Nachdem ich im April das erste Mal auf Kreta war, hat es mich im Dezember erneut auf die größte griechische Insel verschlagen. Grund war die Olivenernte, zu der ich mich selbst bei einem Freund eingeladen hatte. Praktisch so wie Alexis Sorbas sich selbst bei seinem „Chef“ als Koch und Minenarbeiter einlud. Überhaupt waren meine Kreta-Reisen von dem Roman von Nikos Kazantzakis inspiriert, der auf einer wahren Begebenheit beruht.
Mein „Chef“ ist ein Engländer, der schon 20 Jahre auf Kreta lebt und den ich im April kennengelernt hatte. Jeff (71) ist in London geboren und hat viele Jahre als freischaffender Bühnenbildner und Pyrotechniker für Theater und Film gearbeitet. Früh war ihm klar, dass ihm etwas fehlt im Leben. Zusammen mit seiner Frau, einer Historikern, entschied er sich für Kreta. Vor vier Jahren verstarb sie auf der Insel. Beigesetzt ist sie auf dem kleinen Friedhof in Exo Apidia am östlichen Ende der Insel in der Gemeinde Ziros.
Heute leben hier elf Einwohner, mit mir stieg die Zahl auf zwölf. 1900 waren es noch 69. Die den Ort verlassen haben, wohnen heute in den großen Städten der Insel, in Athen oder im Ausland. Ende des Jahres kommt der ein oder andere zurück, um bei der Olivenernte zu helfen.
Dass diese im Dezember stattfindet, ist nicht ungewöhnlich und vor allem der Höhe geschuldet. Der Ort liegt 600 Meter über dem Meeresspiegel. Hinzu kommt, dass es letztes Jahr sehr trocken war und man den Regen im Herbst mitnehmen wollte. Und in der Tat hat es im November und Anfang Dezember viel geregnet.
Von Berlin fliegt man drei Stunden nach Athen. Die U-Bahn vom Flugplatz zum Hafen braucht eine Stunde. Der Hafen von Piräus, wo Sorbas seinen „Chef“ kennenlernte, ist heute kein Ort, an dem man Kontakte knüpft. Eher auf der Fähre, die zwölf Stunden bis Heraklion benötigt, der größten Stadt auf Kreta.
Das Schiff ist für die Jahreszeit gut gefüllt: Familien mit Kindern, Sportvereine und Migranten mit all ihrem Hab und Gut. Nicht wenige verbringen die Nacht im ehemaligen Ballsaal, in dem es auch ein Klavier gibt, auf dem Boden in Schlafsäcken liegend. Die Busfahrt nach Sitia im Osten der Insel, wo Jeff bereits auf mich wartet, dauert drei Stunden. Bis in sein Dorf sind es nochmal 30 Minuten Fahrt. Die Landschaft ist karg. Außer Oliven, etwas Wein und wilden Birnen gibt es praktisch kein Grün, dafür viele Schafe und einige Ziegen.
Die Oliven sind klein, kaum größer als Sultaninen oder Kaffeebohnen. Auch später bei der Ernte frage ich mich immer wieder, ob es nicht Kaffeebohnen sind, die wir da ernten. Auch Kaffee enthält Öl, und abgefüllt wird von uns ebenfalls in einstige Kaffeebohnensäcke. Nur sind Kaffeebohnen, wenn sie geerntet werden, eher rot und nicht schwarz wie unsere Mini-Oliven.
Die Olivenernte beginnt mit dem Auslegen von Netzen unter den Olivenbäumen. Diese sollen die Oliven auffangen. Bevor die ersten wie Kaulquappen ins Netz springen, vergeht einige Zeit. Es erinnert an Malerarbeiten. Bevor man mit dem Streichen beginnen kann, muss alles sorgfältig abgedeckt werden.
Früher hat auf Kreta traditionell die ganze Familie dabei geholfen, die Äste zu schütteln, erzählt Jeff. Teilweise wurde auch mit der Hand geerntet, was aber aufgrund der Größe der Oliven sehr aufwendig ist. Heute erledigen das Schütteln sogenannte Olivenrüttler. Diese lassen allerdings nicht nur die Oliven in die Netze fliegen, sondern auch Blätter und kleine Zweige. Meine Bedenken, dass sie den Ästen schaden würden, zerschlagen sich schnell.
