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Artikel | 07.10.2023
Staat mit Milieumedien
Das journalistische Feld sortiert sich neu und lässt dabei Begriffe wie Mainstream oder Alternativmedien obsolet werden.
Text: Michael Meyen
 
 

Ein „Demokratiepass“ für das Publikum: Der Staat und seine Träger geben sich immer weniger Mühe, die Abhängigkeit von Funk und Presse zu verschleiern. Selbst wenn das eine Schnapsidee bleiben sollte, zeigt der Vorschlag von Björn Staschen, dass das Mediensystem im Umbruch ist. Für Portale wie *Manova ist damit Klarheit verbunden. Sie bieten ihren Unterstützern eine Heimat und kommen nur dann über diesen Kreis hinaus, wenn sie mit anderen Milieumedien Pingpong spielen.*

Dieser Text ist auf der Margareteninsel gewachsen, im Herzen von Budapest, wo es Ende September noch richtig Sommer war. Mittags knapp 30 Grad, der Himmel strahlend blau und der Rasen nicht nur grün, sondern auch leer. Abstand hilft. Plötzlich passen Dinge zusammen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. In einem Satz: Die deutsche Medienlandschaft erlebt gerade ein Beben, das unseren Blick auf Journalismus und Öffentlichkeit verändern wird.

Nach einer Stunde auf dieser ungarischen Wiese schien mir alles ganz einfach. Auf der einen Seite werden wir Sprachrohre des Staates haben und auf der anderen Milieumedien. Vorbei die Zeit, in der Redaktionen auf Objektivität, Neutralität, Unabhängigkeit schwören und Forscher wie ich mühsam erklären müssen, warum am Ende trotzdem immer die Position der Konzern-Parteien-Koalition gewinnt (1).

Vorbei auch das Rumeiern bei den Begriffen. Leitmedien oder Mainstream hier, Alternativmedien, freie Medien, neue Medien, Gegenöffentlichkeit dort. Richtig zufrieden war ich mit alldem nie. „Staatsmedien“ trifft es zwar auch nicht ganz, weil westliche Staaten in aller Regel auf Medienbesitz verzichten, um sich von Russland, Uganda oder auch der DDR abgrenzen und in Rankings zur Medienfreiheit punkten zu können, die wundersamerweise genau das zum Kriterium machen. „Abzüge überall da, wo der Staat, Politiker oder Parteien selbst Medien betreiben“, habe ich in einem Manova-Text geschrieben. Überschrift: „Der Westen gewinnt immer“. Dieser Westen hat einfach behauptet, nichts mit der Medienrealität zu tun zu haben, und den Leuten das von klein auf eingetrichtert. Dieser Schleier kann jetzt fallen, weil eine kritische Masse ohnehin nicht mehr an die Mär von der vierten Gewalt glaubt.

Staats- und Milieumedien: Die einen geben Themen, Sprachregeln und Moral vor – das, was ich kennen und oft auch öffentlich vertreten muss, wenn ich mich jenseits von Freunden, Familie, Blase nicht isolieren will. Die anderen helfen mir, mit dem Anpassungsdruck klarzukommen. Konkret: Tagesschau, Süddeutsche Zeitung und Lokalblatt sagen uns, was die anderen wissen und für so real halten, dass sie Verhalten und Entscheidungen daran ausrichten. In den Maskenmonaten hat das jeder Manova-Leser spätestens dann bemerkt, wenn er oben ohne in den Supermarkt ging. Dieses Portal wiederum hat ihn gerettet, wenn er nach Hause kam. Ich bin nicht allein und auch nicht verrückt. Milieumedien bringen Gleichgesinnte zusammen und sorgen so für Zugehörigkeit, für Stabilität, für Identität.

