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Oben & Unten | 10.12.2025
Herrschaft der Handelnden
Haben die Begriffe „links“ und „rechts“ einen Kern, über den sich nachzudenken lohnte? Er könnte im Primat des wertschöpfenden Handelns liegen.
Text: Axel Klopprogge
 
 

In den Diskussionen um mein Buch „Links oder rechts oder was?“ kam die Frage auf, ob es denn das wahre „Links-Sein“ gibt. Kann sich das, was unter „links“ verstanden wird, nicht verändern? Hat nicht jede Zeit das Recht, andere Fragen und andere Antworten mit dem Begriff zu verbinden? Wer könnte sich anmaßen, eine bestimmte Deutung zur alleingültigen Sicht zu erklären?

Bildbeschreibung

Diese Zweifel sind in doppeltem Sinne berechtigt. Zum einen bestehen bestimmte Missstände etwa des Arbeitsschutzes, der Arbeitszeit oder auch des Lebensstandards in unseren Breiten nicht mehr in derselben Weise wie in der Zeit der Frühindustrialisierung. Weder in diesem noch in anderen Feldern sollte man ständig neue Elendstatbestände konstruieren, nur um das eigene Koordinatensystem von Gut und Böse über das Verfallsdatum hinaus zu retten. Zum anderen können wir auch nicht mehr naiv sein, was die dunklen Seiten linker Herrschaft betrifft. Man kann nicht ewig vom Mythos leben, dass der bisherige eben noch nicht der wahre Sozialismus gewesen sei.

Eigentlich bin ich ganz anders, ich komm nur viel zu selten dazu.

Was Udo Lindenberg in dieser intelligenten Liedzeile ironisiert, sollten wir weder den Linken noch sonst einem Ismus mit Blutspur durchgehen lassen.

Natürlich läuft man beim Dekonstruieren unausweichlich in die Falle, in der jeder Dekonstruktivismus landet: Niemand braucht den Nimbus eines Begriffes so sehr wie der, der ihn vermeintlich auseinandernehmen will. Eigentlich muss man den Kult um inhaltsleere Etikette nicht mitmachen. Eigentlich muss man sich nicht zwangsläufig in irgendeine Tradition stellen. Etwas links (oder „gegen rechts“) zu nennen, verleiht Konzepten keine höhere Güte und kann sie nicht davor bewahren, hinterfragt zu werden. Aber ist dann nicht jede Diskussion um Links oder Rechts sinnlos?

In gewisser Weise ja. Man könnte das alles für eine selbstreferentielle Schreibstubendiskussion halten. Ein lebenslanger CDUler könnte sagen:

Es ist mir völlig egal, was Ihr Linken für links haltet und ob das wirklich links ist oder nicht.

Im Prinzip hätte er damit Recht, aber nur im Prinzip. Tatsächlich ist der Begriff „links“ weit über den engen Kern „linker“ Parteien hinaus zu einer Leerformel für gut, sozial, moralisch überlegen, empathisch, gerecht und dergleichen verkommen. Joschka Fischer sprach einmal von der „Sozialdemokratisierung aller Parteien“. Oskar Lafontaine betitelte sein Buch „Mein Herz schlägt links“ – was wohl heißen soll: Ich habe ein Herz – und es schlägt auf der richtigen Seite. Niemand sagt in Abwandlung von Klaus Wowereit: „Ich bin rechts und das ist gut so.“ Diese zunehmend ins Dumpfbackige übergehende Haltung liegt bei vielen drängenden Themen wie ein Klotz im Weg. Unabhängig davon, was eine Antwort sein könnte, verhindert sie, dass Fragen überhaupt gestellt werden. Aus dieser Blockade und Selbstblockade, die weit in die Reihen der CDU hineinreicht, müssen wir raus. Etiketten wie „progressiv“ versus „konservativ“ machen die Sache keinen Deut besser. Wollen die Progressiven fortschreiten, egal wohin? Und die Konservativen alles bewahren, egal was? Oder wurde den Progressiven ein göttlicher Heilsplan offenbart, den wir jetzt abschreiten müssen?

