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Kommentar | 26.06.2025
Nachwuchs an die Waffen!
„Eltern müssten bereit sein, ihre Kinder zu geben“, sagt ein Geschichtsprofessor im Fernsehen. „Nie wieder Krieg!“ war gestern.
Text: Brit Gdanietz
 
 

Am 2. Juni beschäftigte sich die Sendung „Kulturzeit“ auf 3sat mit dem Thema „Wehrpflicht-Debatte: Frauen an die Front?“ Auch ohne diese Debatte ist es kaum möglich, die von EU und neuer Regierung ausgegebene Marschrichtung der dringend erforderlichen Kriegstüchtigkeit zu überhören. Der Historiker Egon Flaig forderte kürzlich in einem FAZ-Artikel mehr Opferbereitschaft. Auf 3sat fragte er nun, warum man nicht das tut, was man in Polen längst eingeführt hat. In Gymnasien gehören dort Schießübungen mittlerweile zum Unterricht in den oberen Klassen. Er halte das für richtig.

Als in der DDR Aufgewachsene kann ich aus Erfahrung sprechen. Das ist keineswegs neu: Wehrunterricht war Bestandteil der sozialistischen Schulbildung. Für alle männlichen Schüler der neunten Klassen gab es zwei Wochen Wehrlager. Die Ausbildung übernahmen meist Offiziersschüler und NVA-Reservisten. Training für den Militäralltag. Schutzanzüge, Gasmasken und Handgranaten, das Orientieren und Fortbewegen im Gelände, Ausdauer, Sturmbahn, Schießen mit Luftgewehren. Hinzu kam militärtheoretischer und politischer Unterricht. Für die Mädchen stand ein ZV-Lager (Zivilverteidigung) auf dem Programm. Auch hier ging es neben Truppenübungen im Gelände, Disziplin und Fahnen-Appellen um Erste Hilfe, Gasmasken und Waffen sowie um die Evakuierung im Kriegsfall. All das diente der Vorbereitung auf eventuelle Angriffe durch den Klassenfeind, in diesem Fall das kapitalistische Ausland.

Historiker Flaig plädiert nun auf 3sat dafür, dass nicht nur junge Männer, sondern auch Frauen zum Militär verpflichtet werden. Egon Flaig, von 2008 bis zu seiner Pensionierung 2014 Lehrstuhlinhaber für Alte Geschichte an der Universität Rostock, beklagt

die Unwilligkeit von Eltern, ihre Kinder als Soldaten zu sehen, das heißt: als Mitglieder des Gemeinwesens, die eventuell geopfert werden für das Gemeinwesen, die geopfert werden für die Aufrechterhaltung unseres Lebens, so wie wir es weiterleben wollen – dieser Wille, dieses Opfer auch bringen zu wollen, ist ein schmerzliches.

Dass es an dieser Opferbereitschaft bei Eltern und Kindern fehle, sei auf einen jahrzehntelangen Pazifismus zurückzuführen. Tatsächlich. Davon abgesehen, dass dieser ernstgemeinte Aufruf zum Opfern der eigenen Kinder sowie zum Militärunterricht in Schulen fassungslos macht, sollte Herr Flaig als Historiker wissen, dass dieser Pazifismus Folge unserer Geschichte ist. Wurde uns nicht schmerzlich vor Augen geführt, wohin die Idealisierung von kollektivem Kampfesgeist führen kann? Die Losung „Von deutschem Boden soll nie wieder ein Krieg ausgehen“ galt in der Bundesrepublik lange Zeit als oberste Prämisse und findet sich deshalb als Artikel 26 im Grundgesetz wieder. Es sei schwierig, aus dieser Situation herauszukommen, sagt der Historiker. Hierzu bedürfe es „einer kulturellen Umprogrammierung einer weitgehend entpolitisierten Gesellschaft“.

Neben dem Entsetzen, das diese Aussagen bei mir hervorrufen, treibt mir die Tatsache, dass sie offensichtlich wieder en vogue sind und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen eine Bühne bekommen, schwere Übelkeit in die Magengegend. Die Generation, der über Jahre Patriotismus und Vaterlandsliebe mindestens als moralisch verwerflich eingebläut wurden, soll sich jetzt opfern und zur Waffe greifen. Damit – so erklärt es Flaig – der Rest der Gesellschaft sein Leben so weiterleben kann wie bisher. „Doch am Opfermut bei Eltern und deren Kindern fehle es“, fasst die Stimme des Kommentators zusammen.