Noch einmal anders: Nur bei den Staatsmedien können und müssen wir unterstellen, dass alle registriert haben, was dort gemeldet wurde. Staatsmedien füllen das, was Niklas Luhmann „Gedächtnis der Gesellschaft“ genannt hat. Das Zitat stammt aus den 1990ern, als man noch „Massenmedien“ sagen konnte, ohne zwischen Staat und Milieu unterscheiden zu müssen. Bei Luhmann gibt es Massenmedien nur, weil wir so etwas wie ein Gedächtnis für alle brauchen. Einen Schatz an Gemeinsamkeiten, auf den wir selbst dann zurückgreifen können, wenn wir unser Gegenüber noch nie gesehen haben. Niklas Luhmann sagt, dass das „System Massenmedien“ Information „so breit“ streue, „dass man im nächsten Moment unterstellen muss, dass sie allen bekannt ist (oder dass es mit Ansehensverlust verbunden wäre und daher nicht zugegeben wird, wenn sie nicht bekannt war)“. Auf diese Weise entstehe eine „zweite, nicht konsenspflichtige Realität“ – ein „Hintergrundwissen“, von dem man bei jeder Kommunikation ausgehen könne. Der Satz, mit dem er sein Buch eingeleitet hat, gehört heute zur Allgemeinbildung: „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ (2).

Bei Manova, Apolut, Tichys Einblick, Kontrafunk funktioniert das nicht. Milieumedien bleiben zunächst im Milieu. Ich kann und darf nicht unterstellen, dass meine Nachbarn diesen Text lesen. Selbst wenn sie es tun, werden sie es vielleicht sogar abstreiten, weil ihnen die Staatsmedien sagen, was von Manova zu halten ist. Lies das nicht. Rede zumindest nicht darüber, wenn dir an deinem Gegenüber etwas liegt. Diese Definitionsmacht der Staatsmedien ist verlockend für alle, die etwas zu verlieren haben, und über die Ressourcen verfügen, die man zur Verteidigung braucht – Ministerien, Parteien, andere Apparate, Konzerne, die Ultrareichen und ihre Stiftungen.

Ich werden gleich erklären, wo die Übergänge zwischen Staats- und Milieumedien fließend sind und warum es sich deshalb für einen Milliardär wie Frank Gotthard lohnt, in ein Portal wie Nius zu investieren, das zwar als Milieumedium angefangen, aber schon am ersten Tag behauptet hat, die „Stimme der Mehrheit“ zu sein. Zunächst aber zu den Staatsmedien. Über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk muss ich hier nicht viel sagen. Die Tarnung funktioniert nicht mehr und wird über kurz oder lang fallen. In einigen ostdeutschen Bundesländern überweisen inzwischen gut zehn Prozent der Haushalte keinen Beitrag. In Großbritannien, wo das Publikum aussteigen kann, sind die Zahlen ganz ähnlich. Die BBC hat seit 2021 anderthalb Millionen Abos verloren (3). Die Regierung in London hat die Gebühren 2022 eingefroren und entschieden, dass sie 2027 ganz fallen. Frankreich war noch schneller. Dort haben Nationalversammlung und Senat vor gut einem Jahr beschlossen, den Rundfunk aus Steuern zu finanzieren – befristet vorerst bis Ende 2024, um das Geschrei nicht ganz so laut werden zu lassen. Man muss kein Prophet sein, um das Ende des Rundfunkbeitrags vorherzusagen und damit das Aus für die öffentlich-rechtliche Idee.

Bei Verlagen und Digitalkonzernen ist die Lage etwas komplizierter. Milliardäre lassen sich nicht so leicht enteignen. Also nimmt man sie an die Kandare – mit Zuckerbrot und Peitsche. Gesetze, Selbstverpflichtungen, Werbeanzeigen (4). In Deutschland wissen die Medienhäuser spätestens seit dem Sommer 2020 außerdem, dass sie jederzeit auf den Staat zählen können. Der Corona-Nachtragshaushalt von 220 Millionen Euro ist zwar nicht ausgezahlt worden, hat aber das Subventions-Tabu gebrochen.

Das war eine der Meldungen, die mich auf der Margareteninsel umgetrieben haben: Offenbar ist inzwischen auch der Vorschlag gestorben, Steuergelder in die Zustellung der Lokalblätter zu pumpen. Zum einen sagt der Ampel-Haushalt für 2024 dazu kein Wort, und zum anderen kommen die Verlage offenbar mit ihren Erpressungsmodellen durch. Madsack jedenfalls freute sich Ende September, dass in der Prignitz über 60 Prozent der Printabonnenten ins Digitale gewechselt sind. Zur Erinnerung: Der Verlag hatte angekündigt, den Prignitz-Kurier ab Oktober nicht mehr zu drucken, und wird das nun auf andere Landkreise ausweiten.

