Eine von der Schwäbischen Zeitung am 10. April veröffentlichte Umfrage ergab, dass sich 74 Prozent der Teilnehmer auf jeden Fall vorstellen könnten, aus Deutschland auszuwandern. Als wichtigste Gründe wurden „Kriegstreiberei“, „Staatsversagen“ und „mangelnde Sicherheit“ genannt.
Zwei Tage vorher, am 8. April, war mein Beitrag über die Spirebos erschienen, die Deutschland bereits vor 20 Jahren verlassen haben. Durch mein Pendeln zwischen Bulgarien und Berlin war ich zu der Überzeugung gekommen, dass das Thema Auswandern demnächst explodieren könnte in der Heimat.
Im Juni kam mein Freund und Filmemacher Holger Gross aus Berlin (auf dem Flughafenbild rechts neben mir). Gemeinsam begaben wir uns eine Woche lang auf die Suche nach Landsleuten, die nach Bulgarien ausgewandert sind. Holger, der mich schon mehrfach in den Schluchten des Balkans besucht hatte, mit seiner Kamera – ich mit Stift, Notizblock und einem „Plan“. Darüber hinaus mit Isomatten, Schlafsäcken und dem Zelt meines englischen Freundes Jerry, mit dem er vor 15 Jahren nach Bulgarien ausgewandert war.
„Plan“ in Anführungszeichen, weil dieser sehr bulgarisch war, frei nach dem Motto: „When in Bulgaria, do as the Bulgarians do.“ Nach deutschem Maßstab war das also eher kein Plan. Denn auf dem Balkan, das habe ich längst gelernt, macht man nur Pläne, wenn man Gott zum Lachen bringen will. Keine 24 Stunden, bevor ich Holger vom Flughafen in Sofia abholte, rief ich bei
im Bezirk Jambol an, etwa eine Autostunde vor Burgas am Schwarzen Meer. Am Wasser tummeln sich die meisten Auswanderer, was ein Grund ist, warum ich bisher kaum Kontakt zu ihnen hatte, denn ich bin – wenn in Bulgarien – immer am anderen Ende des Landes. Karl und Elli kenne ich von einer Eselwanderung quer durch das Land. Diese ist zwar schon einige Zeit her, trotzdem hat sich der Kontakt erhalten. Karl und Elli haben ihr Häuschen bereits vor vielen Jahren gekauft, allerdings ohne es sich vorher angesehen zu haben. Ein Vorgehen, dass nicht unbedingt zu empfehlen ist. Trotz der kurzen Vorwarnzeit und obwohl wir sie erst in der Nacht erreichten, hießen sie uns auf das Herzlichste willkommen. Wir mussten unser Zelt nicht aufbauen, sondern konnten in ihrem Wohnwagen übernachten. Leider wollten die beiden nicht vor die Kamera, und sie heißen auch nicht Karl & Elli. Das ist schade, weil sie die einzigen aus dem Osten waren. Dafür haben sie uns mit Kontakten versorgt, beispielsweise zu
Die beiden machten gerade Urlaub in Bulgarien, als es mit Corona losging. Sie fühlten sich von der deutschen Botschaft im Stich gelassen, da sie ihnen nicht sagen konnte, wann und wie sie wieder in die Heimat kommen würden. Zurück in Deutschland, verkauften sie alles, auch Helgas Pension, die sehr gut gelaufen war. Neue Heimat wurde ein altes Haus im Dorf Svetlina in der Gemeinde Sredets vor den Toren von Burgas am Schwarzen Meer.
Liebevoll sanierten sie das Haus und bauten einen großen Wintergarten an, der jetzt ihr Wohnzimmer ist. Dahinter gibt es für Besucher wie uns noch ein Tiny-Haus, in dem sie selbst einige Zeit gelebt haben. Helga und Jörg gehört auch ein Haus auf der anderen Straßenseite, das sie vermieten. Auf ihrem weitläufigen Grundstück gibt es noch einiges zu tun, das meiste davon macht Jörg, während Helga sich mehr um das Gewächshaus kümmert. Eigenversorgung wird groß geschrieben bei den beiden. Über Telegram haben sie Kontakt zu anderen Auswanderern, unter anderem zu
Das Paar, das im September 2022 nach Bulgarien kam, nachdem auch sie vorher alles verkauft hatten, lebt im nahegelegenen Dorf Dyulevo. Antje und Holger haben Deutschland verlassen, weil die Corona-Zeit sie regelrecht krank gemacht hat. Sie kamen nicht alleine, sondern mit Antjes 91-jähriger pflegebedürftiger Mutter, die im letzten Jahr verstorben und auf dem örtlichen Friedhof beigesetzt ist. Auf ihrem 2000 Quadratmeter großen Grundstück haben die beiden nicht nur ein Gästehaus, sondern bauen auch Obst und Gemüse an, wecken ein, machen Saft und brennen sogar ihren Schnaps. Rakija.
