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Oben & Unten | 16.04.2025
Helden
Eine Hommage an die Helden des Alltags, die die Welt verändern, weil sie den Umständen trotzen und ihr Verhalten nicht mit den Umständen erklären.
Text: Axel Klopprogge
 
 

Vor einigen Jahren wagten wir uns in Rom auf die Tiber-Insel – ein Touristenmagnet mit Millionen Besuchern. Natürlich erwarteten uns alle schrecklichen Angebote des Massentourismus, und normalerweise wäre dies der letzte Ort auf Erden, an dem wir essen gehen wollten. Aber im Vorbeigehen entdeckten wir zufällig das Restaurant „Sora Lella“, direkt neben dem Ponte Fabricio. Durch die Fenster sah es in sympathischer Weise altmodisch aus. Also machten wir gegen alle Erfahrung einen Versuch. Und siehe da, das Tagesmenü war hervorragend zu einem vernünftigen Preis, gute italienische Hausmannskost ohne Firlefanz. Während des Essens fiel uns auf, dass der Nachbartisch dieselben Gerichte bekam, aber immer die doppelten Portionen. Obwohl unsere Portionen wirklich groß genug waren, fragten wir interessehalber nach. Der Kellner hatte verstanden, dass wir uns zu zweit ein Menu teilen wollten. Von da an bekamen wir die weiteren Gänge in der vollen Menge, aber auf der Rechnung wurde trotzdem nur ein Menü berechnet. Natürlich bestanden wir darauf, voll zu bezahlen und kamen darüber mit dem Besitzer ins Gespräch. Er erzählte stolz, dass das Restaurant seit den 1940er Jahren in dritter Generation betrieben werde und seitdem immer auf beste Qualität achte.

In meiner Zeit als MAN-Personalchef hatte ich zur Weihnachtsfeier der Konzernzentrale die russische Pianistin Masha Dimitrieva eingeladen. Als ich vor der Veranstaltung in den Saal kam, waren die Tische festlich gedeckt und die ersten Gäste bereits da, aber statt des Flügels stand dort ein abgewirtschaftetes Klavier wie bei Tante Helga. Der zuständigen Abteilung war es zu aufwendig erschienen, den Flügel aus dem Erdgeschoss hinaufzubefördern. Ich wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken, konnte aber nichts mehr ändern. Doch nun geschah das, weshalb ich die Episode hier erzähle: Die Pianistin im elegantesten Abendkleid ließ sich nichts anmerken. Sie spielte meisterhaft und verwandelte das schäbige Klavier mit ihrem würdevollen Auftreten in einen Steinway-Flügel. Natürlich habe ich mich entschuldigt und sie gleich für das nächste Jahr eingeladen – diesmal mit einem richtigen Flügel. Sie nahm das Ganze sportlich und erzählte mir von der harten Ausbildung am Moskauer Konservatorium und davon, dass man dort oft genug mit eiskalten Fingern spielte, um jede Gelegenheit zum Üben zu nutzen.

Keine Angst, ich erzähle keine weiteren Urlaubs- und Konzertanekdoten. Mir geht es um Menschen, die gegen widrige Umstände an ihren Werten und ihrer Würde festhalten, gegen ein erbärmliches Klavier, gegen die Versuchung durch den schnellen Euro des Touristen, der sowieso nie mehr wieder kommt. Für mich sind solche Menschen wirkliche Helden. Ich habe sie in den unterschiedlichsten Bereichen kennengelernt. Die Briefträgerin, die auch bei miesem Wetter fröhlich die Extrameile geht. Der Gemüsehändler, auf dessen Rat man sich verlassen kann, weil er nicht einfach das empfiehlt, was wegmuss. Der Handwerker, der flucht, aber gegen alle Widerstände das Problem löst. Menschen, die auch in kleine Details alle Liebe investieren, als hinge davon das Schicksal der Welt ab. Und natürlich viele Kollegen in den Unternehmen und Projekten, in denen ich gearbeitet habe.

Gerade in Unternehmen werden diese Menschen oft als naiv angesehen, aber tatsächlich sind es diese Naiven, deren Projekte nachher in der Realität existieren, während die Nicht-Naiven immer noch mit ihrem Ego und mit ihren superschlauen Schachzügen beschäftigt sind. In Unternehmen bilden diese Menschen eine gute Mafia, ohne die das Unternehmen nicht überleben würde. Und sie haben Macht, denn die Arbeit fließt immer dorthin, wo sie erledigt wird. Die Superschlauen brauchen die Naiven, aber die Naiven brauchen die Superschlauen nicht. George Bernard Shaw sagte: „Der vernünftige Mensch passt sich der Welt an; der unvernünftige besteht auf dem Versuch, die Welt sich anzupassen. Deshalb hängt aller Fortschritt vom unvernünftigen Menschen ab.“

Vor einigen Jahren musste ich mich auf einen Vortrag zu „Mut im Management“ vorbereiten – seinerzeit ein Modethema. Es war bezeichnend, wie zahlreiche Artikel die eigentliche Frage umschifften. Sie wollten den Preis des Mutes – ohne Wagnis und Blessuren. Am Ende lief es immer auf das ebenso vollmundige wie inhaltsleere Gelöbnis hinaus: „Wenn es keinen Mut bräuchte, wäre ich bestimmt ganz mutig.“ Solche Helden jedoch braucht niemand. Mut beginnt dort, wo man sein eigenes Verhalten nicht von den Umständen abhängig macht und nicht mit den Umständen erklärt. Karl Marx schrieb: „Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss.“ Und er fügt hinzu: „Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukommt, ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muss der Mensch die Wahrheit, das heißt die Wirklichkeit und Macht, die Diesseitigkeit seines Denkens beweisen.“

Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Seine Kolumne "Oben & Unten" erscheint jeden zweiten Mittwoch.

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