Für Staatshilfen gibt es deshalb eine neue Idee: Gutscheine für jeden Haushalt. Der Kulturpass von Claudia Roth lässt grüßen. Beworben wird das mit den Formeln, die jeder aus den Staatsmedien kennt. „Unser gesamtes Mediensystem ist bedroht“ und nicht nur die Presse. Wir brauchen „mehr Dialog und Debatte“. Lasst uns also in „demokratiefördernde Medien“ investieren. Dann kann sich auch der Arbeitslose endlich das Morning-Briefing vom Handelsblatt leisten oder sogar die FAZ. „Meinungsbildung und Information“ für alle. Demokratie pur, da die Nutzer selbst entscheiden, welche Angebote profitieren und welche nicht.

Soweit die Werbung. Der Haken kommt wie immer ziemlich weit hinten: „Wir brauchen eine Art Gütesiegel für demokratiefördernde Angebote“, schreibt Björn Staschen, der sich das Ganze ausgedacht hat. „Eine Demokratieampel, die ich mir analog zur Lebensmittelampel auf Verpackungen oder dem Tierwohllabel vorstelle: rot für monolithische Angebote wie Instagram oder demokratiefeindliche Plattformen, gelb für Angebote, die viele Standards erfüllen, aber (noch) nicht alle, grün für vorbildliche Plattformen wie Angebote im Fediverse, die Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender oder den Bezahlnewsletter meiner Regionalzeitung.“ Staatsmedien statt Demokratie, unverhohlen ausformuliert: „Die Gesellschaft, also Bund, Länder, aber auch Stiftungen und andere Akteure müssen Millionen in diese Ampel und in die Förderung ‚grüner‘ Angebote stecken“. Björn Staschen sagt zwar, dass sein Gütesiegel den Einfluss der Digitalkonzerne brechen und auf keinen Fall direkt vom Staat vergeben werden soll, aber jeder kann sich ausmalen, wer in seinen „Digitalboards“ sitzen wird und welche Angebote am Ende Geld bekommen.

Das führt direkt zu den Milieumedien, die alle Journalismusbeobachter in den letzten Wochen beschäftigt haben. Das Neue Deutschland am Ende. Titanic pleite. Katapult vor dem Aus. Woran das liegt, muss ich an dieser Stelle nicht erklären. Katapult, um gleich bei diesem Beispiel zu bleiben, wollte meine Landsleute im Nordosten umerziehen und hat sich am Nordkurier abgearbeitet, einem Regionalblatt, in dem doch tatsächlich hin und wieder Kritik an der Coronapolitik zu finden war. Dem Sommer des Jammers folgte ein Frühherbst der Auferstehung. Die Milieus haben ihren Göttern geopfert. Spenden, Abos, digitaler Rückenwind. Neues Deutschland, Titanic und Katapult leben weiter, weil ihre Fans sie brauchen und dafür vermutlich schon bald mit Staatsgutscheinen wedeln können. Ich gehe davon aus, dass Björn Staschen genau das im Sinn hat: Sein „Demokratiepass“ wird zu Konformität erziehen und Milieumedien verführen, ins Staatslager zu wechseln oder dort zu bleiben. Das lohnt sich auch deshalb, weil die Staatsmedien im Fall der Fälle helfen. Die Rettungsmeldungen gab es nur, weil die Not in der großen Öffentlichkeit ein Thema war.

Als ich meiner Frau auf der Margaretenwiese von dieser Idee erzählte, kamen sofort Einwände. Die taz ein Milieu- und kein Staatsmedium? Das ND und Katapult, wo es auch um Steuergelder geht für Projekte, die die offizielle Linie weiterzeichnen und dabei sehr dick auftragen? Ja und nein. Das sind die Übergänge, die ich vorhin meinte. Die Konzern-Parteien-Koalition nimmt es dankbar mit, wenn ein Milieumedium für sie Werbung macht, und fördert das im Zweifel auch – bald vielleicht sogar über einen Platz auf der Gutscheinliste. Wirklich relevant sind aber nur die Plattformen, die die Milieugrenzen überspringen und das Potenzial haben, tatsächlich alle zu erreichen, im Kreis, auf Länderebene, im ganzen deutschsprachigen Raum. Man muss sich dafür nur das anschauen, was es in die Pressespiegel der Behörden schafft und die Entscheider dazu bringt, öffentlich zu reagieren.