Während das Auslegen der Netze in aller Stille erfolgt, liefert den Soundtrack beim Rütteln der Benzin-Motor des Generators, der den Strom erzeugt, der zum Betreiben der Rüttler benötigt wird. Diese haben einen kleinen 12-Volt-Elektromotor an dem Ende, das man in der Hand hält. Am anderen, zwei Meter entferntem Ende befinden sich jeweils zwei Kugeln mit etwa zehn Zentimeter langen, biegsamen Stacheln. Die Kugeln – bei den teureren Modellen sind es zwei Halbkugeln, die sich gegenläufig bewegen – rotieren und schütteln damit die Oliven von den Ästen.
Am ersten Tag schaffen wir es, zwei 50-Kilogramm-Säcke mit Oliven zu füllen, was für den Anfang ganz gut ist, meint Jeff. Ich verlasse mich auf sein Urteil, denn ich habe noch nie zuvor Oliven geerntet. Jeff hat 85 Olivenbäume an vier verschiedenen Standorten, von denen wir gut 50 abernten. Der Rest trägt entweder gar nicht oder nur sehr wenig, sodass sich die Ernte nicht lohnt. Es sei normal, dass Bäume mal mehr und dann wieder weniger tragen, sagt Jeff, der keine Pflanzenschutzmittel verwendet. Ein Baum beispielsweise, der dieses Jahr viele Oliven trägt, hatte im vorigen Jahr gar keine – und umgedreht.
Olivenöl ist in den letzten Jahren immer teurer geworden. So stieg beispielsweise Ende 2023 der Preis um mehr als 43 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Schuld daran sind Trockenheit und Herbststürme und seit 2013 auch ein Bakterium. Das aus Amerika stammende Feuerbakterium Xylella fastidiosa lässt die Blätter welken, und die Olivenbäume, aber auch andere Nutzpflanzen wie Weinreben, Mandeln und Zitrusfrüchte, vertrocknen. Bisher in Italien, Frankreich, Portugal und Spanien, aber nicht in Griechenland. Größter Importeur von griechischem Olivenöl ist seither Italien, gefolgt von Deutschland.
Jeff erwartet für dieses Jahr einen Literpreis von etwa sieben Euro, wenn er an die Olivenpresse verkauft, was ganz ordentlich sei. Er lag schon mal bei der Hälfte oder gar darunter. Ein wichtiges Kriterium bei der Preisbestimmung ist der Säuregehalt des Öls. Bei „nativem Olivenöl“ liegt er bei über 0,8 Prozent und unter zwei. „Natives Olivenöl Extra“ hat einen maximalen Säuregehalt von 0,8 Prozent. Dies ist der Hauptunterschied zwischen „nativem Olivenöl“ und „nativem Olivenöl Extra“.
Der Säuregehalt, so Jeff, wird durch die Fermentation bestimmt. Wie weit sie vorangeschritten ist, hängt einerseits davon ab, wie lange man warten muss, bis die Oliven gepresst werden. Aber auch davon, auf wie viele Oliven man zuvor beim Ernten getreten ist. Deswegen muss ich immer wieder auf das Netz unter mir schauen, was mich vor einer Halsstarre durch das ständige Nach-oben-Schauen beim Rütteln an den Ästen bewahrt.
Nach vier Tagen sind elfeinhalb Kaffeesäcke gefüllt, die wir zur Kooperative nach Ziros bringen, wo schon zahlreiche mit Säcken beladene Paletten aufs Pressen warten. Drei Tage später sollen unsere Oliven drankommen, was okay ist, meint Jeff, schließlich ist gerade Hochsaison. Die Presse ist eine Kooperative, die nur in der Saison arbeitet, und da auch schon mal Tag und Nacht. Die Technik ist italienisch, es wird kalt gepresst. Es werden ausschließlich mechanische Verfahren angewendet, also keine Chemie hinzugesetzt und auch keine Wärme. Nur dann darf es sich „Extra Natives Olivenöl“ nennen – noch ein wichtiger Unterschied. Auch in Jeffs Dorf gab es einst eine gemeinschaftliche, mechanische Presse, die aber seit Jahren verfällt. Die Technik dort war noch griechisch.