Also lassen wir uns nicht mehr von solchen Selbstetikettierungen treiben, sondern kehren zum Ausgang zurück und fragen uns, ob es nicht einen Bedeutungskern von „links“ geben könnte, der uns etwas zu sagen hat. Wenn es das nicht gibt, dann ist ein Begriff einfach nur noch sinnlos. Wenn es jedoch einen solchen Bedeutungskern geben sollte, dann können wir messen, ob die heutigen Linken in irgendeinem konstruktiven Sinne links sind oder nur einen Begriff gekapert haben.

Bildbeschreibung Bild: Axel Klopprogge (rechts) im Gespräch mit Michael Meyen

Bei diesen Überlegungen kam mir der Begriff der „Herrschaft der Handelnden und Wertschöpfenden“ in den Sinn. Keine Angst, ich denke nicht an eine „Diktatur des Proletariats“, nicht an andere martialische Phasen, die wir angeblich im Ablauf irgendeiner Heilsgeschichte absolvieren müssen. Nichts läge mir ferner als der Traum von Arbeiterräten, aus denen sich wie in George Orwells Animal Farm flugs eine neue Herrschaft heranbildet, die umso demonstrativer ihre frisch gebügelten Blaumänner und Guerilla-Uniformen zur Schau stellt, je mehr sie in der Realität die alten Ideale verraten hat. Schon gar nicht dürfen wir die „Herrschaft der Handelnden und Wertschöpfenden“ mit der Herrschaft derjenigen verwechseln, die in Amtsstuben die Umverteilung verwalten und deshalb nicht genug davon bekommen können. Ich brauche auch keinen Arbeiter- und Bauernkitsch, genauso wenig wie Unternehmer-Verklärung. Weder Arbeiter noch Unternehmer sind bessere Menschen. Aber Arbeiter arbeiten und Unternehmer unternehmen etwas.

„Als Adam grub und Eva spann, wo war denn da der Edelmann?“ fragten die aufständischen Bauern im 16. Jahrhundert. Im alten Bild von der Pyramide der kapitalistischen Gesellschaft ruht alles auf den Schultern der Arbeitenden. „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“ lautete das sozialistische Leistungsprinzip. Oder noch härter (und entlehnt vom Apostel Paulus) im nachrevolutionären Russland:

Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.

„Herrschaft der Handelnden und Wertschöpfenden“ bedeutet die Befreiung und Wertschätzung der Arbeitenden, aber nicht die Befreiung von der Arbeit, schon gar nicht der Abschied von der Wertschätzung der Arbeit.

Anerkennung des Wertschöpfungszusammenhangs

Ohne Arbeit haben wir nichts zu essen. Wenn wir nur das erarbeiten, was wir „zum Essen“ (das heißt: zum blanken Überleben und Fortpflanzen) brauchen, sind wir wie Tiere. Wir haben keinen Gestaltungsspielraum. Erst wenn wir ein Mehrprodukt erzeugen, gewinnen wir Gestaltungsfreiheit. Erst dann haben wir die Möglichkeit, etwas zu unternehmen, was nicht sofort nützlich ist, etwas auszuprobieren, was nicht sofort Ertrag bringt. Gewiss, in einer komplexen arbeitsteiligen Wirtschaft und Gesellschaft braucht man mehr als nur den grabenden Adam und die spinnende Eva. Aber eine Gesellschaft, die nur aus Edelmännern besteht, ist weder möglich noch wünschenswert.

Niemand soll in unserem Land verhungern oder erfrieren. Mir scheint es auch richtig, dass ein wohlhabender Rechtsstaat denen, die verfolgt werden, einen sicheren Hafen bietet. Ich mag es auch nicht, solche Hilfsversprechens allein durch Missbrauchsvorwürfe in Frage zu stellen. Natürlich gibt es Missbrauch bis hin zu organisiertem Verbrechen und natürlich muss man versuchen, ihn zu verhindern. Aber Missbrauch rechtfertigt keinen Generalverdacht. Dass es Ladendiebstahl gibt, macht nicht jeden Supermarktkunden zum potenziellen Ladendieb und lässt uns auch nicht an der Sinnhaftigkeit von Geschäften zweifeln. Die Kritik muss aus anderer Richtung kommen.

