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Artikel | 23.05.2023
Der Westen gewinnt immer
Jedes Jahr veröffentlichen die „Reporter ohne Grenzen“ ein Ranking, das vor allem eines sagt: Wir sind die Guten.
Text: Michael Meyen
 
 

Das Publikum liebt Ranglisten. Shanghai für die Hochschulen, der Best Country Report für die Lebensqualität und Freedom House für die Freiheit in der Welt. Es gibt Aufsteiger und Absteiger und Jahr für Jahr eine neue Meldung, über die sich trefflich diskutieren lässt – vor allem in Europa und Nordamerika, wo die Sieger wohnen. Man muss die Statistik dafür nicht einmal fälschen, sondern einfach nur das messen, was man selbst am besten kann, und alles weglassen, was das Bild trüben könnte. Bei den „Reportern ohne Grenzen“ sorgen dafür die Geldgeber und Fragen, die sich zum Beispiel in Afrika oder in Südostasien gar nicht stellen. Ergebnis: Die Medien sind bei uns ziemlich frei, auch wenn nicht nur Manova-Leser wissen, dass das so nicht stimmt.

Deutschland rutscht weiter ab, klagen die Leitmedien. Fünf Plätze schlechter als 2022. Nur noch Rang 21 und damit hinter der Slowakei und sogar hinter Osttimor und Samoa. Unfassbar. Zum Glück kennt man die Schuldigen. Zensur? Gott bewahre. Hetze gegen alle, die laut Fragen stellen zum Regierungskurs? Doch nicht bei uns. Dieses Land würde auch in Sachen Pressefreiheit längst Weltmeister sein, wenn da nicht ein paar Unverbesserliche wären, die auf Journalisten ungefähr so reagieren wie ein Stier auf ein rotes Tuch. Glaubt man den „Reportern ohne Grenzen“, dann sind Demos in Deutschland ein gefährlicher Ort für alle, die dort mit Kamera, Mikro oder Presseschild auftauchen. 103 „physische Angriffe“ 2022, davon 87 „in verschwörungsideologischen, antisemitischen und extrem rechten Kontexten“.

Vorweg: Jede Attacke ist eine zu viel. Gleich danach kommt aber der Verdacht, dass das hier ganz gut passt. Man kann erst auf die zeigen, die hierzulande ohnehin unter Beschuss stehen, und dann auf die bösen Buben im Osten. Russland, Vietnam, China, Nordkorea. Plätze 164, 178, 179, 180. Da klingt 21 immer noch wie Champions League. Bundestrainer Marco Buschmann darf deshalb zwar ein wenig betrübt sein und „Drohungen und gewaltsame Übergriffe“ auf Journalisten beklagen, hat aber ansonsten keinen Grund, die politische Rhetorik zu überarbeiten. Zitat, so am 3. Mai zu lesen in vielen Leitmedien: „Die Pressefreiheit ist eines der höchsten Güter im liberalen Rechtsstaat. Sie zu fördern, muss unser Ziel sein; sie zu schützen, ist unsere Pflicht.“

Nun denn, Herr Minister. Lassen Sie uns das in drei Schritten angehen. Nummer eins: Wir schauen auf den Kellner, der da jedes Jahr zum Welttag der Pressefreiheit eine Quittung ausstellt. Nummer zwei: Wir zählen nach. Und Nummer drei: Wir schlagen all das drauf, was in der Rechnung fehlt.

Die „Reporter ohne Grenzen“ sitzen in Paris und sind damit auf den ersten Blick weniger verdächtig als der US-Thinktank „Freedom House“, der bis 2017 jedes Jahr eine Konkurrenzliste veröffentlicht hat und einen Großteil seiner Gelder und Sicherheiten direkt oder indirekt aus dem Staatshaushalt in Washington bezieht. Der Volksmund weiß, was das Brot aus den Liedern macht, die draußen gesungen werden.

