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Rezension | 02.10.2024
Neue Mythen von Harari
"Nexus" ist sofort oben eingestiegen in die Bestsellerlisten. Das Buch sagt, wie sich unsere Welt ändern soll, und ist ein Muss, wenn man das verhindern will.
Text: Michael Meyen
 
 

Vergesst dieses Buch, sagt Tobias Stosiek im SWR. Vergesst diesen Autor. Er sagt das nicht ganz so hart, aber die Überschrift ist eindeutig: „Triviale Thesen, vage Begriffe: Darum enttäuscht der neue Harari“. In Kurzform: Wissen wir doch alles schon. Kein „blindes Technologievertrauen“. Niemals. Lasst uns die Plattformen kontrollieren, diesen „Umschlagplatz für Hass und Verschwörungstheorien“. Dafür müssen wir uns nicht durch 600 Seiten quälen und irgendeinem „Starintellektuellen“ zuhören.

Muss man nicht, wenn man für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk arbeitet. Dann ist die Richtung klar. Der Feind kommt aus dem Internet und muss bekämpft werden, ganz egal, ob er sich nun Elon Musk nennt, Pawel Durow oder KI. Unsere Demokratie, Sie wissen schon. Jemand wie Tobias Stosiek liest vor dem Schlafengehen lieber etwas anderes. Seinen Harari hat er schon verinnerlicht.

Zugegeben: Ich hätte „Nexus“ auch nicht gebraucht. Aber es war Urlaub und der Stapel im Buchladen am Flughafen riesig. In Tirana das gleiche Bild, jetzt nur auf Albanisch. Harari ist überall – und das auch noch gleichzeitig. Auf den letzten Seiten dankt er nicht nur seinen „Verlegerinnen und Übersetzern in aller Welt“, sondern auch den vielen guten Geistern von Sapienship, der Firma, die das Übel stoppen soll und dafür auch „das Branding dieses Buches“ sowie die PR-Kampagne übernommen hat. Disruptive Technologien, ökologischer Kollaps, globaler Krieg. Unter dem machen es Harari und sein Anhang nicht. Da bleibt kein Raum, um den Sponsoren zu danken. Auf der Webseite erfährt man nur, dass Harari Sapienship 2019 mit Itzik Yahav gegründet hat, seinem Mann, der gleichzeitig sein Manager ist und dort als Präsident firmiert. Im April 2020 hat die Firma eine Million Dollar an die WHO überwiesen. Die Jerusalem Post hat die entsprechende Meldung mit einem Seitenhieb auf Donald Trump ergänzt und mit dem Hinweis, dass von der Gates-Stiftung sogar 150 Millionen Dollar an die WHO gehen sollen. Damals durfte noch Melinda mit Reuters telefonieren und bis nach Israel rufen, dass die „Pandemie“ eine „weltweit koordinierte Reaktion“ erfordere.

Im Prinzip könnte ich es dabei bewenden lassen und das Wort „Pandemie“ einfach durch „KI“ ersetzen. Genau darauf läuft Hararis neues Buch hinaus. Da draußen ist eine Gefahr, die uns überrollen wird, wenn wir nicht aufpassen. Diesmal keine Viren, nein. Wobei: wer weiß. Das neue Computernetzwerk könnte sich Viren ausdenken und in die Welt setzen, die uns ausrotten. Ebola plus Corona plus Aids. Tödlich, ansteckend, langsam wachsend. Und das ist nur einer der vielen Tode, die uns bald drohen. Das Computernetzwerk, sagt Harari, ist ganz anders als wir, aber trotzdem fehlbar und außerdem gerade dabei, „die Welt in zwei digitale Imperien“ zu spalten. Hier der Westen und dort die Chinesen, getrennt nicht durch einen eisernen Vorgang wie einst im Kalten Krieg, sondern durch einen „Silicon Curtain“ (S. 513), der ganz buchstäblich jeden Kontakt zur anderen Seite abschneidet, weil nichts mehr kompatibel sein wird. Andere Software auf dem Smartphone, andere Algorithmen und damit ein völlig anderes Leben, weil alles, was uns gezeigt wird, längst von den Daten abhängt, die wir produzieren. Yuval Noah Harari sieht uns in unterschiedliche „Informationskokons“ marschieren und sagt voraus, dass damit die „Vorstellung von einer einzigen gemeinsamen menschlichen Realität“ an ihr Ende kommt (S. 516). Er sagt auch: Das wollen wir doch nicht. Lasst uns also zusammenarbeiten. Es kann doch nicht so schwer sein, sich „auf ein paar weltweit gültige Regeln“ zu verpflichten. Und es liegt doch auf der Hand, „dass es manchmal – nicht immer – notwendig ist, die langfristigen Interessen aller Menschen über die kurzfristigen einiger weniger zu stellen“ (S. 529).

