Jeder weiß: Ohne Präsenz in den Leitmedien geht heute nichts. Genauer: Ohne Lob und Zustimmung geht nichts. Keine Karriere, kein Neubau, kein Theaterprogramm. Wenn die Journalisten partout nicht positiv berichten wollen, sollen sie am besten gar nichts bringen. Bloß keine Skandale, bloß kein Shitstorm. Parteien, Behörden und Unternehmen haben dafür nicht nur ihre PR-Apparate ausgebaut, sondern sich auch sonst an die Medienlogik angepasst. Überall telegene Menschen, die permanent Superlative oder nie Dagewesenes produzieren und damit genau das, wonach die Redaktionen ohnehin suchen. Gerade geht die Medialisierung der Welt in eine neue Runde. Da Moral in den Leitmedien inzwischen genauso wichtig ist wie Exklusivität, verschieben sich auch die Kriterien für wirtschaftlichen, politischen und sportlichen Erfolg.
Argentinien ist trotzdem Weltmeister geworden – gegen den Willen der Bildzeitung. Jan Schäfer, in der Chefredaktion für Politik und Wirtschaft zuständig, war nach dem Halbfinale gegen Kroatien außer sich. Diese Rüpel. Noch schlimmer „als vergammeltes Angus Beef“, immer schon. Das „dreiste Handspiel“ des kickenden Gottes 1986, die Wut nach der Viertelfinalniederlage gegen Deutschland 2006. Und jetzt nennt dieser Messi einen Gegner „Dummkopf“. „Macho-Diven-Fußball“ heißt das Schimpfwort bei Bild: „Sie spielen auf Zeit. Sie diskutieren, provozieren. Und lassen sich bei kleinsten Berührungen des Gegners theatralisch fallen. Gerne mit Doppel-Rolle.“ Diese Argentinier. Fußballer, „die Fair Play offensichtlich nur bei ihrer Playstation kennen“. So jemand dürfe auf „keinen Fall Weltmeister werden“, mit Ausrufezeichen in der Überschrift, versteht sich.
Kurz vor Weihnachten sollte ich nicht über Fußball schreiben, schon gar nicht in einer Kolumne mit dem Titel Medienrealität. Schlimm genug, dass diese Kommerzmaschine den Advent überrollen durfte, mit einem Finale im Schein der vierten Kerze auf dem Kranz. Trotzdem. Der Fußball ist für mich wie eine Glaskugel. Hier kann ich sehen, wohin wir alle gehen – im Beruf und in der Freizeit, an Schulen und Universitäten, in der Kultur. Und in den Schaltzentralen der Macht sowieso. Der Fußball spielt auf der großen Bühne. Jeder kann beobachten, wer da was macht oder sagt, und am Ende wissen wir, wie es ausgegangen ist, ohne Wenn und Aber.
Vor allem: Im Fußball kenne ich mich aus. Ich liebe diesen Sport und hatte das Privileg, einen Teil meiner Arbeitszeit mit ihm verbringen zu dürfen (1). Mehr noch: Ich hatte Studenten, die mir geholfen haben. Wir haben alte Spiele studiert, mit Trainern und Beratern gesprochen, Baupläne für Stadien gewälzt, Regelwerke, Autobiografien. Einer der Jungs hat Kopfbälle und Pässe gezählt und mit der Stoppuhr gemessen, wie lange der Ball früher am Fuß war und wie lange heute. Wir haben gelernt: Erst das kommerzielle Fernsehen hat aus dem Fußball den Sport gemacht, von dem unsere Vorfahren immer geträumt haben.
Sie glauben das nicht? Schauen Sie sich das WM-Finale von 1986 an. Auch mit Argentinien, ja. Ein elendes Gestocher und von Eleganz keine Spur, trotz Maradona. 51 Fouls. Irgendwie purzelt der Ball fünfmal ins Tor. Kein Augenschmaus, schon gar nicht für die ganze Familie. In Westdeutschland sitzt Rolf Kramer am TV-Mikrofon und sagt fast etwas verschämt, dass er der eigenen Mannschaft die Daumen drückt. Kein Wort, als der große Felix Magath in der 62. Minute das Feld verlässt (und damit die Nationalmannschaft für immer) und nichts Kritisches zur Aufstellung, obwohl Karl-Heinz Rummenigge, der Kapitän, trotz Verletzung von Anfang an dabei ist und so das Team entscheidend schwächt (2). Die Bundesligastadien sind damals halbleer und eher Orte der Gewalt als eine Arena, in der die Reichen und Schönen sich selbst sehen und vom Volk bewundert werden wollen. Die Kameras lassen die Trainerbänke außen vor, und dass ein Spieler live auf dem Bildschirm sprechen könnte, hätten viele vermutlich für eine Form der Blasphemie gehalten. Lass sie laufen und schießen, diese Proleten in den kurzen Hosen. Interviews geben allenfalls die Manager.