Antje und Holger genießen Bulgarien, auch wenn die Freude gerade etwas getrübt ist. Ein Investor möchte nur wenige Meter von ihrem Grundstück entfernt auf einer Fläche von 1.500 Fußballfeldern einen der größten Solarparks Europas errichten. Die beiden haben sich in einem Verein organisiert, in dessen Vorstand Antje aktiv ist, wenn sie nicht wie Helga Bulgarisch lernt. Das Paar hofft, so den Solarpark verhindern zu können, zu dem gerade eine Straße ausgebaut wird. Im kleinen Lebensmittelladens erfahre ich, dass es in Aheloj ein deutsch-bulgarisches Paar mit Eseln geben soll. Spontan entscheiden wir, es in der Kleinstadt am Schwarzen Meer zwischen Burgas und Varna ausfindig zu machen. Wir sprechen dort mit mehreren Leuten, unter ihnen auch
Daniel ist Mitte Zwanzig und seit Corona in Bulgarien. Er kennt die Spirebos und war an ihrem Ort in Südbulgarien, als sie ihn bereits verlassen hatten. Aheloj ist für ihn nur Zwischenstation. Das Paar mit den Eseln kennt er nicht. Auch ein Landsmann an einer Bushaltestelle kennt das Paar nicht. Er sei hier, weil er „mit Deutschland fertig“ hat, nachdem er in Duisburg dreimal mit einem Messer bedroht wurde. Der Frührentner überlegt, ob er in Bulgarien bleiben oder in die Türkei weiterziehen soll.
Zu Aheloj gibt es eine Geschichte. 2021 berichtete der Spiegel über deutsche Wohnanhänger am Schwarzen Meer und Menschen, die nur noch wegwollen aus Deutschland. In dem Beitrag war ein Telegram-Chat zu sehen, der einen Ausschnitt meines Multipolar-Artikels „Bulgarien – die große Freiheit“ enthielt. Der Spiegel musste später in einem Erratum Autor und Quelle hinzufügen.
Auch die Informationen über das Paar mit den Eseln in Aheloj stellt sich als fehlerhaft heraus. Es gibt die Esel und es gibt auch das Paar, allerdings sind beide Bulgaren. Immerhin konnte ich den Kontakt zu diesen Eselleuten herstellen. Auch wenn jeder dritte Bulgare im Ausland lebt (drei von neun Millionen) und diese Leerstelle nicht von deutschen Einwanderern ausgeglichen wird (Anfang 2023 offiziell 4.411), ist der größte Exodus doch der der bulgarischen Esel, zumindest prozentual. Gab es in den 1980ern noch 340.000 im Land, so sind es heute gerade einmal 20.000. Wir fahren weiter Richtung Norden an Varna vorbei zu
in Kamen Bryag am Schwarzen Meer, wo das Paar einen Ministellplatz für Wohnmobile hat und Kräuter und Eier auf dem Markt verkauft. Der Kontakt hat sich über Facebook ergeben. Ich war kurz zuvor extra deswegen der Plattform beigetreten, auf der ich nie sein wollte. Burghart hatte 30 Jahre eine Kräutergärtnerei in der Region Darmstadt/Wiesbaden. Einen kleinen Teil seiner Schätze hat er mit nach Bulgarien gebracht, darunter robuste Olivenbäume. Da es in Bulgarien normalerweise keine Olivenbäume gibt und ich selbst im Dezember zur Olivenernte auf Kreta war, frage ich nach. Burghart bestätigt, dass die Bäume zwar Oliven tragen, es aber nur zum Einlegen reicht und nicht zum Ölpressen.
Nach Bulgarien gekommen ist das Paar, nachdem beiden klar geworden ist, dass sie von ihrer Rente in Deutschland nicht leben können. Ein Phänomen, das ich bisher eher von Engländern kannte. Heute ist Burghart Deutschland dankbar dafür, dass ihm so Bulgarien geschenkt wurde. Auch wenn die Bulgaren erst langsam zu ihnen und ihren Pflanzen finden. Die Einheimischen seien, so Burghart, auch in dieser Beziehung sehr konservativ.
Nur wenige hundert Meter von der Schwarzmeerküste entfernt lebt das Paar von Ersparnissen und von den Gästen auf dem Stellplatz, aber hauptsächlich von dem, was Garten, Natur und Meer ihnen schenken. Ergänzt wird das durch abgelaufene Ware vom Basar oder Lidl. Im Herbst stoppeln die beiden Mais und Sonnenblumen auf den Feldern für ihre Hühner und Enten. Manchmal schneidet Burghart Bäume für die alten Nachbarn und bekommt dafür Früchte. Lilia und Burghart leben also sehr ungeplant, aber gerade das macht sie glücklich – und sie können viel über sich selbst lachen. Das ist es, was sie in Bulgarien genießen.
