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Buch-Tresen | 12.12.2024
Englische Dystopiker II
Nach den Sozialismusträumen von Orwell geht es im zweiten Teil der Dreier-Reihe um Essays von Aldous Huxley, die ins Herz der Gegenwart zielen.
Text: Beate Broßmann
 
 

Auch dieser Autor (1894-1963) ist von bemerkenswerter Originalität und sozialer Vorstellungskraft. Sein Hauptwerk, der Roman „Schöne neue Welt“, erschien 1931. Er publizierte in verschiedenen britischen Zeitungen und verfaßte zeitdiagnostische Essays. Im Band drei seiner Essaysammlung faßte der Piper-Verlag Huxleys Beiträge zum Themenkomplex „Seele und Gesellschaft“ zusammen, von denen ich einige vorstellen möchte.

Das erste datiert von 1929 und ist der Gesellschaftsanalyse in Bezug auf eine mögliche Revolution in England gewidmet und trägt auch den Titel „Revolutionen“.

Huxley bezieht sich zunächst auf den gesellschaftlichen Status quo, den Karl Marx vorfand und der die Voraussetzung für seine Prognose einer Arbeiterrevolution und der ihr folgenden Diktatur des Proletariats in den industriell fortgeschrittensten Ländern des Abendlandes bildete, die in einer kommunistischen Weltgesellschaft münden sollte. Huxley konstatiert, daß die Welt sich seit Marx‘ Zeiten zu stark verändert habe, um noch mit dieser Aussicht rechnen zu können. Er meint, daß das Proletariat sich in Auflösung befindet:

Je höher der Grad der industriellen Entwicklung und der materiellen Zivilisation, (…) umso vollständiger ist die Transformation gewesen. (11)

Das Proletariat sei nicht mehr verelendet, es nehme am allgemein steigenden Wohlstand teil und käme sogar in seinem Lebensstil dem der Bourgeoisie nahe. Die USA ist in dieser Beziehung Vorreiter für ihn. Europa folge diesem Trend zunehmend. Dazu trage eine Eigenschaft der herrschenden und reichen Klasse bei, mit der Marx nicht gerechnet hat: ein allgemeiner Gerechtigkeitssinn.

Es ist die dunkle Vorstellung von der Notwendigkeit einer gewissen Ausgewogenheit in den Dingen des Lebens; wir sind uns ihrer als einer Leidenschaft für Gerechtigkeit bewusst, als Hunger nach Rechtschaffenheit. Ein offensichtlicher Mangel an Ausgewogenheit in der Außenwelt verletzt dieses Gerechtigkeitsgefühl in uns, bis wir uns (…) zu reagieren (…) gehalten fühlen. (12)

Der Staat und die Wirtschaft drängen den neureichen Proletarier zu konsumieren. Man organisiert und erleichtert ihm die Verschwendungssucht und legt deshalb immer wieder einmal eine Schippe auf seinen Gehaltsberg als Reaktion auf steigende Arbeitsproduktivität.

Diese Darstellung ist originell. Die deutschen Kommunisten und Sozialisten hatten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ebenfalls die Entstehung einer „Arbeiteraristokratie“ konstatiert, die individuell gesehen als Fortschritt im Zivilisationsprozeß begrüßt werden könne. Für bedeutsamer aber hielten sie den politischen Nebeneffekt, daß Arbeiter vom Kapital gekauft würden und an einer sozialistischen Revolution nicht mehr interessiert wären. Von einem „neureichen Proletariat“ allerdings hätten sie nie gesprochen. In ihrer Mehrheit waren deutsche Arbeiter in den 1920ern immer noch relativ arm. Huxley hingegen sieht das englischsprachige Proletariat zum Teil der Bourgeoisie werden. In Amerika herrsche bereits die Tendenz zur Angleichung der Einkommen. George Bernard Shaw (1856 bis 1950), der Doyen linken britisch-bürgerlichen Denkens, war der Ansicht, daß die Angleichung der Einkommen das Endziel sei, aus dem „automatisch alle Segnungen fließen werden“ (14). Setze dieser Prozeß sich fort, werde keiner mehr vom Sturz des Kapitalismus träumen (müssen).

Shaw hat berichtet, dass die Lektüre des „Kapitals“ von Karl Marx 1882 eine Offenbarung gewesen sei. 1884 trat er der intellektuell-sozialistischen Fabian Society bei, die gesellschaftliche Veränderungen nicht revolutionär, sondern auf evolutionärem Weg anstrebte. Shaw und die Fabian Society sind auch für Orwell und Wells biographisch bedeutungsvoll gewesen. „The guide to socialism“ war ihre Bibel.