Ich muss hier nicht alles wiederholen. Sie können das nachlesen in dem Buch, auf das Anmerkung 2 verweist. Die wichtigste These dort: Die Zulassung von RTL und Co. hat nicht nur im Fußball die Karten neu gemischt. Fernsehen durfte plötzlich Fernsehen sein – und alle anderen mussten darauf reagieren, wenn sie weiter gute Presse wollten. Beim Fußball weiß das jeder Fan. Vereine, Spieler und Trainer werden heute geschützt von einem Kokon aus Imageprofis. Tolle Bilder, geschliffene Sätze, ein Zwinkern für das Livepublikum. Gelernt ist gelernt. Coach und Präsident sehen aus wie Hollywoodlegenden, und die Spiele sind schneller geworden und spannender, bis in die elfte Minute der Nachspielzeit. Fouls? Gibt es noch, ja. Aber undenkbar, dass jemand den Star des Gegners im Mittelkreis mit der Faust zu Boden schlägt, einfach so. Tatort: das Volksparkstadion in Hamburg, ein Halbfinale im Europapokal 1980. Vicente del Bosque von Real Madrid, später Nationaltrainer in Spanien, haut Kevin Keegan um, Namenspatron von vielen kleinen Jungs in der DDR. Das Fernsehbild ist unscharf und der Reporter nicht sonderlich überrascht. Er registriert die rote Karte und spricht wieder über den HSV.
Meine Studenten haben sich dann Parteitage angeschaut, Tiergärten und Gymnasien. Sie sind in Flagshipstores gewesen, in Firmenzentralen und in Chefetagen jeder Couleur. Und sie haben unser Leben gescannt. Urlaub, Küchen, Hochzeiten (3). Überall das gleiche. Der Imperativ der Aufmerksamkeit, diktiert von einem Mediensystem, das so viele Zuschauer wie möglich braucht und dafür nach Überraschungen sucht, nach Prominenz, nach Königskriegen. Weltmeister von 1990 wirft Weltmeister von 2014 Totalversagen vor und schläft mit seiner Frau. So etwas geht immer.
Eigentlich müsste ich schreiben: So etwas ging immer. Die Logik der Digitalplattformen hat unmerklich erst die Redaktionen infiltriert und auf diesem Weg dann nach und nach auch alles andere. Es genügt heute nicht mehr, gut auszusehen und eine Geschichte erzählen zu können, die so noch niemand gehört hat oder die wenigstens so gut ist, dass die Wiederholung nicht stört. Fernsehen pur war gestern. Wer auf Twitter und Co. eine Nummer sein möchte, muss ein Identitätsangebot machen. Dafür oder dagegen. Wir oder sie. Teamsport. Das liebe ich, das hasse ich (4). Diese Gauchos. Gerissen. Mies. Sagt Jan Schäfer aus der Chefredaktion der Bildzeitung.
Ein Bekannter, früher weit oben bei einem Dax-Konzern, schrieb mir gerade, dass er jetzt zwei Wochen jeden Tag ein zweites Blatt im Kasten hatte, wahrscheinlich zu Werbezwecken. Erst den Münchner Merkur, dann die Bildzeitung und schließlich die taz. Zitat aus dieser Mail: „Ich fand es frappierend, fast beklemmend: In der ganzen Zeitung gab es praktisch keinen Artikel, der einfach nur berichtete, dass irgendwo irgendwas passiert ist oder irgendjemand irgendwas gemacht hat, um dann dem Leser sein eigenes Urteil zu überlassen. Nein, praktisch alle Artikel waren Meinungsverschiedenheiten- und Deutungsartikel, die von der Überschrift und der ersten Zeile an das Berichtete einer bestimmten Botschaft unterordneten.“ Zumindest in Deutschland ist die Logik der Digitalplattformen im Journalismus angekommen. Gesinnung schlägt Distanz und Objektivität.
Wenn meine Medialisierungstheorie stimmt, hat das Folgen für uns alle. Diese Theorie sagt: Medien wirken über einen Umweg (5). Schritt eins: Menschen gehen davon aus, dass Surfen, Fernsehen, Zeitunglesen, Radiohören etwas mit den anderen machen – mit ihrem Wissen, ihren Einstellungen, ihren Gefühlen, ihrem Verhalten. In Kurzform: Wir glauben, dass Medienangebote wirken (6). Daraus folgt Schritt zwei: Wir tun alles, damit wir dort gut wegkommen – wir selbst oder die Organisation, die uns bezahlt, die Idee, an die wir glauben, der Sport, den wir lieben. Der Fußball, um bei diesem Beispiel zu bleiben, hat heute Regeln, die Boxkämpfe auf dem Rasen ausschließen. Blutende Köpfe machen sich in UHD nicht besonders gut.