Vom Schwarzen Meer geht unsere Reise zurück ins Landesinnere in die Nähe der früheren bulgarischen Hauptstadt Veliko Tirnovo zu
Über Ben hatte ich ein Porträt vom Nationalradio gelesen. Der Beitrag hatte praktisch dasselbe Motto wie mein Beitrag auf Multipolar:
Ben aus Deutschland: „Bulgarien ist Freiheit“.
Der Leser erfährt, dass Ben und seine Frau Lena bereits 2016 von einer Kleinstadt im südlichen Ruhrgebiet in ein bulgarisches Dorf gezogen waren und dass sie nicht einfach nur ausgewandert sind, sondern ihr Leben komplett umgestaltet haben. Zu Bens neuem Leben gehören die Podcasts mit dem gleichaltrigen Björn, der mit einer Bulgarin verheiratet ist. Wir erfahren, dass der Sohn von Björn autistisch ist. Im ländlichen Bulgarien eine Herausforderung.
Zusammen betreiben die beiden bierliebenden Heavy-Metal-Fans die Seite Prikaski (auf Deutsch: Geschichten) und einen gleichnamigen YouTube-Kanal, wo es eher humorvoll zugeht. Über sich selbst schreiben sie:
Das sind wir – Björn und Ben. Im Grunde haben wir sehr viele Gemeinsamkeiten wie zum Beispiel die Liebe zu Metal und Bier, wir leben beide mit unseren Familien und Tieren auf bulgarischen Dörfern, wir sind gleich alt und selbständig. Und doch sind unsere Leben sehr unterschiedlich, wie wir immer wieder aufs Neue feststellen. In unserem Podcast geht es um das bulgarische Dorfleben mit all seinen Tücken, jede Menge Spaß und unsere Erlebnisse und Erfahrungen als integrierte Ausländer in Bulgarien.
Nach dem Besuch bei Ben & Björn fahren wir weiter zur spirituellen Regenbogen-Gemeinschaft, den
Da ich bereits über sie geschrieben habe, möchte ich erwähnen, wie wichtig es für uns war, ein Vertrauensverhältnis zu unseren Protagonisten aufzubauen. Oder wie Holger zu sagen pflegte: „Wir kommen nicht als Raubritter!“ Und wir hatten auch keine Agenda. Wir waren vor allem neugierig und haben den Menschen zugehört, um ihre Beweggründe für das Verlassen der alten Heimat zu erfahren und ihr neues Leben in Bulgarien zu verstehen. Der Trailer über unseren Roadtrip wird ohne Kommentare auskommen. Die Bilder und die Protagonisten sollen für sich selbst sprechen. Zum Schluss führte unser Weg zurück in die Hauptstadt Sofia, wo wir
trafen, mit 36 und 40 Jahren unsere jüngsten Protagonisten, die über Facebook auf unser Projekt aufmerksam geworden sind. Wir verabreden uns vor dem alten Mineralbad, in dem mein Vater mir vor 50 Jahren den Rücken schrubbte und das heute ein Ausstellungsort ist. Das Paar hatte eine Stadtführung für uns vorbereitet, auf der selbst ich noch das eine oder andere gelernt habe. Tatjana und Jerome glauben, dass die Hauptstadt für ein breiteres Publikum interessant sein könnte – besonders für jüngere Menschen. Viele würde noch immer denken, Bulgarien sei nur etwas für Rentner oder Selbstversorger. Dabei bieten Städte wie Sofia vor allem für digitale Nomaden, Kreative und junge Unternehmer spannende Möglichkeiten: hohe Lebensqualität, niedrige Lebenshaltungskosten und ein modernes, urbanes Umfeld. Die Metro zählt zu den besten Europas, und Sofia ist seit Jahren Drehort internationaler Filmproduktionen.
Die Bedingungen für digitales Arbeiten, internationale Vernetzung und die niedrigen Lebenshaltungskosten spielen ihrer Meinung nach eine große Rolle. Ein weiterer Pluspunkt sei das Steuersystem: zehn Prozent Flat Tax und fünf Prozent auf Dividenden – ideal für Selbständige. Hinzu kommt, dass sich beide in Sofia sehr sicher fühlen, auch wenn die Berichterstattung oft etwas anderes vermuten lässt. Tatjana und Jerome bieten einen Online-Kurs an: Erfolgreich nach Bulgarien auswandern – Mit System, Struktur & Sicherheit.
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