Enorm waren die Erwartungen, als sich das BSW vor knapp zwei Jahren gründete. Vor allem in Ostdeutschland war Euphorie spürbar – dort, wo zwischen der AfD und der Linken eine riesige Lücke klafft, welche die CDU und die ehemaligen Ampel-Parteien schon viele Jahre nicht mehr füllen können. Neben charismatischen Machern wie Michael Lüders und Friedrich Pürner schaffte es Parteigründerin und Namensgeberin Sahra Wagenknecht, auch einige Unternehmer in die neue Partei zu holen. Frischer Wind mit Sachverstand zog in die verkrustete deutsche Parteienlandschaft ein.
Es folgten die Beteiligung an zwei ostdeutschen Landesregierungen und fast der Einzug in den Bundestag – denkbar knapp verpasst. Seitdem befindet sich die Partei im freien Fall – dank althergebrachter Politikdarsteller mitsamt bürokratischem Funktionärsgeschacher von innen und Dauerbeschuss von außen. Eine Friedenspartei jenseits von „links“ und „rechts“, für „soziale Gerechtigkeit und wirtschaftliche Vernunft“? Darf wohl einfach nicht sein.
Es sollte alles anders werden als beim letzten Mal. Und doch hat der eine oder andere ein Déjà-vu: Bereits 2018/19 versuchte Sahra Wagenknecht mit der Sammlungsbewegung Aufstehen, eine Alternative zum pseudolinken Parteienzirkus zu etablieren. So schnell wie das Projekt damals kometenhaft aufstieg, verschwand es – medial entsprechend orchestriert – wieder in der Versenkung.
Es folgten die „Corona-Krise“, der Krieg in der Ukraine und immer wieder Beispiele fehlender Integrationswilligkeit. All das ließ zahlreiche Aufstehen-Unterstützer aus dem Dunstkreis von Linken, SPD und Grünen kopfschüttelnd zurück – wie so oft im Osten stärker als im Westen. Seitdem sich Die Linke spätestens mit Bodo Ramelows thüringischer Ministerpräsidentschaft als Teil des bundesdeutschen Parteisystems etabliert und damit gleichzeitig als Vertreter ostdeutscher Interessen disqualifiziert hatte, ist die Orientierungslosigkeit bei vielen Wählern groß. Zumal das Gegenüber auf der anderen Seite des Parteispektrums eben doch keine Alternative für (Ost-)Deutschland zu sein scheint. Hier US- und Israelbegeisterung unter Alice Weidel und dort eine zäh-völkische Remigrationsdebatte um den „Höcke-Flügel“.
Bild: Bodo Ramelow 2009. Foto: Tasigrafie, CC BY 2.0
Im Osten leidet man unter ganz anderen Problemen. Ganz vorn: die Deindustrialisierung durch antirussische Sanktionen und Weltklimarettungsaktionen. Knapp dahinter: die demographische Katastrophe durch 35 Jahre neokolonialen Braindrain.
Daher hätten die Themen, die sich das BSW auf die Fahnen geschrieben hatte, die Partei als neue Ostpartei – mit Anschlussfähigkeit im Westen – durchaus jenseits der Zehn-Prozent-Marke etablieren können: Frieden, Corona-Aufarbeitung, Änderung von Merkels Migrationspolitik, Abbau von Bürokratie, Rettung des Mittelstandes und damit der deutschen Wirtschaft. Hätte, hätte Fahrradkette …
Videos zu diesen Themen gingen seinerzeit auf dem YouTube-Kanal von Sahra Wagenknecht viral. Es gab Biografien, Berichte und Dokumentationen, nachdem sie im Herbst 2023 aus Der Linken ausgetreten war.
Damals die Frage aller Fragen: Hat eine (gezähmte) neue Partei um Sahra Wagenknecht das Potenzial, die AfD (wieder) kleinzuhalten, nachdem der mit enormem Bohei betriebene Potsdam-Effekt eher das Gegenteil erreichte? Die Chancen standen gut, und die Parteigründerin holte sich jede Menge Sachverstand: Ralph Suikat, Michael Lüders, Friedrich Pürner. Mehr oder weniger prominente Namen, die es zum Teil auch außerhalb der Politik zu etwas „gebracht“ haben – heute bekanntlich eher die Ausnahme und nicht die Regel im trögen Politbusiness.
Doch dann hat das BSW zwei Fehler gemacht. Zum einen wurde der Mitgliederansturm im Keim erstickt. Nicht jeder sollte mitmachen dürfen. Man suchte vielmehr handverlesen aus und verstimmte so Sympathisanten und Aktivisten, die der Boomerpartei bis heute fehlen – eine Tatsache, an der auch das erst im Sommer gegründete Jugendbündnis der Partei nichts ändern wird. Zum anderen wurden schlichtweg zu viele Ex-Linke und Ex-SPDler an die politischen Fleischtröge mitgeschleppt, die genau die Politik beim BSW fortsetzen, wegen der sie vor gar nicht allzu langer Zeit ihre Parteien verlassen haben. Prominenteste Beispiele sind Katja Wolf (Vorsitzende in Thüringen und dort auch Finanzministerin) sowie Robert Crumbach, Finanzminister in Brandenburg. Berufspolitiker beziehungsweise Funktionäre im Staatsdienst seit Jahrzehnten, die nun endlich „regieren“ dürfen.
