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Buch-Tresen | 28.11.2024
Englische Dystopiker I
George Orwell träumte mitten im Krieg vom Sozialismus und glaubte dabei auch zu wissen, was der Unterschied zum Faschismus ist. Auftakt einer Dreier-Serie.
Text: Beate Broßmann
 
 

Als Kenner der international berühmten Dystopien, die auf britischem Boden entstanden sind, kann man sich nicht vorstellen, daß man es bei ihren drei Verfassern George Orwell (1903-1950), Aldous Huxley (1894-1963) und H.G. Wells (1866-1946) mit bekennenden Sozialisten zu tun hat. Sie waren Sympathisanten der Fabien Society und der Labour Party, zeitweise auch deren Mitglieder. Und dem Zeitgeist gemäß Eugeniker. Ihre anfängliche Sympathie für Sowjetrußland verflog mit dem Bekanntwerden der totalitären Stalinschen Politik. Sie plädierten für einen demokratischen englischen Sozialismus und verachteten gründlich ihre linksintellektuellen Landsleute. Man wähnt, alles Egalitäre müßte ihnen ein Gräuel gewesen sein. Doch dem ist nicht so.

Ich möchte in den nächsten Kolumnen Ausschnitte aus dem publizistischen Oevre dieser drei unkonventionellen Denker vorstellen und heute mit George Orwells „Der Löwe und das Einhorn“ beginnen.

Orwells bekannten Romane „Farm der Tiere“ und „1984“ sind 1945 und 1949 entstanden, „Löwe und Einhorn“ bereits 1941, als über England der Krieg tobte. „Während ich schreibe, fliegen hochzivilisierte menschliche Wesen über mich hinweg und versuchen, mich zu töten“, lautet seine erste Zeile. Dann stellt uns der Schriftsteller seine Landsleute und ihre Eigenheiten vor, und zwar von der Prämisse ausgehend, daß „die überwältigende Kraft des Patriotismus“ und „der nationalen Loyalität“ anerkannt werden müßte, die stärker sei als Christentum und Sozialismus. (5) Der Standard menschlichen Verhaltens unterscheide sich von Land zu Land enorm. (6) Die Briten seien keine Puritaner und verfügten nicht über eine feste religiöse Überzeugung. (10) Machtanbetung und Machtpolitik seien mit ihnen nicht zu machen. Sie haßten jedweden Militarismus und Krieg. Sie verfügten über keine nennenswerten militärischen Kenntnisse und Traditionen. Allein mit Hilfe der Marine könnten sie sich gegen Aggressionen von außen verteidigen. (11) Ein typischer englischer Zug sei der Respekt vor Konstitutionalismus und Rechtmäßigkeit. (14) Man glaube noch an Begriffe wie „Gerechtigkeit“, „Freiheit“ und „objektive Wahrheit“. (15)

Dennoch sei Großbritannien kein einheitlicher Körper, sondern bestehe aus zwei sehr unterschiedlichen Nationen: einer armen und einer reichen. (17) Doch der Patriotismus sei stärker als Klassenhaß und „jede Art von Internationalismus“ (18) und fungiere als Weltanschauungsersatz. (20) Nur die britischen Intellektuellen fallen bei Orwell aus diesem Rahmen, weil sie antibritisch waren und wahlweise gern russifiziert oder germanisiert worden wären. Angesichts der Kompetenzen und der Zusammensetzung der Regierung würden ausländische Beobachter mitunter meinen, die britische Demokratie sei nur ein „höflicher Name für Diktatur“ (21). Doch die Regierung habe zwischen 1931 und 1940 tatsächlich den Willen des Volkes repräsentiert. (21) Nach Jahren der Lethargie und des Schlafwandels habe das Volk Premierminister Chamberlain durch Churchill ersetzt, „der immerhin zu begreifen vermochte, daß Kriege nicht ohne Kampf gewonnen werden“. Und nun folgt ein Satz, der uns Heutige (und gerade auch den gemeinen Ossi) erst einmal schlucken läßt: „Später werden sie vielleicht einen anderen Führer wählen, der begreift, daß nur sozialistische Nationen wirksam kämpfen können.“ (22) Und Orwell schließt die Vorstellung seiner Landsleute mit der Einschätzung ab: „Eine Familie, in der die falschen Mitglieder das Sagen haben – das ist vielleicht das, was England am ehesten in einem Satz beschreiben kann.“ (24)

