„Alle EU-Grenzwerte zur Luftqualität eingehalten“, lautet der Aufmacher in der Tagesschau vom 20. Februar 2025. Eine Grafik zeigt, wie sich Grenzwertüberschreitungen für Stickstoffdioxid seit 2011 kontinuierlich reduziert haben und jetzt gänzlich verschwunden sind. Eine Vertreterin des Umweltbundesamtes bewertet dies als Erfolg und begründet das mit den Umweltzonen.
Wer nun argwöhnt, in diesem Bericht sollten pünktlich zur Wahl Erfolge grüner Regierungspolitik gefeiert werden, wird schnell eines Besseren belehrt. Schon die Bilder lassen Düsteres ahnen: Berufsverkehr, Auto an Auto, der übliche Blick in den qualmenden Auspuff. Dummerweise wurde die Luft trotzdem besser. Dies wird jedoch sofort durch den Hinweis relativiert, dass die Grenzwerte veraltet seien. Neue Grenzwerte seien schon verabschiedet, träten aber leider erst 2030 in Kraft. Und dann wird der obligatorische Bußprediger mit dem Hinweis angekündigt, dass der Deutschen Umwelthilfe die aktuellen Grenzwerte noch nicht weit genug gehen: „Wir haben aktuell 70.000 Menschen, die jedes Jahr in Deutschland an diesen hohen Luftbelastungswerten sterben. Die Aufgabe für die Zukunft ist eben, diese Zahl herunterzubringen.“
Wir sehen an diesem Beispiel alle Elemente dessen, was ich Pharisäer-Herrschaft nenne. Eigentlich könnte man sich über den erreichten Fortschritt freuen. Aber für das pharisäische Geschäftsmodell ist die Lösung eines Problems das Schlimmste, was passieren kann. Wenn ein solcher GAU droht, dann müssen die Maßstäbe so verschärft werden, dass wir ihnen auch weiterhin nicht gerecht werden.
Es ist aber nicht per se gut, Grenzwerte immer weiter zu verschärfen. Irgendwann kommt man in den Bereich des abnehmenden Grenznutzens: Man muss einen immer größeren Aufwand für einen immer geringeren Zusatznutzen betreiben. Seit der Abgasnorm EURO 1 von 1992 wurden die Grenzwerte für Stickoxide von 0,97 Gramm je Kilometer in mehreren Stufen auf 0,06 Gramm je Kilometer nach der Norm EURO 6 verschärft – weitere Verbesserungen können also nur noch minimal sein. Wäre es nicht besser, die Hersteller ließen die Verbrenner auf dem guten Stand von heute und investierten alles in alltagstaugliche und bezahlbare Elektromobilität?
Aber hätten wir dann nicht 70.000 Tote auf dem Gewissen? Machen wir eine grobe Plausibilitätsrechnung: Deutschland hat 80 Millionen Einwohner, und wir leben ungefähr 80 Jahre lang. Also sterben jedes Jahr rund eine Million Menschen, einfach, weil sie das Ende ihres Lebens erreicht haben. Ist es wahrscheinlich, dass davon 70.000, also immerhin sieben Prozent, wegen einer einzigen Ursache, nämlich wegen eines zu hohen Stickoxid-Grenzwertes, gestorben sind, obwohl dieser seit 1992 um 94 Prozent reduziert wurde? Starben vielleicht vor 30 Jahren, als der Grenzwert 16-mal so hoch lag, 16-mal so viele, das heißt 1,1 Millionen Menschen wegen der Luftbelastungswerte, also mehr, als überhaupt gestorben sind? Und würden wir ohne Stickoxide ewig leben? Alarmistischer Zahlenmüll gehört stets zum Handwerkszeug der Bußprediger.
Vor allem jedoch ist bezeichnend, dass die eigentlichen Akteure der erfreulichen Entwicklung im Tagesschau-Bericht nicht vorkommen. Die Luftqualität verbessert sich schließlich nicht durch Grenzwerte, Umweltzonen und Messstationen. Es lohnt, einen Augenblick bei den Hintergründen zu verweilen: Unsere Atemluft besteht zu 78 Prozent aus Stickstoff. Bei Verbrennungstemperaturen von mehr als 1000 Grad geht Stickstoff Verbindungen mit dem ebenfalls in der Luft vorhandenen Sauerstoff ein – ab 1200 Grad exponentiell. Es bilden sich die gesundheitsschädlichen Stickoxide. Bei Verbrennungsmotoren entstehen nun verschiedene Zielkonflikte: Findet eine Verbrennung unter Luftmangel statt, dann entsteht das hochgiftige Kohlenmonoxid. Findet die Verbrennung mit Luftüberschuss statt, dann entstehen mehr Stickoxide, einfach weil mehr Luft mehr Stickstoff enthält. Ein weiterer Zielkonflikt entsteht aus dem Wunsch, Kohlendioxid zu reduzieren. Der verbrauchsgünstige Diesel produziert weniger Kohlendioxid, aber er arbeitet mit Luftüberschuss und erzeugt deshalb mehr Stickoxide. Dasselbe passiert, wenn man zur höheren Energieeffizienz die Verbrennungstemperatur erhöht. Obwohl diese Zielkonflikte aus physikalischen Gesetzen resultieren, haben Ingenieure in den vergangenen Jahrzehnten geschafft, sie weitgehend aufzulösen. Die bekannteste Lösung ist der Abgaskatalysator. In ihm tauschen Kohlenmonoxid und Stickoxide ihre Sauerstoffatome: Aus Kohlenmonoxyd wird so das ungiftige Kohlendioxid und aus den Stickoxiden wieder Stickstoff. In den letzten Jahren sind intelligente und aufwändige Lösungen auch für den Dieselmotor hinzugekommen.
Niemand fährt Auto, um die Umwelt zu schädigen oder die Konzerne reich zu machen. Menschen wollen von A nach B, und dafür haben sich Automobile seit 1886 als verdammt praktisch erwiesen. Wenn der Erfolg Probleme erzeugt, dann müssen Menschen dafür Lösungen finden, so wie Menschen schon immer Lösungen für menschengemachte Probleme gefunden haben. Ingenieure der Autohersteller haben tatsächlich solche Lösungen geschaffen. Eigentlich darf man optimistisch sein. Ein erfahrener Industrieforscher sagte mir, dass es in seinem Berufsleben Fortschritte gab, die er nicht nur technisch, sondern auch physikalisch für unmöglich gehalten hätte. Aber diese Fortschritte gibt es nicht mit einem Fingerschnippen und nicht zum Nulltarif. Wenigstens könnte man in einem Tagesschau-Bericht – statt den berufsmäßigen Weltuntergangspredigern zu huldigen – denen die Ehre geben, die mit ihrer Arbeit tagtäglich den Weltuntergang verhindern.
Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch.
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