Mir fehlt die Fantasie, um mir vorzustellen, dass jemand, der so etwas ernst meint, selbst Kinder hat. Zumindest ist dieser Historiker zu jung, um den Zweiten Weltkrieg erlebt zu haben, und wiederum zu alt, um für einen neuen Krieg als Soldat in Frage zu kommen. Glück gehabt. Da ist es leicht, Opferbereitschaft zu fordern.

Neben einem Soldaten und einer Soldatin kommt auf 3sat CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter zu Wort. Auch er prangert die fehlende Einsatzbereitschaft der jungen Generation an. Grund? Der Einfluss aus Russland und China. Dadurch hätten die jungen Menschen kein Bedrohungsgefühl mehr. Das gelte es zu ändern. Man müsse „vielleicht auch mal auf die Nachbarstaaten hören, die ein anderes Bedrohungsgefühl haben“.

Drohkulisse Putin

Wie sich dieses Gefühl begründet, erläutert Kiesewetter nicht. Zu viele Zusammenhänge und Informationen scheinen nicht zweckdienlich. Sie verwirren nur und provozieren womöglich kritische Nachfragen. Medienübergreifend wird eine Drohkulisse aufgebaut, denn um die Pläne zur Kriegstüchtigkeit umzusetzen, ist eine unwillige Jugend nicht hilfreich. Allerdings findet man für die von großen Teilen der deutschen Politik und Presselandschaft herbeifantasierte und ständig wiederholte Behauptung, Russland würde sich nach dem Krieg in der Ukraine auch noch auf einen Krieg mit der Nato einlassen, bis heute keine Belege.

Stattdessen lese ich im neuen Buch von Daniela Dahn: Dem jährlichen Bericht der US-Geheimdienste könne man entnehmen, dass der Kreml „mit ziemlicher Sicherheit nicht an einem direkten militärischen Konflikt mit den Streitkräften der USA und der Nato interessiert“ sei.

Bildbeschreibung

Das klingt auf jeden Fall anders. Ohne Frage sollten auch Einschätzungen von US-Geheimdiensten hinterfragt werden, allerdings steht die CIA eher nicht im Verdacht, russische Propaganda zu verbreiten. Weiter bei Daniela Dahn: George Beebe, jahrelang Chef der Russlandanalyse bei der CIA und Berater von Dick Cheney, habe bereits lange vor Russlands Einmarsch in die Ukraine den Westen als Hauptverantwortlichen ausmacht. So viel zur Einordnung des „unprovozierten Angriffskrieges“.

Aufschlussreich sind auch die Worte von Oleksij Arestowytsch, Berater des Selenskyj-Büros. Als 2019 die Neutralität aus der ukrainischen Verfassung gestrichen wurde, sagte er:

Unser Preis für den Nato-Beitritt ist mit einer Wahrscheinlichkeit von 99,9 Prozent ein großer Krieg mit Russland.

Obwohl damals 70 Prozent der Ukrainer gegen eine Nato-Mitgliedschaft waren, so kann man bei Daniela Dahn weiter erfahren, hat die Regierung im November 2021 ein strategisches Sicherheitsabkommen unterschrieben, das die Integration der Ukraine in die militärischen Führungsstrukturen der USA vorsah. Daraufhin hat die russische Führung den USA im Dezember 2021 einen Entwurf für ein beiderseitiges Sicherheitsabkommen zu einer strategischen Partnerschaft übersandt. Dieser Entwurf sah eine neutrale Ukraine vor, die Beendigung der Nato-Erweiterung und die Entfernung der US-Raketen aus den seit 1997 beigetretenen Nato-Staaten. Jens Stoltenberg, Nato-Generalsekretär, wird hierzu mit folgenden Worten zitiert:

Das haben wir abgelehnt. Also zog er [Putin] in den Krieg, um die Nato an seinen Grenzen zu verhindern. Doch er hat genau das Gegenteil erreicht.

Einmal mehr scheint die Geschichte widerlegt, Putin hätte grundlos die Ukraine überfallen.