Twitter und Co. ist das egal. Die Digitalplattformen pushen nicht Schönheit oder gute Geschichten, sondern Moral. „I support the current thing“, hieß das erst bei Elon Musk und dann bei Dushan Wegner. Ich habe lange nicht verstanden, warum selbst Bezahlplattformen wie Sky oder Dazn in ihren Fußballsendungen plötzlich über das Klima sprachen, über Fremdenfeindlichkeit, über den Regenbogen. Warum die Spieler vor dem Anpfiff knien und der Mittelkreis nach Frieden ruft, aber Krieg meint und vor allem einen Sieg der Ukraine. Erst dachte ich: Corona, okay. Die Stadien waren leer. Wahrscheinlich hat die Politik eine Gegenleistung verlangt, wenn sie Geisterspiele erlaubt und Geld zuschießt. Wahrscheinlich sind Merkel und die Ampel schuld, dass die Bundesligakonferenz am Samstag heute nicht mehr einfach Fußball ist wie noch vor acht oder zehn Jahren, sondern eine Nachrichtensendung der anderen Art.
Seit Katar weiß ich: Meine Theorie braucht eine neue Schleife. Bei der Medialisierung geht es nicht mehr darum, Aufmerksamkeit zu maximieren. Es geht um „the current thing“. Es geht um das, was die „Guten“ für richtig halten (7). Mund zu, auch wenn die Einschaltquote in den Keller geht und „die Mannschaft“ damit früher Urlaub hat. Selbst die Bildzeitung spielte vorher mit, obwohl sie sonst auch von Fußballfans lebt und von Menschen, die ihr Geld mit den Händen verdienen. „Manuel, hol’ die Regenbogenbinde raus!“, rief Vize-Chefredakteur René Bosch am 8. November. Franz Josef Wagner, Urgestein des Blattes und schon deshalb eine Instanz, legte einen Tag später in seiner Kolumne nach: „Katar, WM der Schande“.
Wir wissen, wie das Ganze ausgegangen ist. Und wir erleben, dass der Furor der Tugend zumindest in diesem Land vor nichts und niemandem halt macht, weder vor Ministerien und Universitäten, noch vor dem Kapitalismus (8). „Wiedergutmacher“ hat Raymond Unger diese Weltmeisterschaft genannt (9). In Katar sind vier Mannschaften ins Halbfinale gekommen, die eine gute Geschichte zu erzählen hatten. Marokko? Afrika! Arabien! Kroatien? Stolz auf ein kleines Land und den großen, alten Luka Modric. Frankreich? Du schaffst es noch einmal, Baby. Mitfiebern, jubeln, weinen. Fernsehen, wenn man so will. Für die beste Geschichte gab es dann den Pokal. Bei der Bildzeitung musste Franz Josef Wagner in Sachen Argentinien übrigens den Ausputzer spielen. Drei Tage vor dem Finale hob er Lionel Messi in den Himmel der Götter. Man weiß ja nie.
Quellen und Anmerkungen
(1) Vergleiche Michael Meyen: Medialisierung des deutschen Spitzenfußballs. Eine Fallstudie zur Anpassung von sozialen Funktionssystemen an die Handlungslogik der Massenmedien. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, 62. Jahrgang (2014), Seite 377 bis 394
(2) Vergleiche Michael Meyen: Breaking News. Die Welt im Ausnahmezustand. Wie uns die Medien regieren, Westend, Frankfurt/Main 2018, Seite 44, 111
(3) Vergleiche Bianca Kellner-Zotz: Das Aufmerksamkeitsregime – Wenn Liebe Zuschauer braucht. Eine qualitative Untersuchung zur Medialisierung des Systems Familie, Vistas, Leipzig 2018
(4) Vergleiche Michael Meyen: Spaltpilz Twitter. In: Rubikon vom 18. November 2022
(5) Vergleiche Michael Meyen: Theorie der Medialisierung. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, 62. Jahrgang (2014), Seite 645 bis 655
(6) Vergleiche Albert C. Gunther, J. Douglas Storey: The Influence of Presumed Influence. In: Journal of Communication, 53. Jahrgang (2003), Seite 199 bis 215
(7) Vergleiche Mathias Bröckers, Paul Schreyer: Wir sind immer noch die Guten. Ansichten eines Putinverstehers oder wie der Kalte Krieg neu entfacht wird, Westend, Frankfurt/Main 2018
(8) Vergleiche Bruno Wolters: Tugendkapitalismus. Zwei Teile. In: Tumult, Vierteljahreshefte für Konsensstörung, Sommer und Herbst 2022
(9) Vergleiche Raymond Unger: Die Wiedergutmacher. Das Nachkriegstrauma und die Flüchtlingsdebatte, Europaverlag, München 2018
Erstveröffentlichung: Rubikon
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