Ich liebe solche Sätze – erst recht, wenn sie wie bei Harari mit Analogien aus dem Fußball verknüpft werden. Bei jeder WM, sagt uns dieser Historiker, würden sich doch auch alle Nationalmannschaften darauf einigen, „keine leistungssteigernden Mittel einzunehmen“ (S. 529). Selten so gelacht. Yuval Noah Harari will nichts wissen von Doping und all den kleinen schmutzigen Tricks. Bei ihm gibt es dann folgerichtig keine Macht und keine Geheimdienste und auch keine Allianzen zwischen Staaten, großen Unternehmen und anderen Gewalten. Bei Harari ist die Welt so, wie sie im Buche steht – in den Lehrbüchern für die erste Klasse oder meinetwegen auch für die fünfte. Friede, Freude, Eierkuchen. Putin, okay. Querdenker und Leugner jeder Art. Wissenschaftler wie der Primatenforscher Frans de Waal, der genau wie Marxisten und Populisten behauptet, dass Menschen wie Staaten „einzig und allein an Macht interessiert“ seien und „diese unveränderliche Realität hinter einer dünnen und wandelbaren Fassade von Mythen und Ritualen“ verbergen würden (S. 531). Geht solchen Rattenfängern nicht auf den Leim, Leute. Folgt lieber mir, dem Günstling des Weltwirtschaftsforums und dem Propheten von Trans- und Posthumanismus.

Yuval Noah Harari lesen, heißt auch und vielleicht in erster Linie: Definitionsmacht studieren. Wie sehen die Mythen aus, die heute und morgen verschleiern sollen, wem die Welt gehört? Was wird aufgebauscht und was wird weggelassen? Was lesen wir in der nächsten Zeitung? Punkt eins: Information ist keineswegs ein „Versuch, die Wirklichkeit darzustellen“. Wer das glaubt, ist bestenfalls naiv. Wenn ich eine PDF hätte, könnte ich nachzählen, wie oft dieses Wort vorkommt. So oder so: Harari ist einen Schritt weiter und würde nie auf die Idee kommen, in der Tagesschau so etwas wie Wahrheit zu vermuten. Information, so lernen wir bei ihm, ist dafür da, „um Ordnung zu schaffen und die Menschen zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen“ (S. 359). Eigentlich wussten wir das natürlich schon und hätten dafür auch nicht die Beispiele aus der Sowjetunion gebraucht, frei nach dem Motto: Wer zuerst aufhört, für Stalin zu klatschen, der landet im Gulag. Ich zitiere in jedem Vortrag Ulrich Beck und sein Konzept der „Definitionsmachtverhältnisse“. Herrschaft ist da, wo Wirklichkeit definiert wird. Ordnung schaffen, sagt Yuval Noah Harari, und den Menschen nicht den Kopf verdrehen mit irgendwelchen Wahrheitsversprechen. Wenn wir nicht über Nordstream reden wollen, dann habt ihr da draußen zu diesem Thema gefälligst auch zu schweigen.

Das führt direkt zum zweiten Punkt, weil mit Hararis Informationsbegriff eine Absage an die Idee verbunden ist, dass wir alle mitzureden haben, wenn es um unsere „eigenen Lebensverhältnisse“ geht. Das Wort „Demokratie“ zieht sich zwar wie ein roter Faden durch den Wälzer „Nexus“ und wird auch hier und dort mit der Bedingung verknüpft, „eine freie öffentliche Diskussion über wichtige Themen zu ermöglichen“ (S. 469), aber zum einen schränkt Harari dies gleich doppelt ein und zum anderen sieht sein Lackmustest ganz anders aus. Eine Einschränkung habe ich schon genannt. Die „langfristigen Interessen aller Menschen“, festgelegt sicher von den Hararis dieser Welt, hin und wieder wenigstens. Die andere: „ein Mindestmaß an sozialer Ordnung und Vertrauen in die Institutionen“: „Das freie Gespräch darf nicht in Anarchie abgleiten“ (S. 469). Wie diese Demokratie aussehen wird, hat man da schon gelesen. „Das erste Grundprinzip ist Fürsorge“ (S. 429). Mitmachen, sich einbringen, streiten, lernen, mal gewinnen und mal verlieren? Nicht doch. Den Glauben an die gütige Hand des allwissenden und weisen Vaters kennen wir schon von Klaus Schwab, 2020 unter dem Titel „The Great Reset“ unters Volk gebracht. Wie der Herr, so’s Gescherr und damit auch der Diskurs der Macht, der sich längst verabschiedet hat von der Idee der Freien und Gleichen, die samt und sonders anzuhören und ernstzunehmen sind. Wer Tech-Unternehmer auf eine Stufe stellt mit sowjetischen Politbürokraten, muss keinen Volkszorn mehr fürchten, wenn er die Bösewichte an die Kandarre nimmt.