Bild: Wahlkampfveranstaltung mit Sahra Wagenknecht, Oskar Lafontaine und Susanne Hennig-Wellsow in ihrem Wahlkreis in Weimar. Foto: Martin Heinlein. Rechte: Die Linke, CC BY 2.0
Die Annäherung an außenpolitische Positionen von CDU und SPD in Thüringen hat die junge Partei sehr schnell entzaubert – der Machtkampf zwischen Wagenknecht und Erfurt unter Wolf zeigte die Risse in der Partei. Der aktuelle Komödienstadl im Brandenburger Landtag toppt das Ganze noch. Es geht dort hin und her. Partei- und Fraktionsausstritte einerseits, Lippenbekenntnisse andererseits. Im (Wähler-)Gedächtnis bleibt: Robert Crumbach stimmte für die Pseudo-Reform des ÖRR, obwohl seine Fraktionskollegen das mehrheitlich abgelehnt hatten. Der „Staatsfunk“ kann also fröhlich „weiter so“ machen – der gleiche „Staatsfunk“, der zur besten Sendezeit zum Beispiel zugelassen hatte, „Ungeimpfte“ als „Blinddarm der Gesellschaft“ zu bezeichnen.
Apropos: Corona-Aufarbeitung. War da was? Wie groß war die Empörung von Frau Wagenknecht über die „Corona-Maßnahmen“. Eine „ehrliche Aufarbeitung“ wurde gefordert. In Sachsen, wo man der Verlockung mitzuregieren widerstanden hat, geschieht das mit Hilfe des BSW zumindest ein wenig. Schaut man sich die neue Doppelspitze der Gesamtpartei an, wirkt das allerdings kaum überzeugend. So fragt Aya Velazquez auf ihrem Blog nicht zu Unrecht:
Hat Amira Mohamed Ali eigentlich schon Stellung genommen zu ihrer damaligen Befürwortung der Impfpflicht? Ich sehe hier ein massives Wahlhindernis und Vertrauensproblem. Wenn das BSW das nicht ausräumt, hat die Partei keine Zukunft.
Auch Fabio de Masi, jetzt zweiter Vorsitzender, hatte sich 2021 für das „Impfen“ ausgesprochen und wollte sogar einen Anreiz von 100 Euro pro Piks setzen. Auch das massenhafte Testen hielt er für sinnvoll. Kann diese Doppelspitze „Corona aufarbeiten“? Das Gleiche gilt auch für die Migrationspolitik, in der vor allem Mohamed Ali lange als Verfechterin offener beziehungsweise unkontrollierter Grenzen galt. Dabei will die Partei doch „soziale Gerechtigkeit“ und „wirtschaftliche Vernunft“ nicht nur im neuen Namen vereinen. Doch auch hier sind es vor allem ehemalige Mitglieder der Partei Die Linke, die die Unternehmer im BSW kritisch beäugen und am liebsten wohl eine noch höhere Staatsquote hätten.
Bleibt noch das letzte und wichtigste Thema – Frieden, mitsamt einer Annäherung an Russland. Hier lohnt es sich, Diether Dehm zu zitieren:
Die BSW-Spitze präsentiert einen personellen Präsidiumsvorschlag, in welchem bisherige Vorstandsmitglieder fehlen, die wegen „prorussischen“ Aussagen medial schon mal angezählt worden waren. Und die für Lieferung von konkurrenzlos billigem Gas aus Russland einstehen und sich folglich geweigert hatten, Putin in Medien „einen Kriegsverbrecher“ zu nennen. Vor allem dröhnt die Lücke dort, wo die nach Wagenknecht an Mikros zweitpopulärste BSW-Frau wirkt: die charismatische Friedensaktivistin Sevim Dagdelen.
Ein Schelm, wer (wie Diether Dehm) Böses dabei denkt. Schließlich ist es in der Bundesrepublik unvorstellbar, dass eine Partei voller Pazifisten quasi über Nacht zu einem eifrigen transatlantischen Befürworter von Waffenlieferungen in Kriegsgebiete „umgedreht wird“.
Bild: Friedrich Pürner am 15. Februar 2024 bei einer Friedensdemo in München. Foto: picture alliance, Schreyer.
Bereits vor einem Jahr konstatierte Friedrich Pürner nach seinem Austritt aus dem BSW desillusioniert:
Hauptsächlich sind dies ehemalige Linke, die mit ihrem Vorgehen, Verhalten und Intrigen ein schlechtes Klima verursachen und dadurch verhindern, dass talentierte Mitglieder ohne Parteierfahrung und ohne Seilschaft in verantwortungsvolle Positionen gelangen.
Die vier Abgeordneten aus der Brandenburger Regierungskoalition, die ebenfalls das BSW verlassen haben, beklagen darüber hinaus, dass der Osten bei der Neuaufstellung des Bundesvorstands „sträflich“ vernachlässigt werde, wie das bereits die neue Doppelspitze aus dem hohen Norden zeigt. Da ist es fast egal, ob es nun vielleicht doch noch zu einer Neuauszählung der Stimmen bei der letzten Bundestagswahl kommt. Denn ob im Bundestag oder nicht, in einer Landesregierung oder in der Opposition: Das BSW hat in kürzester Zeit einige seiner besten Köpfe kaltgestellt und zentrale Themen rasiert. Das heißt: Die Partei wird auch außenpolitisch „anschlussfähig“ (werden). Die Herren Chrupalla, Höcke, Siegmund und Co. dürften sich da genauso die Hände reiben wie die Genossen im Karl-Liebknecht-Haus. Nur der Wähler wurde einmal mehr hinters Licht geführt.
Sven Brajer ist promovierter Historiker, freier Journalist sowie gelernter Einzelhandelskaufmann. Er lebt und arbeitet in Berlin und Görlitz und betreibt den Blog Im Osten.
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