Es ist jetzt einige Zeit her, dass ich von ihnen hörte. Die Geschichte über die Gruppe deutscher Aussteiger war so ungewöhnlich, dass ich sie nicht glauben wollte. Sie klang wie aus „Tausendundeiner Nacht“ und passte so gar nicht zu Auswanderern aus Deutschland, denn sie führen Ein Leben wie vor 100 Jahren. So der Titel eines Films, gerade veröffentlicht und nach nur zehn Tagen bereits mehr als 120.000 Mal aufgerufen. Ein Beweis, dass es sie wirklich gibt. Und Anlass, sie zu besuchen.
Seit fast 20 Jahren sind die Spirebos unterwegs, unter anderem in Togo in Westafrika, wo sie eine Krankenstation aufgebaut haben. Später lebten sie auf einem Schiff auf dem Atlantik, auf den Kanaren und in Patagonien. In Bulgarien waren sie schon einmal, von 2015 bis 2021. Zurückgekehrt sind sie 2023, diesmal nach Zentralbulgarien, wo sie einen verlassenen Weiler namens Gaydari (auf Deutsch: Dudelsackspieler) im Balkan-Gebirge wieder aufbauen – mit dem Ziel, sich zu 100 Prozent selbst zu versorgen.
Zu Bulgarien muss man wissen, dass das Land bedingt durch die enorme Abwanderung (jeder dritte Bulgare lebt bereits jetzt im Ausland, von den 20- bis 45-Jährigen sogar jeder zweite) die am schnellsten schrumpfende Bevölkerung weltweit hat, ohne dass ein Krieg erklärt worden wäre oder gar stattgefunden hätte. Laut Standard dürfte die Einwohnerzahl bis 2025 um weitere 22,5 Prozent einbrechen. Radio Bulgarien vermutet gar, dass Bulgarien im Jahr 2060 überhaupt keine Landbevölkerung mehr hat. Im Nordwesten, der ärmsten Region, und im zentralen Balkan-Gebirge soll es die meisten verlassenen Dörfer geben.
Auf meinen Weg sehe ich das mit eigenen Augen: Im letzten, nahezu menschenleeren Dorf vor den Speribos begegne ich einer alten Bulgarin, die sich Wasser von einem Hahn im Zentrum holt. Sie wohne allein, sei erst vor Kurzem hierhergekommen. Aus Varna, der größten Stadt am Schwarzen Meer, in die es viele Deutsche zieht. Ich erzähle ihr von den Deutschen im nächsten Weiler und dass ich zu ihnen will. Sie hat von ihnen gehört und fragt, ob sie ihr vielleicht das Dach reparieren könnten.
Das können sie, denn die Gruppe betreibt ganz offiziell eine Firma für ökologisches Bauen, mit der sie ihr Geld verdient. Bisher hat sie aber vor allem mit eigenen Ausbauten und Renovierungen zu tun. Dies und vieles mehr erfahre ich in ihrer Küche, in der gerade frischer Bärlauch zu einer Art Pesto verarbeitet wird. Der Geruch von Knoblauch liegt in der Luft, das Hacken des Bärlauchs ist der Soundtrack meines Besuchs bei den Spirebos.
Die Spirebos – das sind heute 30 Menschen im Alter von 1 bis 67 Jahren. Gestartet sind sie im Jahr 2006 mit 14 Personen. Spirebo ist die Abkürzung für Spirituelle Regenbogen-Gemeinschaft. Der Regenbogen steht für die unterschiedlichen Grundnaturen des Menschen, die eine Gemeinschaft bilden. Denn gemeinsam ist man stärker als allein. Ihre Gruppe halte zusammen, auch wenn man nicht immer einer Meinung sei. Und spirituell bedeutet für sie, dass man die innere Stimme eines jeden wahrnehmen möchte.
Gegründet wurde die Gruppe von Hans Jürgen Hummes, 67 Jahre alt und seines Zeichens Schamane und Naturheiler. Er kennt sich sowohl in der Kräuter- als auch in der Schulmedizin aus. Aktuell bietet er kostenlos via Internet eine Seelenanalyse an. Dass die Speribos Zugang zum World Wide Web haben, sei nicht selbstverständlich, auch wegen der Strahlung. Vor allem aber wegen der Kinder, die nicht mit einem Smartphone aufwachsen sollen.