Das klingt nun wieder gar nicht nach der Notwendigkeit eines sozialistischen Gesellschaftstyps. Aber dann kommt es knüppeldick: „Dieser Krieg hat gezeigt, daß der Privatkapitalismus – d.h. ein Wirtschaftssystem, in dem Land, Fabriken, Bergwerke und Transportmittel in Privatbesitz sind und ausschließlich aus Profitgründen betrieben werden – nicht funktioniert.“ (40) „Es wurde ein für allemal bewiesen, daß eine Planwirtschaft stärker ist als eine Wirtschaft ohne Plan.“ (41) Nun aber stellt sich für Orwell die Frage, wie man „Sozialismus“ von „Nationalsozialismus“ und „Faschismus“ trennscharf unterscheiden kann. Das wichtigste Merkmal des ersteren sieht der Autor im „gemeinsame[n] Eigentum an Produktionsmitteln“, d.h.: der Staat vertritt die ganze Nation. Ihm gehört alles, und jeder ist ein Staatsangestellter. (41) Gerade in Kriegszeiten habe die kapitalistische Wirtschaft Schwierigkeiten, alles zu produzieren, was benötigt werde, weil nichts produziert wird, „wenn nicht jemand einen Weg findet, um Profit daraus zu schlagen“, ist Orwell überzeugt. Eine sozialistische Wirtschaft kenne solche Probleme nicht, weil der Staat einfach kalkuliere, welche Güter benötigt würden und sein Bestes tue, um es zu produzieren. „Die Produktion wird nur durch die Menge an Arbeit und Rohstoffen begrenzt. Geld ist für interne Zwecke nicht mehr ein geheimnisvolles, allmächtiges Ding, sondern eine Art Gutschein oder Bezugsschein, der in ausreichender Menge ausgegeben wird, um die gerade verfügbaren Konsumgüter zu kaufen.“ (42)

Aber Staatseigentum an sich heißt noch nicht Sozialismus. Hinzutreten müsse: annähernde Einkommensgleichheit, politische Demokratie und Abschaffung aller erblichen Privilegien, insbesondere im Bildungswesen. Die Masse des Volkes müsse ungefähr auf gleichem Niveau leben und eine gewisse Kontrolle über die Regierung ausüben. (42) „Der Sozialismus zielt letztlich auf einen Weltstaat der freien und gleichen Menschen.“ (43) Von der Notwendigkeit eines Weltstaates ist auch H.G. Wells überzeugt.

Wie unterscheidet sich nun der Faschismus von dieser Charakterisierung?

Zum einen leihe er sich vom Sozialismus nur jene Merkmale, die den Kriegszwecken dienen. (42) Die Eigentumsverhältnisse würden nicht verändert, und im Allgemeinen sind dieselben Leute Kapitalisten und Arbeiter wie zuvor. Aber der Fabrikdirektor ist auf den Status eines Staatseigentümers reduziert, wenn die Einkommen auch sehr unterschiedlich sind. „Die bloße Effizienz eines solchen Systems, die Beseitigung von Verschwendung und Hindernissen, ist offensichtlich. In sieben Jahren wurde die mächtigste Kriegsmaschine aufgebaut, die die Welt je gesehen hat.“ (43) Die treibende Kraft der nationalsozialistischen Bewegung sei die Ungleichheit der Menschen, der Glaube an die Überlegenheit der Deutschen gegenüber anderen Rassen, woraus sie ein Recht ableiten, die Welt zu beherrschen. (43)

