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Buch-Tresen | 09.01.2025
Englische Dystopiker III
Es bleibt nur Resignation: Auf Orwell und Huxley folgt zum Abschluss der Reihe H. G. Wells – mit einem Link zu Klaus Schwab und Bill Gates.
Text: Beate Broßmann
 
 

H. G. Wells (1866 bis 1946) war ein Vielschreiber von enzyklopädischem Wissen. Seine Romane und Sachbücher sind Legion. Weltbekannt wurden seine „scientific romances“, wie er sie selbst nannte, Die Zeitmaschine (1895), Der Unsichtbare (1897) und Der Krieg der Welten (1898). Doch auch seine Dystopien Wenn der Schläfer erwacht (1899) oder Die Insel des Dr. Moreau (1896) fanden viele Leser. Einige seiner Bücher sind verfilmt worden.

Der ausgebildete Zoologe und Biologe liebäugelte – wie George Orwell und Aldous Huxley – mit einer sozialistischen Revolution und hielt eine Weltregierung für notwendig und den Umständen angemessen. 1928 schrieb er den Entwurf für Weltstaat und Weltrevolution unter dem Titel „The open conspiracy. Blue prints for a World Revolution“. Noch 1939, als er den Großessay „Die neue Weltordnung“ („The New World Order“) verfaßte, war er zuversichtlich, daß ein globaler Sozialismus, wissenschaftlich geplant und gelenkt, auf Recht, Gesetz und persönlichen Menschenrechten fußend, Rede-, Kritik- und Publikationsfreiheit garantierend und die Bildung verallgemeinernd, auf der Tagesordnung steht und erreichbar ist. Ein „Drehkreuz aus Kollektivierung, Recht und Wissen“ könne „den gegenwärtigen Marsch der Menschheit ins Elend und Zerstörung stoppen“ und „das gemeinsame Ziel aller Menschen verkörpern“. Man meint bei der Lektüre, ein Buch von Klaus Schwab in den Händen zu halten …

1945 ist seine Transformationsenergie verbraucht. Mit „Mind at the end of its tether” gibt er seine Enttäuschung, ja seine Verzweiflung darüber zum Ausdruck, daß alle Mühe, die Menschheit zu verbessern, umsonst war. „Das Ende all dessen, was wir Leben nennen, steht ganz nah bevor und ist nicht zu vermeiden.“ (10) Diese Apodiktik erstaunt. Eine „abschließende Katastrophe“ erwarte uns? Dieser Ansicht waren weder Orwell noch Aldous Huxley. Wells als Allrounder zieht aus allen möglichen Schubladen zeitgenössischen Wissens Argumente für seine Endzeitthese. Aber warum hatte er überhaupt die Glaubensentscheidung vom Ende des Homo sapiens getroffen? – Es waren die Atombombenabwürfe auf die beiden bekannten Städte Japans, ja der ganze Verlauf des 2. Weltkrieges, die ihn von jedwedem Glauben abfallen ließen. Nicht daß er dies dem Leser offen mitteilen würde. Es schimmert durch seine philosophisch-metaphysischen, nicht anders als nihilistisch zu nennenden Betrachtungen und Einsichten hindurch. In der Form ähnelt dieses Testament einer Litanei, deren Verfasser von sich in der dritten Person spricht. Ein ums andere Mal stellt er Antinomien auf nach dem Schema: Bis jetzt war es so, dann trat ein Bruch ein, und ab jetzt ist es anders. Wells zieht eigenartige Bilder und Metaphern heran, um das, was er eher empfindet, als es rational zu durchdringen, etwaigen Lesern zu vermitteln. Er vergewissert sich schreibend seiner Erkenntnisse, und zum ersten Mal bringt er sich selbst als Person in ein Werk ein, hält nicht länger am Versuch der Objektivierung dessen fest, was er für relevant hält.

„Der kosmische Ablauf der Ereignisse“ sei „in wachsendem Maße der geistigen Struktur unseres Alltagslebens entgegengesetzt“, lesen wir da. Eine furchtbare Fragwürdigkeit sei in das Leben getreten. Viele Menschen schienen zu spüren, daß es „nie wieder ganz das gleiche sein wird“. Einen Bruch sieht Wells nicht nur im Prozess humaner Zivilisation, sondern im universellen Sein. Die Menschengeschichte habe ein Ende gefunden. Man würde sich einem neuen Entwurf des Seins gegenüber sehen, der bis jetzt für den Menschengeist unvorstellbar war. „Dieses neue kalte Licht spottet des Menschenverstandes und blendet ihn…“. Und nun nimmt er sich selbst in den Blick: Sein zur Gewohnheit gewordenes Lebensinteresse war immer „kritische Vorauserwägung“. Bei allem fragte er: Wozu wird dies führen? Er habe sein Äußerstes getan, „die Strömungen zu verfolgen, der nach aufwärts führenden Spirale zu ihrem Konvergenzpunkt in einer neuen Phase des Lebens nachzugehen“. Sein Axiom war: Jeglicher Änderungen sind Grenzen gesetzt. Eine natürliche Reihenfolge des Lebens wird immer gewahrt. Die Ereignisse waren bisher immer von einer gewissen logischen Konsequenz zusammengehalten worden. Was auch kommen mochte: Die Rationalität würde immer wieder hergestellt. Es ging lediglich um die Frage, in welche Formen sich die neue rationale Phase kleiden würde.