Jürgen hat neuerdings eine Internet-Verbindung über Star-Link, die er aber auch nur bei Bedarf benutzt, denn Technik schade der Seele, sagt er. Jürgen möchte den Menschen zu ihrem Seelenheil verhelfen, denn der seelische Kompass ist seiner Meinung nach bei 99,9 Prozent aller Menschen gestört. Sein Anliegen ist eine friedvolle geistige Revolution. Auch deshalb habe er Deutschland vor jetzt 20 Jahren verlassen und es seither auch nicht besucht.
Als er und seine Gemeinschaft 2015 nach Bulgarien kamen, war keiner von ihnen jemals hier gewesen. Heute beherrschen einige sogar die Sprache. Damals fanden sie im Süden, an der griechischen Grenze, ein neues Zuhause. Was die Selbstversorgung angeht, haben sie dort sehr viel erreicht: 95 Prozent, schreiben sie auf ihrer Webseite.
Sie legten Gärten und Felder an, bauten ein eigenes Laufrad, um Öl zu pressen. Sie hielten Ziegen, Schafe, Rinder, Wasserbüffel, Hühner, Gänse und viele andere Tiere, darunter auch einen Esel. Sie produzierten Käse, verarbeiteten ihre eigene Wolle und webten Stoffe für Kleidung. Geschredderte Äste und Bäume lieferten bei ihrer Zersetzung Wärme, die sie nutzten.
All dies soll es nun auch an ihrem neuen Standort in Gaydari wieder geben. Einiges ist schon fertig, aber bei Weitem noch nicht alles. Ein Haus wurde renoviert, darin leben die Familien und die Kinder, ein weiteres soll folgen. Die Küche, in der wir gerade sitzen, wurde neu gebaut. Die meisten Speribos wohnen in den fünf Bauwagen, die teilweise fertig sind, und in zwei Wohnwagen.
Hinter einem Bächlein entstand eine Meditationshütte, in die sich jeder bei Bedarf zurückziehen kann.
In Gaydari wachsen bereits Kartoffeln, Zwiebeln, Knoblauch und Möhren, demnächst sollen Tomaten und Paprika folgen. An erster Stelle stehen bei den Speribos aber die Tiere. Wenn die Gruppe sich um sieben zum Frühstück in der Küche trifft, sind diese bereits versorgt.
Schafe, Schweine, Hühner – und vielleicht kommt demnächst auch wieder ein Esel dazu. Das erklärt mir Simone, nachdem sie von meiner Leidenschaft für Esel erfuhr. Sie hat ein Buch über das Halten von Tieren geschrieben, das Hüte-Buch, wie sie es nennt, in dem ihr bulgarischer Esel mit einem Foto vertreten ist.
Auch wenn vieles noch nicht fertig ist bei den Speribos – sie freuen sich über jeden, der zu ihnen findet. Derzeit kommt man am besten mit dem Camper her oder mit dem Zelt. Platz gibt es genug, der Gemeinschaft gehören 4,5 Hektar Land, darüber hinaus können sie weitere 20 Hektar nutzen. Gerne würden die Speribos zwei oder drei Häuser in der Nähe erwerben, um sie zu Gästehäusern auszubauen. Alt und jung, gern auch Familien mit Kindern sollen reinschnuppern dürfen in ihr Leben, um entscheiden zu können, ob es etwas für sie ist oder nicht. Man will ein „Sprungbrett“ sein für Menschen, die sich mit dem Gedanken tragen auszuwandern. In ein neues Leben, ganz nah an Natur und Tradition.
Eine weitere Möglichkeit für Besucher ist, sich in der 30 Minuten entfernten Stadt Tryavna einzuquartieren. Die Kleinstadt mit knapp über 7.000 Einwohnern bietet eine sehenswerte Altstadt und viele Museen, beispielsweise für Petko und Pentcho Slawejkow, zwei bulgarische Schriftsteller. In Tryavna überwinterte einst der „Medicus“ auf seinem Weg nach Persien, ebenfalls Heiler und Auswanderer. Genauso wie Jürgen, der Gründer der Spirituellen Regenbogen-Gemeinschaft.
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