Wir kennen die Klagen und Forderungen der Sozialverbände – Gerechtigkeitslücken anzuprangern und Hilfsleistungen zu erhöhen, gilt ohne weiteres Hinterfragen als sozial. Es aber nicht sozial, die Angelegenheit nur von der Seite der Bedürftigkeit oder des guten Zwecks her zu betrachten. Bevor man auf die hört, die aus der Kasse rausnehmen, sollte man an die denken, die in den Topf einzahlen, eben die Arbeitenden und Wertschöpfenden. Ich erinnere daran, dass unsere Sozialversicherungen nicht als Wohltat des Staates konzipiert waren, sondern allein von den Beiträgen der Arbeitenden finanziert werden sollten. Wer nicht eingezahlt hat, der bekommt auch nichts.

Wer so tut, als sei auf geheimnisvolle Weise immer genügend Geld im Topf, der ignoriert nicht nur das kleine Einmaleins, sondern verachtet auch den Beitrag der Arbeitenden. Ein „bedingungsloses Grundeinkommens“ ist nicht sozial, sondern es setzt das Lebenskonzept des Edelmanns fort, der glaubt, ihm stehe Einkommen ohne jede Bedingung zu. Ökonomisch gibt es ohnehin kein bedingungsloses Einkommen, weil alles Einkommen an die Bedingung der Wertschöpfung geknüpft ist. Wer aus der Kasse rausnimmt, muss diejenigen fragen, die eingezahlt haben. Der Beitrag der Arbeit wird auch verachtet, wenn man Arbeitende und Nichtarbeitende als „Unterprivilegierte“, „Geringverdiener“, „sozial Schwache“ oder „die kleinen Leute“ in einen Topf wirft. Dies gilt ebenso für die Zauberformel der „Reichensteuer“: Selbst wenn „die Reichen“ ihren ganzen Reichtum gestohlen hätten, hätten sie ihn den wertschöpfend Arbeitenden gestohlen. Wenn man also den Reichen den Reichtum wegnimmt, steht er nicht unterschiedslos „den Armen“ zu, sondern man müsste ihn an die Arbeitenden und nur an sie verteilen. Kapital ist kristallisierte Arbeit, wie Marx betonte. Die Nichtarbeitenden haben dazu nichts beigetragen.

Ich propagiere keine Hartherzigkeit, sondern empfinde es nur nicht als „links“ oder „sozial“, die Quelle jeglicher Verteilmasse zu ignorieren. Alle Konzepte, die – etwas übertrieben ausgedrückt – davon träumen, den Menschen erst alles wegzunehmen, um es dann als Gnadengeschenk des Staates nach irgendeiner Formel zurückzugeben, sind das Gegenteil von einer Herrschaft der Handelnden und Wertschöpfenden.

Einheit von Einfluss und Verantwortung

Beim arbeitsteiligen Zusammenwirken kann nicht jeder machen, was er will. Die Arbeiter müssen den linken Flügel eines Flugzeuges so bauen, dass er an den Rumpf passt und umgekehrt. Und vielleicht muss man das aus irgendeinem Grund nachts um drei Uhr machen. Eine Arbeit, die niemals solchen Sachzwängen unterläge, wäre keine Arbeit, weil sie sich niemals mit der Realität anlegte. Die Herrschaftsstrukturen, die sich in der Arbeit ergeben, so verbesserungswürdig sie im Einzelnen sein mögen, haben nichts mit unserem Thema zu tun. Entgegen allen romantischen Ideen hierarchiefreier Zusammenarbeit gibt es eine Hierarchie der Dinge, die sich auch in der Organisation widerspiegeln wird. Der Chef (so sehr man sich im Einzelnen über ihn ärgern mag) steht nicht zwangsläufig im Gegensatz zur „Herrschaft der Handelnden“. Er wird eher Teil der Handelnden sein – zum Beispiel als derjenige, der es organisiert, dass Flügel und Rumpf zusammenpassen. Alles andere führt schnell in nutzlose Hahnenkämpfe zwischen den Partnern gesellschaftlicher Arbeitsteilung.

Ein Verstoß gegen die Herrschaft der Handelnden sind dagegen die Funktionen, die nur von außen auf den Wertschöpfungsvorgang blicken, ihn beeinflussen wollen, ohne zu ihm beizutragen oder nachher für das Ergebnis geradezustehen. Oder positiv ausgedrückt: „Herrschaft der Handelnden und Wertschöpfenden“ bedeutet die Einheit von Einfluss und Verantwortung. Wer handelt, der muss auch das Ergebnis verantworten. Wer für das Ergebnis verantwortlich gemacht wird, muss es auch beeinflussen können.

