Nachwahlkommentierungen gehören nicht zu der Lektüre, die ich mir antue. Schon gar nicht die üblichen Erklärungen der Verlierer, dass die Niederlage nichts mit ihrer Politik zu tun habe. Dennoch stolperte ich am Morgen nach der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen bei LinkedIn über einen Post mit der Aussage:
Zu viele Leute gehen fahrlässig mit ihrem Stimmrecht um.
Gefordert wurde dann, dass sich die CDU mit Grünen und Linken verbünden müsse – mit denen, die bei den letzten Wahlen vom Wähler genau nicht gewählt wurden. Also zur Rettung der Demokratie ein Bündnis gegen das Volk, das leider seit 1953 nichts dazugelernt und erneut „das Vertrauen der Regierung verscherzt“ hat.
Ich erspare uns eine weitere Auseinandersetzung mit dem krausen Inhalt des Posts, der übrigens nach einigen Stunden spurlos verschwunden war. Ich frage mich immer, wie sich halbwegs intelligente Menschen mit einem derartigen Selbstbewusstsein über den Wählerwillen stellen können. Eigentlich sollte doch bekannt sein, dass in einer Demokratie das Volk über die Politik und nicht die politische Klasse über das Volk entscheidet. Und schon gar nicht können Wähler in ihrer großen Masse nach rechts abgewandert sein, denn wo die Masse der Wähler ist, da ist per Definition die Mitte. Wo ist eigentlich der Verfassungsschutz, wenn man ihn mal braucht?
Es wäre auch eine Frage, inwieweit das, was sich heute links nennt, überhaupt diesen Namen verdient. Gewiss haben sich Probleme und Lösungen seit den Frühzeiten der Industrialisierung verändert, aber trotzdem muss hinter der Kontinuität eines Begriffes irgendeine inhaltliche Kontinuität stehen. Sonst ist der Begriff sinnlos. Ein Grund für das erwähnte Selbstbewusstsein ist natürlich, dass die Begriffe „links“ und „rechts“ zu inhaltsleeren Synonymen für Gut und Böse geworden sind, die keiner weiteren Argumentation mehr bedürfen.
Der Schlüssel erscheint mir jedoch, dass das Etikett „links“ häufig in der Kombination „links-fortschrittlich“ auftritt – mit „rechts-konservativ“ als Gegenbegriff. Während die pausenlose Links-Rechts-Etikettierung eher eine fruchtlose Selbstbeschäftigung von Politologen und Medienleuten ist, hat der Begriff „fortschrittlich“ einen weniger harmlosen Charakter. Der Begriff vermittelt den Eindruck, als wüsste jemand, wohin die Geschichte schreitet, und als sei es deshalb automatisch besser, früher dort anzukommen, und als müssten alle Zögernden wie quengelnde Kinder oder schlecht erzogene Hunde mit Gewalt zum Ziel gezogen werden.
Ein solcher Fortschrittsbegriff beinhaltet das Bild eines festgelegten Weges zu einem festgelegten Ziel. Das Ziel selbst kann aber nicht fortschrittlich sein, sondern zum Fortschrittsbegriff gehört, dass das Ziel entweder erstrebenswert oder unausweichlich ist. Der Gebrauch des Wortes setzt auch voraus, dass der Weg festgelegt ist, denn sonst könnte man ja nicht wissen, ob eine Wandergruppe wirklich schon näher am Ziel oder nicht einfach nur vom Weg abkommen ist. Dies wiederum beinhaltet, dass man eigentlich die nächsten Stationen kennen müsste, so wie man auf einer Wanderung oder Bahnreise weiß, wo man ist und welche Schutzhütten oder Bahnhöfe als nächstes kommen. Der Begriff bedeutet schließlich, dass Fortschritt etwas Objektives ist – der Begriff machte keinen Sinn, schon gar nicht als Wertung, wenn der Weg das Ziel wäre oder wenn die Wandernden einfach selbst bestimmten, wohin sie schreiten wollten.
Der so dynamisch klingende Begriff des Fortschritts beinhaltet also wenig Dynamisches und viel Statisches, nämlich dass sowohl das Ziel als auch der Weg schon festgelegt sind und wir die vorgezeichneten Wege nur noch ablaufen können. Das führt wiederum zum Bild, dass einige auf diesem Weg weiter fortgeschritten sind, während die anderen immer noch faul auf der Ofenbank sitzen. Es ist das Konzept einer fertigen Welt, in der es wenig zu gestalten und vieles nur noch zu exekutieren gibt.
Heilsgeschichtliche Konzepte sind keine Unbekannte. Im Christentum gibt es eine Heilsgeschichte der Opfer – die Märtyrer und Verfolgten können hoffen, dass es für sie am Ende gut ausgehen wird. Seit dem 20. Jahrhundert treffen wir auf heilsgeschichtliche Konzepte, die den Täter legitimieren – was immer er tut, er steht auf der richtigen Seite der Geschichte. Der Fortschrittsbegriff lädt dazu ein, als Waffe benutzt zu werden. Der Fortschrittliche ist nicht mehr einer unter mehreren Zukunftsgestaltern, nein, er ist der Fahrdienstleiter, der darauf zu achten hat, dass die Einhaltung des Fahrplans nicht durch Fahrlässigkeit gefährdet wird. Wer will schon mit Verspätung am Zielbahnhof ankommen? Ein solches Weltbild fordert geradezu einen Wächterrat der Erleuchteten, die den Plan der Heilsgeschichte kennen und darüber wachen, dass wir im Sinne dieses Heilsplans abstimmen.
Besonders übel wird es, wenn diese paternalistische Haltung verständnisvoll daherkommt:
Wir müssen die Menschen abholen und mitnehmen.
Seltsam, dass all den sprachlich Hochsensiblen die unglaubliche Anmaßung solcher Sätze nicht auffällt. Aus hundert Jahren Erfahrung mit fortschrittslegitimierten Systemen wissen wir inzwischen, dass „Abholen und Mitnehmen“ am Ende tatsächlich Abholen und Mitnehmen meint.
Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch.
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