Westdeutschland in den in den 1970er oder 1980er Jahren: Wer sich als Schüler oder Student links fühlte, war irgendwie gegen die USA, gegen Konzerne, gegen Kernkraft, gegen Bevormundung und Regeln jeder Art, gegen Wehrdienst und Nachrüstung. Gegen alles Deutsche waren wir sowieso: Wer Bratwurst liebte und drei Strophen eines Volksliedes singen konnte, musste ein Nazi sein. Wir waren für freie Liebe und vielleicht für antiautoritäre Erziehung. Wir wollten die Arbeiter befreien, auch wenn wir keinen Arbeiter kannten. Wir sympathisierten mit sozialistischen Ländern, vor allem wenn sie weit weg waren.
Irgendwann kam die Frage der Berufswahl. Ich hatte bereits zwei Kinder und bewarb mich in alle Richtungen. Es klappte schneller als erwartet beim größten deutschen Industrieunternehmen. Ich habe es nie bereut, im Gegenteil. Aber es gab durchaus Kreise, in denen das irgendwie als Verrat an der Bestimmung eines linken Geisteswissenschaftlers galt. Dass in der anrüchigen Industrie die Arbeiter zu finden waren, die man doch beglücken wollte, wirkte nicht schuldmindernd.
Aber welche Berufsfelder wären denn als links-kompatibel durchgegangen? Nun, wahrscheinlich eine Funktionärslaufbahn in einer linken Organisation. Dann vielleicht noch Universität, Goetheinstitut, Verlage und Medien. Dort gab es aber nur wenige und unsichere Jobs. Also boten sich für gefühlte Linke der öffentliche Dienst und vor allem der Schuldienst an. Ist also Wirtschaft rechts und öffentlicher Dienst links? Warum eine Beamtenlaufbahn linker sein soll als Technik für den Umweltschutz zu entwickeln, als Arbeitsplätze ergonomisch zu gestalten oder als überhaupt Nähe zur Wertschöpfung zu suchen, das wird wohl immer ein Geheimnis bleiben. Aber es war so, wie man unschwer etwa an der Sozialstruktur grün-linker Bundestagsabgeordneter feststellen kann.
Die verbeamteten Linken machten nun Dienst nach Vorschrift, aber in ihrem Selbstbild waren sie immer noch verkappte Che Guevaras im Kampf gegen die USA und die Profitgier der Konzerne – und witterten zum Schaden ihrer Schüler selbst dann finstere Absichten, wenn es um Schulpartnerschaften für Industriepraktika ging. Man kann diesen Typus bis heute treffen. Gewiss schufen diese Lehrer kein Verständnis für Innovation oder Wertschöpfungszusammenhänge, aber diese verbeamtete Welt existierte zunächst getrennt von der wertschöpfenden Industrie und ohne Einfluss auf das, was dort passierte.
Dies änderte sich mit dem Marsch durch die Institutionen. Im Einwohnermeldeamt mag das noch folgenlos gewesen sein, aber nicht mehr im Umweltbundesamt, das seit den 1980ern einen absurden Kreuzzug gegen den Dieselmotor führt. Die Universitäten erzeugten statt Exzellenz auf technisch-naturwissenschaftlichem Gebiet nun bevorzugt dekonstruktivistische und normative Konzepte zur Umerziehung der Bevölkerung.
Vor rund fünfundzwanzig Jahren passierte plötzlich etwas Neues. Unternehmen erhielten Fragebogen von Organisationen, die sich zum Beispiel „investing4good“ nannten. Abgefragt wurde etwa, ob man in der Rüstung tätig sei oder ob man bestimmte Konventionen unterschrieben habe. Die Organisationen interessierten sich für die rassische Aufgliederung und den gewerkschaftlichen Organisierungsgrad der Belegschaft. Nirgendwo wurde erklärt, wer dahinterstand, wie man zu den Fragen komme und wie man die Antworten bewerte. Eine Möglichkeit zu erklären, dass man in Deutschland keine guten Erfahrungen mit der Erfassung von Rassen gemacht habe und als Arbeitgeber nicht die Mitgliedschaft in Gewerkschaften abfragen dürfe, gab es nicht. Aber so absurd man das finden mochte: Wenn man zum dritten Mal „not applicable“ angekreuzt hatte, fühlte man sich wie ein Kind, das von der Mutter zum dritten Mal gefragt wird, ob es endlich den Mülleimer rausgebracht hat. Die schuldbasierte Unterwerfung begann zu wirken. Und wichtig: Sie wirkte nicht, weil Unternehmen ungestört etwas Böses machen wollten, sondern weil sie die Anliegen von Umwelt bis Antirassismus im Großen und Ganzen teilten.