Nun ist es so, als wäre diese Schnur verschwunden, und als triebe alles irgendwie mit ständig wachsender Geschwindigkeit einem Irgendwo zu.

Vormals hatte man den Plan künftiger Dinge skizzieren können. Doch eine Grenze war überschritten worden und führte hinaus in ein ungekanntes Chaos.

Der Verfasser ist der Überzeugung, daß es keinen Weg gibt, der aus dieser Sackgasse heraus, um sie herum oder durch sie hindurch führt. Es ist das Ende.

Die Ereignisse lösten sich nunmehr in einer völlig unzuverlässigen Reihenfolge ab und niemand wüßte, was das Morgen bringt. Mit dem Homo sapiens „in seiner jetzigen Gestalt“ sei es „aus und vorbei“. Er müsse einem anderen Wesen Platz machen, „das besser ausgerüstet ist, dem Verhängnis entgegenzutreten, das mit wachsender Schnelligkeit über die Menschen hereinbricht“.

Und diese Ansicht entstammt nicht nur den jüngsten Erfahrungen mit dem schlimmsten Krieg aller Zeiten, sondern auch Wells‘ Interpretation der beständig wachsenden Erdbevölkerung: Die Versorgung mit „Ernährungsenergie“ gehe dem Ende entgegen. Es komme zu einem Kampf ums Dasein. Kleine Gemeinschaften würden ausgerottet, und die größeren verlören an Anpassungsfähigkeit.

Die besondere Nahrung des Art-Typus wird knapp, es entstehen neue Formen, die imstande sind, Stoffe zu verwerten, für deren Assimilierung die primitiven nicht ausgerichtet waren.

Seine Vision nähert sich auf beängstigende Weise der Gegenwart:

Dieses neue Lebewesen mag einer völlig fremden Rasse angehören, oder es mag als eine neue Modifikation der homidae zustande kommen, ja sogar als direkte Fortsetzung des menschlichen Stammes, aber ganz entschieden wird er nicht menschlich sein. (…) Der Planet routiert, das Klima ändert sich, so daß der alte, übergroß gewordene Herr der Schöpfung nicht mehr in Übereinstimmung mit seiner Umgebung ist. Er muß gehen. Gewöhnlich, doch nicht immer, wird er von einer ganz anderen Lebensform abgelöst.

Ob Nahrungsmittelknappheit, „Wellen von Gefühlsregungen für oder gegen die Mutterschaft, patriotisches Empfinden oder sein Fehlen“ – viele Faktoren spielten bei der Entstehung der neuen Menschheit eine Rolle. Wie auch immer:

Wir wünschen, geladen zu sein zum Tode des Menschen und ein Mitspracherecht zu haben bei seiner Ersetzung durch den nächsten Herrn der Schöpfung, selbst wenn die erste Handlung ihres Nachfolgers, oedipushaft, ein Vatermord ist.

Das ist starker Tobak. Doch auch in seiner veränderten Sichtweise kann Wells den Einfluß sozialdarwinistischer Idee nicht verleugnen. Von Eugenik, Sozialismus, Weltstaat und dem damit verbundenen sozialtechnischem Verständnis von Politik und Gesellschaft ist zwar nicht mehr die Rede, aber durch sein Denken zieht sich immer noch etwas Mechanisches, eine starre Kausalität und Linearität. Am Ende ist es die überzogene Form rationalen, spätaufklärerischen Denkens, die die Voraussagen der drei britischen Dystopiker (noch) nicht Wirklichkeit werden ließen. Noch: Denn diese Denkungsart ist nicht ausgestorben. Technokratische Weltenlenker wie Klaus Schwab und Bill Gates segeln in ihrem Fahrwasser und sind womöglich gar von Texten der drei Dystopiker bzw. Utopisten inspiriert worden.

Bildbeschreibung

H. G. Wells: Der Geist am Ende seiner Möglichkeiten. Zürich 1946.

Beate Broßmann, Jahrgang 1961, Leipzigerin, passionierte Sozialphilosophin, wollte einmal den real existierenden Sozialismus ändern und analysiert heute das, was ist – unter anderem in der Zeitschrift TUMULT. Am Buch-Tresen steht sie jeden zweiten Donnerstag.

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