Wir können dabeisein, wenn unsere Oliven gepresst werden, und uns überall umsehen. Die Mitarbeiter der Kooperative sind freundlich und hilfsbereit. Als erstes werden Blätter und kleinere Äste mittels Ventilator weggeblasen. Bauern der Umgebung holen sie, um ihre Schafe und Ziegen damit zu füttern. Als nächstes werden die Oliven gewaschen. Danach landen sie in der Presse. Die Reste können ebenfalls abgeholt werden, und zwar zum Verheizen. Man könnte aus ihnen mittels Wärme und Chemie auch das Oliventresteröl oder „Pomace“ gewinnen.
Jeder Bauer bekommt das Öl seiner Oliven. Abgefüllt wird es mit einer Zapfpistole wie an einer Tankstelle. Unsere 512 Kilo Oliven ergeben 96 Liter Öl. Jeff erzählt mir, dass für die Einheimischen die Olivenernte auch eine Frage der Ehre sei. Diese lasse sich messen in den Litern Öl, die aus einem Sack, also 50 Kilogramm Oliven, gepresst werden. Damit möglichst viel Öl entsteht, müssen zuvor sämtliche Blätter und kleine Äste herausgesucht werden, was eine Heidenarbeit ist. Tut man es, kann man auf 12 bis 14 Liter kommen. Wir dürften mit knapp zehn Litern Öl aus 50 Kilogramm Oliven eher im Mittelfeld liegen. Jeff zahlt der Kooperative 54 Euro fürs Pressen, etwa die Hälfte des Preises bei einer privaten Olivenpresse. Inklusive ist die Bestimmung des Säuregehalts. Der unseres Öls beträgt nur 0,03 Prozent – und das schmeckt man!
Zwischen Ernte und Pressen zeigt Jeff mir seine Insel. An erster Stelle sind dies verlassene Dörfer, mindestens fünf an der Zahl. Mir fällt auf, dass zwar die Häuser verfallen, aber nicht die Kirchen. Sie werden von den Bewohnern der Nachbardörfer erhalten. Ich muss an Sorbas denken, der nur in die Kirche ging, um nicht für einen Freimaurer gehalten zu werden.
Im Roman von Kazantzakis verfallen keine Häuser, dafür bricht am Ende die von Sorbas gebaute Seilbahn zusammen. Dieser „großartige Zusammenbruch“ wird mit einem gemeinsamen Tanz zur Musik von Mikis Theodorakis am Strand gefeiert. Eine unvergessliche Szene am Ende des Films. Auch wir fahren zum Strand, der zu dieser Jahreszeit menschenleer ist. Dort tanzen wir aber nicht, sondern sammeln trockenes Holz für Jeff. Damit er nicht nur genug Olivenöl, sondern auch ausreichend Heizmaterial hat. Und weil er keine Oliven-Abfälle verheizt.
Jeff erinnert mich an meinen besten Freund in Bulgarien, der ebenfalls Engländer ist und Jerry heißt. Jerry (66), der lange Zeit in der englischen Armee diente, lebt seit 15 Jahren im Herkunftsland meines Vaters. Auch er vermisste etwas, genau wie Jeff. Und am Ende fehlte beiden das Geld für einen angenehmen Lebensabend in ihrer Heimat. Eine Erkenntnis, die sich in England, anders als in Deutschland, bereits vor Jahren durchgesetzt hat. Und noch etwas ist anders: Während deutsche Auswanderer lieber unter sich bleiben, fühlen sich Engländer eher als Teil der angestammten Bevölkerung. So meine Beobachtung.
Doch zurück nach Kreta, von wo aus mir Jeff 17 Liter Öl aus den gemeinsam geernteten Oliven als Weihnachtsgeschenk nach Bulgarien schickte. Hatte ich ihn eingangs „Chef“ genannt, so war er am Ende mein „Sorbas“. Er lebt einfach, aber gut, denn er hat alles, was man zu einem erfüllten Leben braucht. Er muss aber auch viel arbeiten, denn immer gibt es irgendwas zu tun. Doch das macht Spaß, besonders dann, wenn das Ergebnis so phantastisch schmeckt wie Jeffs Olivenöl. Danke, „Jeff Sorbas“.
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