„So schrecklich uns dieses System auch erscheinen mag, es funktioniert. Es funktioniert, weil es ein geplantes System ist, das auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet ist, die Welteroberung, und das kein privates Interesse, weder des Kapitalisten, noch des Arbeiters, zuläßt, das ihm im Wege steht. Der britische Kapitalismus funktioniert nicht, weil er ein Wettbewerbssystem ist, in dem der private Profit das Hauptziel ist und sein muss. Es ist ein System, in dem alle Kräfte in entgegengesetzte Richtungen ziehen und die Interessen des Einzelnen denen des Staates so oft wie möglich völlig entgegengesetzt sind.“ (44) Noch Ende August 1939 hatten die britischen Händler nichts Besseres zu tun, als Deutschland Zink, Kautschuk, Kupfer und Schellack zu verkaufen und schwärmten von einem „guten Geschäft“. (45) Es scheint, England mußte zum Jagen getragen werden. Orwells Überzeugung nach hätte so schnell wie möglich eine sozialistische Revolution in Großbritannien stattfinden müssen – schon allein, um im Krieg gegen Deutschland widerstandsfähig zu werden. Nur auf diesem Wege könne der „Genius des englischen Volkes“ freigelegt werden. Das Ziel sei nicht die Diktatur einer Klasse. Die Revolution bedeute nicht rote Fahnen und Straßenkämpfe, sondern eine grundlegende Machtverschiebung. (51) „Wir können weder den Krieg gewinnen, ohne den Sozialismus einzuführen, noch den Sozialismus einführen, ohne den Krieg zu gewinnen.“ (63) Der einzige Weg führe über den Patriotismus des Volkes. „Eine intelligente sozialistische Bewegung wird sich ihren Patriotismus zunutze machen, anstatt ihn wie bisher nur zu beleidigen.“ (66) Und Patriotismus sei das Gegenteil von Konservatismus, denn er sei ein Bekenntnis zu etwas, das sich immer wieder verändere „und doch geradezu mystisch als dasselbe empfunden wird. Es ist die Brücke zwischen der Zukunft und der Vergangenheit. Kein echter Revolutionär war jemals ein Internationalist.“ (78) Orwell sieht den Krieg regelrecht als Geburtshelfer für eine sozialistische Gesellschaft an – genauso wie es die deutschen Kommunisten in Bezug auf den Ersten Weltkrieg taten. Den Krieg in eine positive Richtung umzulenken, ist aber noch niemandem gelungen.

Orwell schwärmt dann noch ausführlich von seinem sozialistischen Traum und kann ein ums andere Mal seine Bewunderung für den nationalsozialistischen deutschen Staat nicht ganz verbergen. Zu Orwells Genius wiederum gehören zahlreiche hellsichtige Einblicke in den Charakter seiner Gegenwart. Und einige könnten uns auch heute noch etwas lehren:

Die Geschichte der letzten sieben Jahre hat ganz klar gezeigt, daß der Kommunismus in Westeuropa keine Chance hat. Die Anziehungskraft des Faschismus ist weitaus größer. Nacheinander wurden die Kommunisten in einem Land durch ihre modernen Feinde, die Nazis, verdrängt. In den englischsprachigen Ländern haben sie nie ernsthaft Fuß gefaßt. Das Glaubensbekenntnis, das sie verbreiten, konnte nur einen eher seltenen Typus von Menschen ansprechen, der vor allem in der bürgerlichen Intelligenz zu finden ist, den Typus, der aufgehört hat, sein eigenes Land zu lieben, aber immer noch das Bedürfnis nach Patriotismus verspürt und daher patriotische Gefühle gegenüber Rußland entwickelt.

Nun, diese Gefühle sind keine rein britischen. Die deutschen Heimathasser in Mittel- und Oberschicht, die über die Deutungsmacht verfügen, aber dennoch kaum mehr als Intellektuelle zu bezeichnen sind, lenken sie heute auf den westlichen Nachbarn Rußlands.

Bildbeschreibung

George Orwell: Der Löwe und das Einhorn. Der Sozialismus und der englische Genius. Nachdruck der deutschsprachigen Originalausgabe von 1941. Amazon, 12 Euro.

Beate Broßmann, Jahrgang 1961, Leipzigerin, passionierte Sozialphilosophin, wollte einmal den real existierenden Sozialismus ändern und analysiert heute das, was ist – unter anderem in der Zeitschrift TUMULT. Am Buch-Tresen steht sie jeden zweiten Donnerstag.

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Bildquellen: Buckingham Palace, Chris Emerson @Pixabay