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Meyen am Tresen | 23.11.2024
Gut gegen böse
Die Digitallogik hat die Illusion von Gesellschaft und Gemeinschaft zerstört. Drei Beispiele aus Hollywood, Journalismus und Wissenschaft.
Text: Michael Meyen
 
 

Das war keine gute Woche. Vielleicht hätte ich nicht ins Kino gehen sollen. Gladiator II. Schon die Zahl im Titel ruft: Achtung! Aufgussgefahr. Eine dünne Suppe sozusagen. Es ist dann noch viel schlimmer gewesen. Figuren, für die es keine Worte gibt, und eine Handlung, die nur in einem einzigen Universum verstanden werden kann – in einer Welt, in der es kein Abwägen mehr gibt, keinen Zweifel, keine Mitte. In einer solchen Welt kann man seine Mutter heute mit Gebrüll aus der Zelle werfen, wenn man sie nach Jahren wiedersieht, und bei der nächsten Begegnung vor lauter Liebe auf die Knie fallen. In einer solchen Welt kann man auch voller Hass auf Rache sinnen, einen Helden zur Zielscheibe machen und diesen dann doch verschonen und vor Trauer fast vergehen, wenn andere den Job erledigen.

Genug mit den Details. Auch nichts zu den Schauspielern, bei denen selbst ein Robert Habeck keinen Vergleich scheuen muss. Wobei: Connie Nielsen natürlich, der lebende Beweis, dass Frauen in Schönheit älter werden können und zugleich eine Erinnerung an die Zeit vor dem Internet, an eine Zeit, in der das Kino komplexe Geschichten erzählen und Figuren wie den Gladiator Maximus erfinden konnte. Vorbei. Eins und null und nichts dazwischen. Lasst es krachen, Leute, sonst ziehen die Zuschauer ihr Handy aus dem Popcorn-Becher.

Eingeleitet hat meine Woche Tanjev Schultz, einst bei der Süddeutschen und jetzt Professorenkollege in Mainz, dort, wo einst Hans Mathias Kepplinger gelehrt hat, Erfinder des Journalismusetiketts „angepasste Außenseiter“. Sein Erbe Tanjev Schultz rät den Redaktionen nun, sich von der Idee Neutralität genauso zu verabschieden wie vom Anspruch Ausgewogenheit, obwohl beides ja noch im Medienstaatsvertrag steht (in Paragraf 26, Neutralität dort als „Überparteilichkeit“):

Neutral würde bedeuten, die Welt so abzubilden, wie sie ist. Das ist schon deshalb unmöglich, weil Journalismus auswählt. Was ist wert, berichtet zu werden? Hinter jeder Auswahl verbergen sich Wertentscheidungen. Neutralität zu fordern, kann zudem bedeuten, dass sämtliche Positionen zu einem Thema ohne Wertung und Gewichtung wiedergegeben werden, zum Beispiel Positionen der AfD so wie die aller anderen Parteien. Die Aufgabe von Journalismus sollte es aber sein, auch zu prüfen, ob etwas stimmt oder nicht, ob behauptete Fakten zutreffen und welche Effekte politisches Handeln hat. Journalismus ist nicht nur ein Mikrofon, das andere benutzen. Deshalb wäre es auch verfehlt, „Ausgewogenheit“ in dem Sinne zu verlangen, dass alle gleich viel Zeit, Platz, Kritik und Lob bekommen. Stellen wir uns einen Schiedsrichter vor, der ja auch unparteiisch sein soll. Gibt er einem Team eine gelbe Karte, tut er das nicht automatisch auch beim anderen Team, nur, um ausgewogen zu handeln. Er folgt bestimmten Regeln. Übertragen auf den Journalismus heißt das zum Beispiel, dass souveräne Redaktionen Donald Trump völlig zu Recht rote Karten zeigen.

Nun ja. „Souveräne Redaktionen“ sehen die Welt also am besten so wie Tanjev Schultz. Rot für Trump. Und die AfD darf gar nicht erst mitspielen, weil sie ohnehin andauernd lügt. Ich habe schon mehrfach darauf hingewiesen, dass sich der Journalismus gerade häutet und an einer neuen Erzählung bastelt. Weg von der „vierten Gewalt“, weg auch von Unparteilichkeit, Neutralität und Ausgewogenheit – hin zu einem Wachhund der Macht unter dem Deckmantel von alternativlosen „Wahrheiten“, die geradezu nach Parteilichkeit und Aktivismus rufen und selbstredend auch nach Zensur, weil sonst die Welt vor die Hunde geht. Diese neue Haut schimmert nicht nur bei Vordenkern wie Yuval Noah Harari durch, der ganz unverblümt schreibt, dass Information dafür da ist, „um Ordnung zu schaffen und die Menschen zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen“. Auch Harari-Miniaturausgaben wie Tilo Jung oder Carolin Emcke befeuern diesen Geist. Sie sagt: Formate unter dem Titel „Pro und Kontra“ sind des Teufels. Und er sagt: Journalisten sollen Leute „darüber informieren, was sie wissen sollen und nicht, was sie wissen wollen“. Zusammen ergibt das einen Chor, in den nun auch die Wissenschaft einstimmt, hier in Person von Tanjev Schultz, dirigiert vom Portal Übermedien. Nomen est omen.

Falls ich noch Zweifel gehabt haben sollte: Zum Glück gibt es die Publizistik, einst Zentralorgan der deutschen Propagandaforschung, die sich als Kommunikations-, Publizistik- und Journalistikwissenschaft tarnt, den Kollegen inzwischen aber eher als Ablage dient für all das, was die Topzeitschriften made in USA nicht nehmen können oder wollen. Normalerweise ignoriere ich dieses Blatt, aber letztlich ist das wie beim zweiten Gladiator. Die alten Zeiten. Wer weiß. Vielleicht wird Russell Crowe doch noch einmal schlank, stark und schön. Und vielleicht steht in der Publizistik etwas, was mir weiterhilft. Christoph Neuberger und Ralf Hohlfeld, verlinkt über den Praxisstudiengang an der Katholischen Universität Eichstätt und inzwischen auf Professuren in Berlin und Passau, schreiben in der neuen Ausgabe über den „russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine“ und die deutschen Medien. Eine Meta-Studie, also eine Studie über Studien. Es genügt eigentlich, den Untertitel zu lesen: „Kritik des Maßstabs ‚ausgewogene Bewertung‘ in Inhaltsanalysen“. Das Phänomen „false balance“, so lerne ich, gibt es nicht nur im Journalismus, sondern auch in der Wissenschaft. Es gehe nicht an, „eine unhaltbare Minderheitenposition“ nur deshalb zu veröffentlichen, um irgendeiner „Ausgewogenheitsnorm zu entsprechen“. Und es sei auch nicht nötig, „in einem Konflikt die Anteile positiver und negativer Bewertungen vollständig“ auszubalancieren. Neutralität? „Unangemessen“, vor allem im Kriegsfall und nach der "Zeitenwende". Wie gesagt: Das war keine gute Woche.

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