Wenn links nicht woke ist, was ist es dann? Es können nicht dieselben Konzepte sein wie vor hundert Jahren. Wir haben seit 1917 zu viele Dystopien gesehen, als dass wir noch naiv sein könnten. Wir brauchen nicht den ungenießbaren Politologen- und Soziologen-Sprech der 68er. Statt der Selbstentmündigung durch deterministische Machttheorien und Geschichtskonzepte, statt des ewigen Nachkartens in Vergangenheitsthemen sollte eine neue Linke wieder Freiheit und Arbeit in den Mittelpunkt stellen. Sie sollte den wertschöpfenden Charakter der Arbeit würdigen, statt Menschen von der Arbeit erlösen zu wollen.
Vor allem jedoch müssen alle, die den selbstgerechten Stillstand der letzten Jahre kritisieren, bessere Lösungen entwickeln. Wenn wir bestimmte Entwicklungen zu Lasten der Demokratie verhindern wollen, dann sollten wir ganz praktisch die Hausaufgaben in den drängenden Themen machen: Infrastruktur im weitesten Sinne. Demografischer Wandel und seine Auswirkungen auf Arbeitswelt und Sozialsysteme. Praxisgerechten Gestaltung des ökologischen Umbaus. Rolle von Digitalisierung und KI. Rettung unseres Bildungssystems. Im Einzelnen gibt es unendlich viel zu streiten. Aber genau damit sollten wir anfangen.
Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch.
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