Vor diesem Hintergrund sollten wir den Begriff der Ausbeutung überdenken. Aus vielen Gesprächen hat sich bei mir der Eindruck verfestigt, dass sich – jenseits von allem Schimpfen im Alltag – zwischen „Unternehmern“ und „Arbeitern“ (ich entschuldige mich für diese holzschnittartigen Begriffe) längst eine Seelenverwandtschaft der Handelnden herausgebildet hat. Und ein wachsender gemeinsamer Groll gegen eine wachsende Schicht, die das Handeln nur von außen beobachtet und bewertet, ohne sich durch eigenes Handeln zu exponieren.

Schutz des Gestaltungsraumes

Gleichzeitig möchte ich den Gegenpol betonen: Zwar kann man in der Arbeit nicht einfach machen, was man will – das wäre gar keine Arbeit. Aber eine Arbeit, die keinerlei Gestaltung- und Verantwortungsspielraum hätte, wäre keine menschliche, keine menschenwürdige Arbeit. Nicht, dass Arbeit anstrengend und schmutzig ist oder nachts bei Wind und Wetter durchgeführt werden muss, macht sie menschenunwürdig, aber sehr wohl, wenn sie einen Menschen dauerhaft zum vollständig willenlosen und ferngesteuerten Objekt degradierte. Die Digitalisierung ist hier eine große Gefahr – übrigens bis hinauf in höchste Ränge: „Data Driven Decisions“ oder „Prescriptive Analytics“ sind auf Vorstandsebene das Gegenstück zur Virtual-Reality-Brille für Lagerarbeiter. Aber auch der ganze Ansatz von „objektiv = wahr / subjektiv = willkürlich“ zum Beispiel in der Personalauswahl gehört hierhin: Versteht man eine Organisation als Maschine, dann ist es logisch, Mitarbeiter nur wie Objekte nach festgelegten objektiven Kriterien auszusuchen. In der Herrschaft der Handelnden versteht man Unternehmen dagegen als dynamische Handlungsgemeinschaft.

„Herrschaft der Handelnden und Wertschöpfenden“ bezeichnet keine paradiesische Ordnung, in der es keine Probleme und keine gesellschaftlichen Widersprüche mehr gibt. Das wäre eine Gesellschaft, in der es nichts mehr zu handeln gäbe, in der andere darüber herrschten, in welchem (natürlich immer gutgemeinten) Rahmen man handeln dürfte – genau das macht alle Utopien und Paradieskonzeptionen zu Dystopien. Die „Herrschaft der Handelnden und Wettschöpfenden“ sorgt umgekehrt für herrschaftsfreie Handlungsräume. Sie erlaubt und beschützt, dass überhaupt etwas Neues gedacht und geschaffen werden kann – einschließlich aller daraus entstehenden Risiken, Konflikte, Reibungen und Umbrüche. Damit propagiert sie auch die Offenheit und Gestaltbarkeit der Zukunft.

Ich rede dabei nicht von einer fernen und imaginären Zukunft. Es ist machbar: In meiner beruflichen Laufbahn habe ich schon vor Jahrzehnten Unternehmenskulturen kennengelernt, in denen derjenige, der eine Idee hatte und sich für ihre Realisierung einsetzte, die Beweislast auf seiner Seite hatte. Und ich habe andere Organisationen erlebt, in denen es umgekehrt war und Mitarbeitern mit Ideen und Initiativen misstrauisch begegnet wurde. Man sollte sich von einer konsequentialistischen Ethik verabschieden, die solcher Misstrauenskultur philosophische Weihen verleiht.

Arbeit und Freiheit

Ergebnisgleichheit ist kein Kennzeichen der Herrschaft der Handelnden. Im Gegenteil: Wer Chancengleichheit oder Chancengerechtigkeit an der Ergebnisgleichheit messen will, der setzt normativ voraus, dass alle Menschen gleich sind, nur in vorgegebenem Rahmen denken dürfen und in diesem Rahmen nur ausführende Tätigkeiten vollziehen. Wer Ergebnisgleichheit zum Gradmesser für Chancengleichheit macht, der duldet keine Vielfalt und will die Gestaltungsfreiheit, um die es doch in der „Herrschaft der Handelnden und Wertschöpfenden“ geht, gleich wieder wegnehmen.