Die „Reporter ohne Grenzen“ hatten 2022 ein Budget von gut acht Millionen Euro. Drei Viertel lieferten EU, staatliche Behörden und „kommerzielle Aktivitäten“, etwa Buchprojekte. Private Stiftungen: etwas mehr als eine Million Euro. Konkreter wird es in einem Bericht für 2021, wo zum Beispiel die schwedische Entwicklungshilfe als Großsponsor genannt wird. Rund eine Million Euro. Nach französischen Behörden und dem Außenministerium der Niederlande folgen einige der üblichen Verdächtigen von der anderen Atlantikseite: Ford Foundation, Open Society Foundations, National Endowment for Democracy. Schweden und die Niederlande liegen 2023 in Sachen Pressefreiheit auf den Plätzen vier und sechs.

Das ist gewissermaßen ein Selbstläufer, weil all das in die Wertung kommt, was der Westen gut findet – die formale Trennung von Regierung und Redaktionen zum Beispiel. Andersherum: Abzüge gibt es überall da, wo der Staat, Parteien oder Politiker selbst Medien betreiben. In Uganda zum Beispiel, Platz 133, gibt es keine Werbewirtschaft, die ein TV-Programm finanzieren könnte, und auch kein Publikum, das in der Lage wäre, sich ein entsprechendes Abo zu leisten. Sonntags drängen sich die Menschen dort vor kleinen Hütten mit großen Bildschirmen, um ihren Lieblingen aus der Premier League zuzujubeln und vielleicht einen Wettgewinn einzustreichen, der sie über die Woche trägt. Auf dem Land gehören die Radiostationen in aller Regel lokalen Größen. Kirche, Politik, Wirtschaft. Ich habe dort Interviews geführt und gelernt: Über „Pressefreiheit“ und Informationsqualität sagt das alles wenig. Die Menschen in Uganda wissen sehr genau, wer jeweils zu ihnen spricht, und machen sich ihren Reim darauf.

Neben dem „politischen Kontext“ haben die „Reporter ohne Grenzen“ vier weitere Blöcke in ihrem Punktekatalog. Gesetze, Wirtschaft, Gesellschaft, Sicherheit. Die Fragen decken das ab, was bei uns Standard ist. Dürfen sich Journalisten gewerkschaftlich organisieren? Werden sie bestochen? Können Nachrichtenmedien finanziell überleben? Werden Karikaturen toleriert? Ich will hier nicht zu sehr auf Uganda herumreiten. Nur: Der Beruf wird dort völlig anders gesehen als hier. Es gibt nur eine kleine vierstellige Zahl an Journalisten. Die meisten sind jung, weil die Redaktionen als Sprungbrett gesehen werden zu einem wirklich lukrativen Job in der Verwaltung, in den Unternehmen, in der Politik. Wer zu einer Pressekonferenz fährt, erwartet dort einen Umschlag. Offiziell: Anreisepauschale. Inoffiziell der Preis für einen wohlwollenden Bericht.

Die „Reporter ohne Grenzen“ geben Uganda 2023 trotzdem ein Bienchen: Das höchste Gericht hat ein Gesetz gekippt, dass „Fake News“ im Internet kriminalisieren wollte. Viel Positives gibt es ansonsten offenbar nicht zu melden. Ein paar Medien in Privatbesitz und damit wenigstens ein bisschen Qualität. Dass das zusammengehört, setzt man offenbar voraus. Der Rest ist Schweigen. Ein Präsident, dem die meisten Redaktionen zu Füßen liegen – auch, weil er keine Kritik mag. Schlecht bezahlte Journalisten. Gerichtsverfahren, wenn die Opposition zu lange sprechen darf. Überwachung der Digitalkanäle. Platz 133 halt.