Ich will diesen Text nicht in die Länge ziehen wie Yuval Noah Harari seine Bücher, obwohl eine Menge zu sagen wäre gerade da, wo es in die Geschichte geht und damit in den Bereich, für den der Autor qua Ausbildung Expertise reklamieren darf. Aus den Hexenjagden der frühen Neuzeit macht Harari eine Folge des Buchdrucks. Er schränkt das etwas ein, natürlich. Für ein wenig Relativierung ist bei ihm immer Platz. Letztlich aber sollen wir hier lernen, dass zu viel Information zum Fluch werden kann. Dafür wird die Kirche genauso ausgeblendet wie alle Institutionen, die den Hexenwahnsinn schürten. Ein paar Jahrhunderte später heißt die Leerstelle Monopolkapital. Wie kann ein Historiker allen Ernstes erzählen, die Weimarer Republik wäre abgewählt worden? Weiß Harari nicht, wer im November 1932 gewonnen hat und wer Hitler aus welchen Gründen ein paar Wochen später zum Reichskanzler werden ließ? Rhetorik, natürlich. „Es ist 5 vor 1933“, sagt nicht nur Philipp Ruch in einem Buch, das bei den großen Ketten gleich am Eingang liegt. Sonst könnte der Flaneur am Ende vergessen, dass gerade einer dieser Momente naht, wo er seine eigenen kurzfristigen Interessen herunterzuschlucken hat.

Zum Glück hatte ich ein zweites Buch im Gepäck, fast 20 Jahre alt. „Das Netz“ von Lutz Dammbeck, einem Filmemacher, Jahrgang 1948, aufgewachsen in Leipzig. Dammbeck protokolliert hier eine Recherche, die ihn in die Anfänge des Computerzeitalters geführt und die Türen von vielen geöffnet hat, die einst zur Cyber-Elite gehörten. Theoretiker wie Heinz von Foerster. Ein NASA-Mann, der zur DARPA gewechselt ist, dem Forschungsarm des Pentagon. Der Erfinder des PC-Begriffs, der erzählen soll, wie Computer, LSD und Hippies zueinanderfanden. Der Verleger John Brockman, der aus der Multimediaszene ein Millionengeschäft machte. Aus diesem Puzzle wird das Bild einer Wissenschaft, die menschliches Verhalten erst vorhersagen und dann kontrollieren soll – angetrieben von einer Supermacht, die im Kalten Krieg die Schlacht um das Unterbewusstsein gewinnen will und dafür schon ab den frühen 1950ern alle Hebel in Bewegung setzt. Es ist eigentlich egal, wo Lutz Dammbeck hinschaut. Universitäten, Künstler und Bohème, Forschungsgruppen und Avantgarde-Netzwerke: Überall findet er den US-Sicherheitsapparat – und sei es nur mit dem Ziel, den Ideen und Erfindungen eine nichtmilitärische Aura zu verleihen. Talente werden einfach angesprochen und mit Geld gelockt und erzählen dem Interviewer dann am Ende ihres Lebens eine Geschichte voller Freude und Entdeckerdrang.

Das allein würde schon für ein gutes Buch genügen, Lutz Dammbeck aber hat noch eine Pointe. Er korrespondiert während der Recherche mit Ted Kaczynski, der damals mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe im Gefängnis saß, und druckt am Ende das „Una-Bomber-Manifest“, freigegeben von erster Hand. Dieser Text hat es in sich, weil er das Technologieproblem ganz anders angeht als Yuval Noah Harari. Auch wieder in Kurzform: keine Kompromisse. Jede neue Technologie mag für sich nützlich sein, alle zusammen aber stürzen uns in den Abgrund. Also befreit euch und geht zurück in die Natur. Kaczynski musste seinerzeit auf ein Gerichtsverfahren verzichten, um der Todesstrafe zu entgehen, und wurde so um eine Bühne gebracht. Sein Text, geschrieben Mitte der 1990er, kennt weder die Plattformen noch KI, scheint aber genau darauf gemünzt zu sein und kratzt außerdem am Lack einer Ideologie, die sich für links hält und doch nur die Verhältnisse stabilisiert. Freiheit, sagt Ted Kaczynski, bedeutet Kontrolle über die existenziellen Dinge des eigenen Lebens. Nahrung, Kleidung, Unterkunft, Verteidigung. Zu haben nur allein oder noch besser in einer kleinen Gruppe, aber auf keinen Fall in einer „industriell-technologischen Gesellschaft“. Der Fußgänger ist nicht mehr frei, wenn er an einer Ampel warten muss.

Was das alles mit Harari zu tun hat? Wir müssen nicht darüber streiten, ob das Computernetzwerk tatsächlich eigene Ideen haben und dann auch selbständig entscheiden kann. Das Problem beginnt viel früher und hat vor allem mit Macht zu tun, mit Überwachung und Kontrolle sowie mit den Erzählungen, die all das rechtfertigen sollen. Um das zu verstehen, braucht man weder Lutz Dammbeck noch den Una-Bomber. Ein Harari-Zitat genügt: „Praktisch veranlagte Menschen, die sich selbst für völlig frei von religiösem Einfluss halten, sind in der Regel die Sklaven irgendeines Mythenmachers“ (S. 395).

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Bildquellen: Gerd Altmann, Pixabay