In den vergangenen zwanzig Jahren hat sich aus diesen bescheidenen Anfängen eine ganze Schuld- und Vorwurfsindustrie entwickelt: Mit öffentlichen Mitteln finanzierte Institute und NGOs, die sich als Anwalt von immer neuen Opfergruppen gerieren; Meldestellen, die die Probleme, die sie zu lösen vorgeben, selbst erzeugen; schließlich Beratungsstellen für alles und jedes – im Bundestag forderte eine Abgeordnete der Linken „mehr psychosoziale Betreuung für alle Menschen in diesem Land“. Und es gibt einen selbstbestätigenden Kreislauf in der Wissenschaft: Gefördert werden Projekte, in denen irgendetwas mit Klima oder Gender vorkommt und die zu den gewünschten Resultaten führen. Das wird dann als Beweis verwendet, dass die Wissenschaft zu hundert Prozent hinter bestimmten Thesen stehe und dass man deshalb noch mehr Forschung, mehr Förderung, mehr Meldestellen, mehr Betreuung und mehr Regelungen und Kontrolleure brauche.
Da die Befragungen am Anfang vor allem Unternehmen im Visier hatten, konnten schlichte Gemüter glauben, dass der Impetus irgendwie links war. Und wenn Unternehmen meckerten, war das natürlich die Bestätigung, dass man die Richtigen im Visier hatte. Inzwischen schnüren solche Meldepflichten den Unternehmen die Kehle zu. In der gemeinnützigen Aktiengesellschaft, in der ich Aufsichtsrat bin, müssen jedes Jahr rund fünf Prozent des wirtschaftlichen Ergebnisses für den Bericht nach dem Lieferkettengesetz aufgewendet werden. Wohlgemerkt, nicht für reale Maßnahmen, die es in einem Unternehmen für Stiftswohnen und Kliniken gar nicht gibt. 80.000 Euro nur für einen Bericht, den selbst ein größeres Unternehmen ohne fremde Hilfe nicht erstellen kann. 80.000 Euro, mit denen man etwas für die Bewohner oder die Mitarbeiter machen könnte. Und man muss davon ausgehen, dass auf staatlicher Seite ein ähnlicher Betrag aufgewendet werden muss, um die Berichte zu sichten und zu kontrollieren. Wir treffen also gleich mehrfach auf unsere Szene: In der Konzeption solcher Meldepflichten, in der freundlichen Hilfe beim Berichterstatten und schließlich bei der Kontrolle – und dann beginnt der Arbeitsbeschaffungskreislauf von vorne. Es ist leicht, die altlinken Lehrer zu karikieren, aber im Hauptberuf haben sie immerhin den Kindern Mathe und Deutsch beigebracht. Die neue Pharisäerschicht ist dagegen auch im Hauptberuf nur Pharisäer. Sie will nur Macht, und zwar Macht ohne Verantwortung. Sind solche parasitären Strukturen links, nur weil sie Unternehmen („die Konzerne“) unter Generalverdacht stellen?
Längst ist der Wirkungskreis dieser Schuld- und Vorwurfsindustrie über Unternehmen hinausgewachsen. Inzwischen stehen beliebige Felder der privaten Lebensgestaltung unter Beobachtung. Kürzlich stellte Ferda Ataman, die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung die Anrede als „süße Omi“ unter den Verdacht des „benevolenten Ageismus“. Aha! War eine solche Pharisäerherrschaft wirklich der Traum der Menschen, die in den letzten zweihundert Jahren für Freiheit und soziale Gerechtigkeit eintraten und dabei oft genug ihr Leben riskierten? Wie pubertär unser studentischer Begriff von „links“ auch gewesen sein mag und was auch immer „links“ in einem veränderten Umfeld heute bedeuten müsste: An die beschriebene Umdeutung des Begriffes „links“ mag ich mich nicht gewöhnen.
Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch.
Berichte, Interviews, Analysen
Freie Akademie für Medien & Journalismus