Sind Sie schon gespannt auf das, was die „Reporter ohne Grenzen“ über Deutschland zu sagen haben? Die Kurzversion auf Englisch: etwas weniger als Vielfalt als früher, weil Bild nicht mehr ganz so stark ist. Trotzdem weite Akzeptanz der Medien als Demokratiefaktor, außer ganz rechts außen. Kritik an Regierung und Opposition? Vollkommen normal. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk? Unabhängig qua Gesetz, auch wenn man bei manchen Personalentscheidungen über politischen Einfluss munkelt. Ein paar Probleme bei der Legalität von Leaks, okay, aber dafür hat die Presse eine super Selbstkontrolle und ist folglich ethisch auf der Höhe. Die wichtigsten Probleme: Hass im Netz gegen Frauen, Schwarze und alle, die über Rassismus und Gendern berichten. Populisten, die das Misstrauen in die Presse schüren. Und die Attacken von rechts, siehe oben. In der deutschen Fassung wird das dann im Detail ausgewalzt und muss deshalb hier nicht wiederholt werden.

Ich will nicht alles schlecht reden. Auf den Gewaltteil folgt ein Abschnitt mit dem Titel „Gesetze und Verordnungen zur Überwachung“, in dem die „Reporter ohne Grenzen“ vieles von dem benennen, was schon in naher Zukunft jede Medienfreiheit obsolet machen könnte. Chatkontrolle. Der Digital Services Act der EU und der European Media Freedom Act. Die Gefahr, dass der Gesetzgeber nicht einmal mehr pro forma Verschlüsselungen akzeptiert. Der Druck auf Whistleblower und vor allem eine Politik, die niemanden mitreden lässt, wenn es um das Netz geht. In das Ranking ist all das genauso wenig eingeflossen wie das Netzwerkdurchsetzungsgesetz und der EU-Verhaltenskodex Desinformation, die es den Digitalplattformen in den letzten Jahren erlaubt haben, zu „Zensurmaschinen“ zu mutieren (1). Kein Wort über die Twitter Files, keins über die „Gegneranalysen“ aus dem Zentrum Liberale Moderne und auch keins über den Medienstaatsvertrag von 2020, der aus den Landesmedienanstalten „Kontrolleinrichtungen für die digitale Publikationswelt“ gemacht hat (2).

Überhaupt: Die konzernfreien Medien senden für die „Reporter ohne Grenzen“ offenbar jenseits von Gut und Böse. Und dass die Regierung Fernsehen, Radio und Presse nicht unbedingt selbst betreiben muss wie in Uganda, um ihre Sicht der Dinge flächendeckend zu verbreiten, scheint dort außerhalb jeder Vorstellungskraft zu liegen. Anders ist nicht zu erklären, dass im Bericht zwar ein paar öffentlich-rechtliche Skandälchen auftauchen und der Stellenabbau bei Bertelsmann, Burda und Springer, aber nichts zu lesen ist über die Aufrüstung der Medienapparate in Ministerien, Parteien, Unternehmen (3) und über den Druck, der davon auf Journalisten ausgeht, die zwar keinen Umschlag bekommen, wenn sie ordentlich berichten, aber sicher ein wenig Exklusives, wahrscheinlich eine Beförderung und vielleicht sogar ein Ticket für den Sprung auf die andere, besser entlohnte Seite. Bis es soweit ist, melden sie einfach, dass mit der Medienfreiheit alles okay ist, wenn es da nicht diese Chaoten auf der Straße geben würde. Sonst müsste man sich möglicherweise aufmachen und nach den Ursachen für all die Attacken fragen.

Quellen und Anmerkungen

(1) Vergleiche Hannes Hofbauer: Zensur. Publikationsverbote im Spiegel der Geschichte. Vom kirchlichen Index zur YouTube-Löschung. Promedia, Wien 2022, Seite 138

(2) Ebenda, Seite 143

(3) Vergleiche exemplarisch Michael Meyen: Aufrüstung im Imagekrieg, in: Rubikon vom 2. Dezember 2022

Erstveröffentlichung: Manova

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Bildquellen: kalhh, Pixabay