Im Jahre 1255 fand Erstaunliches statt im fernen Karakorum, der Residenz der mongolischen Großkhane, die damals den größten Teil des eurasischen Kontinents beherrschten. Am Hof befanden sich Vertreter aller Völker, Kulturen, Religionen und Sekten des größten Reiches der Geschichte – und der Franziskanermönch Wilhelm von Rubruk als Gesandter des Papstes.
Wie bei Hofe üblich gab es auch in Karakorum Eifersüchteleien. So entstand eines Tages heftiger Streit, welche Religion dem Großkhan Möngke am liebsten sei. Dem Khan kam dieser Zank zu Ohren und er lud zu einem Religionsgespräch ein. Muslime verschiedener Richtungen, Juden, nestorianische, orthodoxe und katholische Christen, Buddhisten verschiedener Richtungen, Taoisten und andere sollten miteinander diskutieren – ein globales Religionsforum 500 Jahre vor Lessings Nathan. Obwohl gerade der sechste Kreuzzug stattfand, machte Wilhelm von Rubruk den Moslems, Juden und anderen christlichen Konfessionen einen überraschenden Vorschlag: Wir, die wir an denselben einen Gott glauben, sollten vor dem Khan nicht gegeneinander streiten, sondern mit einer Stimme sprechen. Der Vorschlag fand Zustimmung und man verabredete sich zu einem Vorbereitungsworkshop.
Dort zitieren Moslems, Juden und andere Christen sofort wild durcheinander Suren aus dem Koran und Verse aus dem Alten und Neuen Testament, um die Überlegenheit und Alleinstellung ihres Gottes und die drohende Verdammnis aller Nichtgläubigen zu beweisen. An genau dieser Stelle interveniert der scholastisch gebildete Wilhelm: Aus Werken zu zitieren, an die die anderen gar nicht glauben, sei vollkommen wertlos. Wenn man andere überzeugen wolle, dürfe man nur diejenigen Argumente verwenden, die der andere akzeptiert. Rubruk führt dann einen solchen Beweis vor, und man beschließt einvernehmlich, mit dieser Methode beim Großkhan anzutreten.
Bild: Wilhelm von Rubruk und ein Begleiter. Unbekannter Künstler, Corpus Christi College (Cambridge).
Natürlich wird die Ausführung schon wegen der Sprachprobleme weniger glorreich gewesen sein, als Rubruk es schildert, und ohnehin endet die Audienz wie üblich in einem allgemeinen Besäufnis. Aber dies ändert nichts an Absicht und Methode. Was Rubruk anwendet, ist die an den jungen europäischen Universitäten praktizierte Methode des rationalen Disputs. Wir lästern heute gerne über die Gottesbeweise, die dort immer wieder exerziert werden. Aber im Gottesbeweis lässt sich der gläubige Christ auf einen Dialog ein mit jemandem, der in seinen Augen das denkbar Schlimmste verkörpert, nämlich mit einem Menschen, der Gott leugnet. In diesem Dialog gelten keine Glaubenssätze, keine heiligen Schriften, keine gefühlten Gewissheiten, keine Berufung auf unfehlbare Autoritäten, nicht die den Ungläubigen drohende Verdammnis, sondern nur die Argumente, die der andere anerkennt. Die Diskussion beginnt, als ob es Gott nicht gäbe.
Niemand kann widerlegt werden außer aufgrund des Zugestandenen, und er darf nur durch das überzeugt werden, was er annimmt.
Nur wenige Jahre zuvor hatten die Mongolen Europa in bisher nicht gekannter Weise bedroht und wurden tatsächlich als Völker der Endzeit gedeutet. Jetzt sucht man die Brücke zu ihnen und den anderen dort versammelten Religionen. Man redet mit ihnen, man isst und trinkt mit ihnen. Das ist nicht selbstverständlich. Und es geht auch anders.
Der Perser Mani schuf im dritten Jahrhundert eine neue Religion, die sich von Rom bis China verbreitete. Die Lehre basiert auf einem radikalen Dualismus, dem Gegensatz von Licht (Gut) und Finsternis (Böse). Die Anhänger dieses Glaubens, die Manichäer waren in „Hörer“ und „Erleuchtete“ geteilt. Der Manichäismus beinhaltet eine heilsgeschichtliche Entwicklung: In einer vergangenen Zeit waren Gut und Böse vollständig separiert. Wir leben in der Zwischenzeit, in welcher leider der Bereich der Finsternis mit Lichtelementen vermischt ist, aber schließlich kommt eine künftige Zeit, in der sie wieder und endgültig getrennt sein werden.