In Budapest habe ich gelesen, dass Axel Springer darüber nachdenkt, die Bildzeitung zu verkaufen. Durch meine neue Brille macht das sofort Sinn. Das Bild-Publikum, männlich, älter und eher ohne Bachelorzeugnis, wird keine Zeitung kaufen wollen, die als Erzieher daherkommt, die Hauptnachrichten aus dem TV wiederholt und am Ende vielleicht sogar gendert. Also lieber auf das Demokratiegeld verzichten oder auf die Stammleser? Axel Springer sagt offenbar: blöde Frage. Weg mit der Papierzeitung. Auf der Heimfahrt habe ich dann mit einem Kollegen über T-Online gesprochen. Ein Staatsmedium, klar, wenn man Staat und Konzerne mit Sheldon Wolin (5) als Einheit denkt. T-Online gehört Ströer, einem Werbegiganten, der vor allem von öffentlichen Aufträgen lebt und einen Teufel tun wird, die Hand zu beißen, die ihn füttert. Also Feuer frei auf alles, was Regierungen, Parteien, Behörden, Politiker kritisiert.

Was folgt aus alldem für Manova und Co. – für Milieumedien, die sich nicht mit dem Staat einlassen wollen und deshalb Rot sehen werden auf der „Demokratieampel“? Punkt eins: Das Stoppzeichen ist so real, dass es jeden Tag zum Aus führen kann. Milieumedien existieren nur so lange, wie der Digitalkonzernstaat das will (6). Das Beispiel KenFM lehrt, dass die Toleranz mit der Größe schwindet (7). Punkt zwei: Das Milieu markiert die Grenzen der journalistischen Freiheit. Wenn die These stimmt, dass es hier in erster Linie um Zugehörigkeit, Stabilität und Identität geht, dann kann keine Redaktion die Wünsche des Milieus ignorieren, in dem sie wurzelt. Das heißt: Sie kann das schon, wird damit aber untergehen. Punkt drei: Das Gedächtnis der Gesellschaft bleibt für Milieumedien verschlossen, wenn sie nicht kooperieren. Staatsmedien werden ein Thema nur dann aufgreifen, wenn es eine Wucht entfaltet, die die vielen kleinen Blasen sprengt. Kooperation ist etwas anderes als Fusion. Ich war in diesem Sommer beim Autorentreffen von Manova und beim Sommerfest von Nuoviso und habe mit Leuten gesprochen, die mit dem Kontrafunk über den Bodensee geschippert sind. Drei sehr unterschiedliche Milieus, die ihre Plattform brauchen und in den meisten Punkten trotzdem sehr eng beieinander sind.

Quellen und Anmerkungen

(1) Vergleiche Michael Meyen: Die Propaganda-Matrix, Rubikon, München 2021

(2) Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. 2. Auflage. Westdeutscher Verlag, Opladen 1996, Seiten 9, 43, 120 bis 122

(3) Joachim Huber: Die BBC, die ARD und das Geld, in: Der Tagesspiegel vom 23. August 2023

(4) Vergleiche Michael Meyen: Propaganda und Zensur im Digitalkonzernstaat, in: Kritische Gesellschaftsforschung, Ausgabe 2, August 2023, Seite 47 bis 63

(5) Vergleiche Sheldon S. Wolin: Umgekehrter Totalitarismus. Faktische Machtverhältnisse und ihre zerstörerischen Auswirkungen auf unsere Demokratie, Westend, Frankfurt am Main 2022

(6) Vergleiche Meyen, Propaganda und Zensur (wie Anmerkung 4)

(7) Vergleiche Hannes Hofbauer: Zensur. Publikationsverbote im Spiegel der Geschichte. Vom kirchlichen Index zur YouTube-Löschung, Promedia, Wien 2022, Seite 214 bis 222

Erstveröffentlichung: Manova

Podcast: Apolut

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Bildquellen: misku, @Pixabay