Doch Huxley fand die Einschätzung Shaws nicht mehr überzeugend: Der Mensch sei nicht lediglich ein homo oeconomicus, wie sein Mentor implizit behauptete. Lohnangleichung stellte für den Erfinder der „schönen neuen Welt“ eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Akzeptanz dar. „Die Angleichung der Einkünfte vermag an die wirklichen Quellen der gegenwärtigen Unzufriedenheit nicht mehr zu rühren als irgendeine andere Buchführungsoperation im großen Maßstab“ (17). Und dann meint man, der Autor sei ein Hellseher:

Das wirkliche Problem mit dem gegenwärtigen sozialen und industriellen System ist nicht, daß es einige Leute reicher macht als andere, sondern dass es das Leben für alle zutiefst unlebenswert macht. Jetzt, da nicht nur die Arbeit, sondern auch die Freizeit vollständig mechanisiert ist; jetzt, da sich das Individuum mit jeder Weiterentwicklung der gesellschaftlichen Organisation weiter entwertet und herabgesetzt sieht, vom Emblem des Menschentums zur bloßen Verkörperung einer sozialen Funktion; jetzt, da vorgestanzte, jede Eigeninitiative ersparende Belustigungen eine immer intensivere Langeweile in immer weiteren Sphären verbreiten – ist die Existenz stumpf und unerträglich geworden.

Bereits 1923 und 1925 hat Huxley sich mit dem Thema „Vergnügungen und Belustigungen“ beschäftigt (ebenfalls in diesem Essayband zu finden). Wir nennen es heute „Unterhaltung“. Die Phänomene aber sind sich gleich geblieben: Anstelle der früheren Vergnügungen, die Intelligenz und Eigeninitiative verlangten, beliefern uns Riesenorganisationen mit standardisierten Zerstreuungen. Unzählige Kinos zeigen Filme von der Stange, und drittklassige Schriftsteller verfertigen Massenware. Sie bedrohten unsere Kultur mehr als es die Deutschen je könnten. Die Vergnügungen haben den gleichen Charakter wie die Arbeitstätigkeit: mechanisch-stereotyp, geistlos und unanregend.

Im Zuge derartiger Selbstvergiftung hat unsere Zivilisation alle Aussicht, in einer Art vorzeitiger Senilität zu versinken. (86)

Die geistigen Anlagen, verkümmert durch mangelnden Einsatz, führten zur Unfähigkeit, sich wirklich miteinander zu unterhalten. Die Reizschwelle steige beständig, bis nur noch Gewalttätigkeit und Geschmacklosigkeit die Konsumenten berührten. Eine Steigerung findet dann nur noch durch Lust an Totschlag und Quälerei statt, die illegal befriedigt werden müsse. Es sei zu erwarten, daß die Zunahme der Freizeit mit einer Zunahme gewisser seelischer Übel einhergehen würden: Langeweile, Ruhelosigkeit, Spleen und ein allgemeiner Lebensüberdruß – Leiden, die früher nur in den „müßig-begüterten Klassen“ auftraten. Käme es zu einer Revolution in Europa oder Amerika, werde das folglich keine kommunistische sein.

Es wird eine nihilistische Revolution sein. Zerstörung um der Zerstörung willen. Hass, universaler Hass, und ein zielloses und deshalb vollständiges und umfassendes Zertrümmern von allem. Und die Anhebung der Einkommen durch beschleunigte Verbreitung der weltweiten Mechanisierung (…) wird lediglich die Heraufkunft des universalen Nihilismus beschleunigen. Je reicher, je zivilisierter im materiellen Sinne wir werden, umso rascher wird sie sich ereignen. Wir können nur hoffen, dass sie sich nicht in unseren Tagen ereignet. (18f.)

Man ersetze „Mechanisierung“ durch „Digitalisierung“ und hat ein präzises Bild von unseren Tagen – genau einhundert Jahre später. Der Typ des „intelligenten Alleshassers“ (18) könnte zum Prototyp unserer Zeit werden.

Bildbeschreibung

Aldous Huxley: Essays. Band III. Seele und Gesellschaft. München: Piper 2018, 16 Euro.

Beate Broßmann, Jahrgang 1961, Leipzigerin, passionierte Sozialphilosophin, wollte einmal den real existierenden Sozialismus ändern und analysiert heute das, was ist – unter anderem in der Zeitschrift TUMULT. Am Buch-Tresen steht sie jeden zweiten Donnerstag.

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