Aber der Zusammenhang zwischen Arbeit und Freiheit, den ich gesamtgesellschaftlich beschreibe, gilt auch auf individueller Ebene. Der Zusammenhang zwischen Arbeit und Freiheit sollte für den Einzelnen sichtbar sein. Von dem Mehrprodukt, das ich mit meiner Arbeit erzeuge, sollte so viel bei mir als Arbeitendem hängenbleiben, dass ich nicht ständig meine Seele verkaufen muss, um zu überleben. Der Arbeitende sollte sich „Polster“ anlegen können, die ihm eine gewisse Unabhängigkeit geben – vielleicht ganz platt Eigentum bilden können.

Vor diesem Hintergrund verstehe ich nicht, warum ausgerechnet Vererbung von vermeintlich linker Seite unter latenten Verdacht gestellt und allenfalls die Gnade von Freibeträgen gewährt wird. „Erbschaftssteuer“ ist nicht nur fragwürdig, weil das Einkommen und alle Erträge daraus schon versteuert wurden oder werden, sondern einfach, weil die Akkumulation von Wissen und Kapital durch „unverdiente“ Weitergabe ein wichtiges Element des Fortschritts oder der gesteigerten Handlungsfreiheit ist.

Ohne die Möglichkeit der Vererbung müssten wir immer wieder von vorne anfangen. Das gilt für die gesellschaftlich-volkswirtschaftliche wie für die individuell-familiäre Ebene. Wir könnten nie etwas Größeres schaffen als das, was ein Einzelner in seinem Leben mit eigenen Händen schaffen kann. Es gäbe weder ein „Unsere Kinder sollen es besser haben“ noch die Fähigkeit zu einem technischen Fortschritt, der mehrere Generationen überschreitet. Was ist daran „links“ oder „fortschrittlich“, hier von „unverdientem Einkommen“ zu sprechen und dieses steuerlich zu bestrafen oder zu melken? Die Stigmatisierung der „unverdienten Weitergabe“ führte ja genau wieder zum tierischen Urzustand zurück, dass man nur für den Konsum arbeitet und deshalb keinen Gestaltungsraum hat. Man müsste dann logischerweise auch Bücher besteuern, denn sie ermöglichen es, sich in ein paar Stunden „unverdient“ Wissen anzueignen, um das andere vielleicht Jahrhunderte gerungen haben. Nebenbei ist es auch widersprüchlich, beim Erben das „unverdiente Erhalten“ zu diskreditieren, während es beim „bedingungslosen Grundeinkommen“ der Gipfel des Sozialen sein soll.

Befähigung zur Herrschaft der Handelnden

Mir kam irgendwann der Gedanke in den Sinn, dass jeder selbständig tätig gewesen sein sollte, bevor er sich in eine abhängige Beschäftigung begibt. Ich weiß, dass das nicht realisierbar ist, aber die Erfahrung, dass es ein Leben außerhalb des goldenen Käfigs großer und guter Arbeitgeber oder gar des öffentlichen Dienstes gibt, könnte ein Beitrag zur inneren Unabhängigkeit sein. Wenn man sein eigenes Geschäft eröffnet und, ohne dass irgendjemand danach verlangt hat, seine Leistungen in ein schwarzes Loch anbietet, dann den ersten Kunden gewinnt, seine erste Rechnung schreibt und das erste Geld auf dem Geschäftskonto eingeht – das ist ein großartiges Wirksamkeitserlebnis. Vielleicht gibt es doch kleine Möglichkeiten zu einer solchen Erfahrung in jungen Jahren.

Letztlich geht es darum, die Welt in allen ihren Aspekten nicht einfach willenlos als gegeben und unveränderbar hinzunehmen. Wenn das nicht zum Kernbestand linker Perspektive gehört, was dann? Genau an dieser Stelle wird die Unsinnigkeit von „fortschrittlich“ und „konservativ“ als Pauschaletiketten deutlich. Fortschritt ist eben nicht das Abarbeiten eines festgelegten Heilsplans, sondern das Gestalten einer offenen Zukunft. Dabei gibt es eben kein Spielbein ohne Standbein. Wir können nur deshalb Neues schaffen, weil sich nicht alles gleichzeitig verändert.