Zurück zur Kriegstüchtigkeit

Es lindert meine Übelkeit nur wenig, dass man im 3sat-Beitrag auch erfährt, dass sich die Tochter des Kommentators nach Anwerbung durch die Bundeswehr doch lieber dafür entscheidet, ein Friedens-Video zu drehen und mit einer Friedenstaube durch die Stadt zu radeln. Ebenso wird berichtet, dass die deutsche Friedensgesellschaft nach langer Pause wieder Beratungen zur Wehrdienstverweigerung anbietet. Der Bedarf steige.

Um das Ziel von Verteidigungsminister Pistorius umzusetzen, wird zuerst auf den Nachwuchs gesetzt. 650.000 Minderjährige wurden per Post zum Truppenbesuch eingeladen. Ein QR-Code verspricht eine VIP-Experience:

Einmal Grenadier sein! Steig in unsere modernen Panzer und drehe eine Kasernenrunde. Finde heraus, ob auch in dir ein echter Pionier steckt.

Mit Begriffen wie „Talent Scout 2025“, „Backstage-Tour´“ oder „exklusive Erlebnisse“ wirbt die Truppe. Das alles klingt wie eine Einladung zu einem großen Abenteuer. Der Hinweis auf die Gefährlichkeit eines Dienstes an der Waffe im Ernstfall wird, ob des Nachwuchsmangels, vorsichtshalber weggelassen.

Nun ist in Kriegszeiten eine verteidigungsfähige Armee selbstverständlich sinnvoll, das sieht auch das Grundgesetz vor. Allerdings ist bemerkenswert, wie schnell der Wind sich dreht. Unter medialem Beschuss soll jetzt auf allen Ebenen Kriegswilligkeit erzeugt werden. Nur Bildung und Erziehung kommen nicht so schnell hinterher: Obgleich die Bundeswehr schon seit einiger Zeit auch an Schulen um Nachwuchs wirbt, sind in Kindergärten und Schulen Schwerter und Pistolen zum Spielen und beim Fasching verboten. Selbst eine Wasserpistole wurde meiner Tochter bei hochsommerlichen Temperaturen auf dem Schulhof verwehrt. Ginge es nach Egon Flaig, mögen die Kleinen aber, sobald sie erwachsen sind, gefälligst ein Einsehen haben und der Anwerbung durch das Militär nur positive Gefühle entgegenbringen. Plötzlich sind auch Waffen in Ordnung und es reicht nicht mehr aus, nur „verteidigungsfähig“ zu sein. „Kriegstüchtig“ ist nun die Losung.

Zur Zeitenwende passt der neue Veteranentag. Premiere am 15. Juni. Bunt, divers und gut gelaunt lächeln die Protagonisten in Uniform aus dem Werbevideo auf der Bundeswehrseite. In der Mitte der Truppe: ein Priester mit gefalteten Händen. Julia Klöckner, Präsidentin des deutschen Bundestages, sagt:

Wer für die Sicherheit und die Freiheit unseres Landes alles gibt, der hat mehr als nur wenige Dankesworte verdient.

Dagegen ist erst einmal nichts einzuwenden. Es drängt sich allerdings die Frage auf, warum diese Erkenntnis erst jetzt, oder sollte man fragen: gerade jetzt, ins Bewusstsein gerufen wird? Es passte wohl bisher einfach nicht so gut. Einen Feiertag für Veteranen gab es bis heute nur in den USA. Was bis vor wenigen Jahren in der Bundesrepublik als unvorstellbar galt, wird nun der Bevölkerung als unverzichtbar und längst überfällig verkauft.

Auch das ist keine neue Erkenntnis: Begriffe wie Nation, Werte und Opferbereitschaft werden immer dann hervorgeholt, wenn sie den politischen und wirtschaftlichen Interessen dienlich sind. Da ist es aus meiner Sicht nur konsequent, wenn diejenigen, die am lautesten Kriegstüchtigkeit und Opferbereitschaft fordern, sich zuallererst selbst zur Verteidigung unseres Landes melden. Ich jedenfalls gehöre zu den Eltern, die nicht bereit sind, ihre Kinder zu opfern.

Brit Gdanietz ist Schauspielerin und Sprecherin und hat am Kompaktkurs Journalismus an der Freien Akademie für Medien & Journalismus teilgenommen.

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Bildquellen: Julia Klöckner eröffnet das Bürgerfest zum Nationalen Veteranentag am Reichstag in Berlin. Foto: picture alliance/dpa | Fabian Sommer