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Oben & Unten | 18.06.2025
Absurder Arbeitsfetisch
Die Deutschen sollen wieder einmal mehr arbeiten, ohne dass gefragt wird, was das denn bringen soll. Eigentlich brauchen wir etwas ganz anderes.
Text: Felix Feistel
 
 

Wenig überraschend haben die Vertreter der BlackRot-Koalition ein Thema für sich entdeckt, das die Politik in regelmäßig wiederkehrenden Wellen beschäftigt: Die Deutschen arbeiten zu wenig. Ganz besonders drastisch sieht es, so CDU-Generalsekretär Linnemann, bei den Rentnern aus. Es kann ja nicht sein, dass sich ein Rentner nach bis zu 45 Arbeitsjahren einfach auf die faule Haut legt. Eine Aktivrente müsse her, denn, so Linnemann weiter, die Arbeitsstunden in Deutschland seien einfach zu wenig.

Abgesehen von dem Umstand, dass Linnemann hier schlicht Fake News verbreitet – nie arbeiteten mehr Rentner als heute, stellt sich eine Reihe von Fragen. Zunächst: Wie misst man eigentlich, dass „genug“ Stunden in Deutschland gearbeitet werden? 2024 haben die deutschen Erwerbstätigen insgesamt fast 61,4 Milliarden Stunden gearbeitet. Dabei ist Schwarzarbeit nicht einkalkuliert. Man geht von etwa 3,3 Millionen Schwarzarbeitern im Jahr 2024 aus – mit einer hohen Dunkelziffer. Es wird zwar bemängelt, dass diese keine Steuern und Sozialabgaben leisten, aber realistisch betrachtet tragen sie zur Produktivität enorm bei – vor allem, da sie oftmals in Bereichen arbeiten, welche die Mehrheit eher meidet.

Ab wann sind also genug Arbeitsstunden geleistet? Genug wofür eigentlich? Wo sollen diese Arbeitsstunden in einem Land, das Rezession und Pleitewellen erlebt, eigentlich geleistet werden? Was sollen sie bringen? Denn im Ergebnis geht es doch darum, mit Arbeit zum Gemeinwohl beizutragen – etwas aufzubauen, die Ernährung, Energie- und Wasserversorgung sicherzustellen und allen Menschen in Deutschland ein möglichst angenehmes Leben zu ermöglichen. Dieser Zweck wird durch die Reduktion auf reine Arbeitsstunden vollkommen unterlaufen. Denn dann bemisst sich der Erfolg (ähnlich wie beim BIP) nur noch in relativen Steigerungen im Vergleich mit der Vergangenheit. Mehr Arbeitsstunden bedeuten damit auch eine Verbesserung.

Dem ist aber gar nicht so. Schon die Gelehrten im antiken Griechenland wussten: Zu einem produktiven Leben gehört die Erholung genauso wie die Arbeit. Intuitiv haben das auch Schriftsteller wie Thomas Mann oder Ernest Hemingway, Wissenschaftler wie Charles Darwin und Politiker wie Winston Churchill erfasst. Sie widmeten nur wenige Stunden ihres Tages der Arbeit und verbrachten den Rest der Zeit mit Freizeitaktivitäten. Auch die moderne Wissenschaft hat das längst belegt. Der Mensch kann für etwa vier Stunden am Tag produktiv sein. Danach trägt er nichts Wesentliches mehr bei – mehr Arbeit bedeutet also keine Produktivitätssteigerung. Tatsächlich gehört die Erholung zum Produktionsprozess wie die Arbeit. Wenn der Fokus nicht mehr auf die Arbeit gerichtet wird, arbeitet das Gehirn trotzdem unterbewusst weiter – und kann Lösungen für Probleme finden, auf die man auch nach stundenlangem Nachdenken nicht gekommen wäre.

Was für intellektuelle Arbeit gilt, lässt sich auf handwerkliche Tätigkeiten übertragen. Denn auch hier lässt die Aufmerksamkeit nach einiger Zeit nach. Es schleichen sich Fehler ein, die die Qualität des Werkes mindern. Auch hier können Probleme entstehen, für die kreative Lösungen gefunden werden müssen – erleichtert durch die Erholungsphase. Tatsächlich wurde nie so viel gearbeitet wie heute. Von der Steinzeit über die Antike und das Mittelalter bis in die frühe Neuzeit: Stets haben die Menschen ein ausgewogeneres Verhältnis zu ihrer Arbeit gehabt als wir heute. Erst mit der Erfindung der Maschine und der Fabriken hat sich das geändert. Und zwar bis heute, obwohl die Maschinen uns doch alle Arbeiten abnehmen sollten.

Allerdings erlaubt das auf Turbo und schnellen Profit getrimmte Wirtschaftssystem nicht, angemessene Arbeitszeiten überhaupt nur einzuführen. Wir leben noch immer mit dem Wahn von 8-Stunden-Tagen und 40-Stunden-Wochen. Eine weitere Steigerung der Arbeitszeit steigert hier nichts – außer der mentalen und körperlichen Erschöpfung. Hinzu kommt, dass die Profite nicht den Menschen zugutekommen, indem sich Lebensumfeld und Lebensqualität verbessern. Stattdessen fließen sie einfach in die Taschen der Aktionäre.

Daher müssen wir nicht einfach der Forderung nach mehr Arbeit nachkommen, sondern das ganze System so ändern, dass es den Bedürfnissen der Menschen gerecht wird. Aber das erfordert große Veränderungen, zu denen die Mehrheit wahrscheinlich aus Bequemlichkeit und Gewohnheit nicht bereit ist.

Felix Feistel veröffentlicht seit 2017 Texte über das aktuelle Zeitgeschehen bei Manova, Apolut, tkp & Multipolar. Mehr auch auf seinem Telegram-Kanal.

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Bildquellen: Carsten Linnemann 2023. Foto: Dr. Frank Gaeth, CC BY-SA 4.0