Die Fähigkeit zu einem solchen selbstbestimmten, ergebnisoffenen und mündigen Verständnis von Fortschritt ist ständig bedroht – durch politische Systeme, durch Prägungskonzepte in Psychologie oder Soziologie, durch angebliche Megatrends oder Bewegungsgesetze der Geschichte, durch die Behauptung, unsere Welt sei so schnelllebig, dass man nicht mehr gestalten, sondern sich nur noch anpassen könne, durch unkritischen Umgang mit Künstlicher Intelligenz, durch eine Pädagogik, die die Menschen vor dem Leben beschützen will und viele verführerische Angebote mehr. Die meisten davon kommen im Gewand der guten Absicht und Menschheitsbeglückung daher. Aber alle Zukunftsmodelle, in denen andere vorab festgelegt haben, worin unser Glück besteht, haben mit der Herrschaft der Handelnden und Wertschöpfenden nichts zu tun.

Vielleicht gehört zu diesem Zusammenhang von Arbeit und Freiheit ganz handfest der Erwerb bestimmter Basisfertigkeiten. Dass ich kochen, waschen, bügeln, putzen, Gemüse anbauen, ein Fahrrad reparieren, nähen, stricken oder mich auch ohne GPS orientieren kann, verschafft mir eine gewisse Unabhängigkeit: Im Notfall könnte ich mir auch selbst helfen. Wenn ich zehn solcher Basisfertigkeiten gut beherrsche, gibt mir das ein anderes Verhältnis auch zu hundert anderen Basisfertigkeiten, die ich aus Zeitmangel nur unvollkommen lernen kann. Und dann weiß ich obendrein, dass auch hinter den perfekten Black Boxes von Auto bis Computer und KI, die wir gar nicht mehr verstehen, am Ende auch Handwerk steht. Je mehr ich über Bildung nachdenke, desto wichtiger erscheint mir dieser Gedanke als Beitrag zur Mündigkeit. Sonst landen wir wieder in einem animistischen Verhältnis zur Welt – nur mit KI-Assistenten statt Waldgeistern.

Arbeit als Teil des Lebens

2024 forderte die IG Metall für die Metallindustrie den Einstieg in weitere Arbeitszeitverkürzung. Was ist das Ziel? Was die Begründung? In der Argumentation wird nicht einmal der Versuch gemacht, es als Ausgleich für eine Arbeitsverdichtung oder ähnliches zu begründen. Natürlich ist eine bestimmte Arbeitszeit nicht in Stein gemeißelt. Aber die Begründung ist deprimierend: Eine Stunde weniger Arbeit ist eine Stunde mehr Leben.

Wie beim sogenannten „bedingungslosen Grundeinkommen“ verlassen wir an dieser Stelle den Kernbereich dessen, was in einem positiven Sinne „links“ sein könnte. Wir verkünden damit, dass Arbeit nicht wichtig sei, weder für das Einkommen noch für das Leben. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Menschen, die arbeiten, nicht wichtig sind. Da sie aber notwendig sind, bedeutet es, dass ihre Wertschöpfung als Grundlage von allem ignoriert werden und unsichtbar bleiben muss. Eine solche Haltung gleicht dem Edelmann, der die Armen bemitleidet und ihnen Almosen gibt, aber die Rolle von Arbeit geflissentlich übersieht.

Demgegenüber muss gelten, dass alle Arbeit, die gut gemacht wird, ihre Würde besitzt und sichtbar sein muss. Geistige Arbeit ist nicht per se höherwertiger als körperliche Arbeit. Büroarbeit ist nicht zwangsläufig geistiger als körperlich-handwerkliche Arbeit. Wir müssen nicht den Heizer auf der Elektrolok durchschleppen, nicht den Strukturwandel einschließlich des Verschwindens von Berufen und Tätigkeiten stigmatisieren. Aber solange eine Tätigkeit notwendig ist, ist sie auch vorzeigbar. Und sie ist Teil des Lebens, oder wie Friedrich Engels sagte, das, was uns aus Affen zu Menschen gemacht hat.

Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch. Wer das lieber auf Papier lesen mag: Axel Klopprogge hat aus seinen Texten ein Buch gemacht.

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Bildquellen: Tierarzt Dr. Robert Sturzenegger beim Schneeräumen in Trogen. Foto: Herbert Maeder, Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden, CC BY-SA 4.0