„In der Gegenwart“, so heißt es bei Wikipedia über den Manichäismus,
wird der Begriff verwendet, um Ideologien zu kennzeichnen, die die Welt ohne Zwischentöne in Gut und Böse einteilen, wobei sie den Feind zum existenziell bedrohlichen, wesenhaft Bösen stilisieren. Dem liegt zumeist ein eschatologischer Zug zugrunde. Als manichäisch in diesem Sinne werden in den Sozialwissenschaften etwa christlicher Millenarismus, Antisemitismus, der Nationalsozialismus und verschiedene Verschwörungstheorien beschrieben.
Es überrascht, dass in dieser Aufzählung der Marxismus-Leninismus und seine Realisierungen fehlen. Vor allem jedoch wird es spannend, wenn die Sozialwissenschaften selbst manichäisch werden. In einem Artikel von Saba-Nur Cheema und Meron Mendel zur Gendersprache teilt sich die Welt ganz manichäisch in Progressive und Konservative. Daneben gibt es in dieser schlichten Soziologie noch „Kassiererinnen, Straßenbahnfahrer und Schreinerinnen“ – die spielen jedoch keine aktive Rolle, sondern müssen wahrscheinlich nur „abgeholt und mitgenommen“ werden.
Eine Studie der Universität Mainz hatte knapp 10.000 Beiträge des ÖRR in zwei Kategorien eingeordnet: „liberal-progressiv“ und „konservativ-autoritär“. Wir alle kennen die allgegenwärtige Einteilung nicht nur des politischen Spektrums, sondern beliebiger Analysen und Lösungsvorschläge in „links“ oder „rechts“. Links ist gut, rechts ist böse. Natürlich darf man dem Bösen keine Plattform geben, und Applaus darf nicht von der falschen Seite kommen. Eine Plattform gibt es im neuen Manichäismus allerdings auch nicht für den Applaus der Wähler, der in einer Demokratie eigentlich über allem steht. „Gegen Rechts“ lautet die Losung, mit der man sich die geistige Mühe des Diskurses erspart. Der ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende Ralf Mützenich denkt gar in eschatologischen Kategorien: Er sprach vom „Tor zur Hölle“, das im Januar 2025 geöffnet worden sei. Glücklicherweise war ich rechtzeitig zurück von einer Reise zum Darjal-Pass im Kaukasus, wo nach alten Prophezeiungen am Weltende die von Alexander dem Großen errichteten Tore geöffnet werden, um die unreinen Völker Gog und Magog auf uns loszulassen.
Bild: Darjal-Schlucht. Foto: Vyacheslav Argenberg, CC BY 4.0
Vor über 200 Jahren schrieb der Philosoph Friedrich Wilhelm Schelling über den „absoluten Dualismus von Gut und Böse“:
Diese ganze Ansicht dient zwar in der Kritik als ein mächtiges Alexander-Schwert, um überall den gordischen Knoten ohne Mühe entzweizuhauen, führt aber in die Geschichte einen durchaus illiberalen und höchst beschränkenden Gesichtspunkt ein.
Ein argumentativer Wettbewerb mit offenem Ausgang ist im dualistischen Weltbild nicht vorgesehen, erst recht kein gemeinsames Mahl oder Besäufnis mit den Horden des Bösen. In den Augen der Erleuchteten reicht schon die Bekanntschaft mit jemandem aus dem Reich der Finsternis, um auf ewig mit dem Makel der Kontaktschuld befleckt zu werden. Gottseidank wird im neuen Manichäismus diese Unreinheit nicht durch Geld übertragen. Während Judas noch konservativ Reue empfand und die dreißig Silberlinge den Hohepriestern zurückbrachte, die sie aber als „Blutgeld“ nicht haben wollten, folgen die progressiv Erleuchteten dem Prinzip „Geld stinkt nicht“ und nehmen Steuergelder und Rundfunkgebühren gnädigerweise auch von den Unreinen jenseits der Brandmauern an.
„Jazz ist nicht tot. Er riecht nur komisch“, ruft Frank Zappa auf dem legendären Live-Album „Roxy & Elsewhere“ von 1974. Offenbar ist auch der Manichäismus noch nicht tot. Aber gut riechen tut er auch nicht.
Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch. Wer das lieber auf Papier lesen mag: Axel Klopprogge hat aus seinen Texten ein Buch gemacht.

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