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Rezension | 23.10.2022
Gegendiskurs
Ulrike Guérot und Hauke Ritz gehen zu den Wurzeln des Ukrainekriegs und finden eine europäische Utopie.
Text: Michael Meyen
 
 

Na bitte: Es geht doch. Man kann die großen Fragen der Gegenwart diskutieren, ohne vor dem hegemonialen Diskurs in die Knie zu gehen und alles zu vergessen, was die kritische Kultur- und Politikanalyse in den letzten Jahrzehnten zutage gefördert hat. Genauer: Ulrike Guérot und Hauke Ritz können das. Hier die Vorkämpferin für eine europäische Republik, Gründerin des European Democracy Lab, und dort ein Geschichtsphilosoph, der die Kultur und langfristige Prozesse für wichtiger hält als das Gerassel der Aktualität und außerdem sagt, dass die USA das intellektuelle Potenzial Russlands weit mehr fürchten als all das, was in den deutschen Leitmedien tagein, tagaus besprochen wird. Ein perfektes Match.

Endspiel Europa heißt ihr Buch – ein Titel, der offenbar in Mode ist. Norbert Häring hat gerade das Endspiel des Kapitalismus ausgerufen. Die Fußball-WM steht vor der Tür, Finale kurz vor Weihnachten. Eigentlich braucht man lauter Siege, um dort auflaufen zu können. Ulrike Guérot und Hauke Ritz berichten von zwei großen europäischen Niederlagen. „Politische Union und kooperative Friedensordnung“: gescheitert spätestens zwischen der „Bankenkrise 2010 und dem Euro-Maidan 2014“ (S. 122), aber eigentlich schon in den frühen 1990ern verspielt, als der Ball gewissermaßen auf dem Elfmeterpunkt lag nach dem Fall der Berliner Mauer, nach dem Segen des Kreml für die deutsche Einheit, nach dem Vertrag von Maastricht. Im Tor standen allerdings die USA – eine Weltmacht, die wusste, wie man so einen Kasten sauber hält. Jenseits aller Metaphern: Das ist die These dieses Buchs.

Mit den USA als Ordnungsmacht kann Europa keine stabile politische Einheit werden und keinen konföderalen Frieden auf dem Kontinent finden. Und ohne die sibirischen Rohstoffe und den chinesischen Markt gibt es auch keinen dauerhaften Wohlstand. Es geht hier nicht um eine Dämonisierung der USA, sondern um europäische Emanzipation. (S. 33)

Ulrike Guérot und Hauke Ritz zeigen, wie sich ein „überheblicher und missionarischer Westen“ nach 1990 anschickte, eine „eindimensionale Auffassung von Demokratie und Liberalismus westlich-amerikanischer Prägung für alle wie Freibier anzubieten, um nicht zu sagen: der Welt aufzunötigen“ (S. 40). Sie belegen, dass es den USA dabei von Anfang an darum ging, Russland als möglichen Rivalen kleinzuhalten und so die europäische Zusammenarbeit zu torpedieren, und dass später auch Deutschland ins Fadenkreuz geriet – ein Konkurrent, der an billigem Gas aus Russland wuchs und nun auf Adjutantengröße zurechtgestutzt werden soll.

Es dürfte schon deutlich geworden sein: Der Ukrainekrieg beginnt für Ulrike Guérot und Hauke Ritz 1989. Sie nehmen den Leser mit auf einen Parforceritt durch die Geopolitik der letzten 30 Jahre – immer gesehen durch die Brille Europa. Es geht um Jugoslawien und um das „trojanische Pferd“, das die USA im Osten Europas fanden (S. 76), um das Abgleiten der westlichen Demokratien in den umgekehrten Totalitarismus (Sheldon Wolin), um die Farbenrevolutionen und damit immer auch um Informations- und PR-Schlachten. „Kriege fangen in der Presse an“, sagen Guérot und Ritz (S. 92) und meinen damit sowohl die Dämonisierung alles Russischen, die sie in der deutschen Presse ab 2007 beginnen sehen, als auch den Versuch, eine „historische Anomalie“ zur Norm zu erheben – „die Präsenz der Amerikaner in Europa“ (S. 99).

Wer sich ausschließlich in den Leitmedien informiert, kann dieses Buch als rote Pille nehmen – voll mit Fakten zum Beispiel über all das, was 2021 in der Ukraine passierte, aber auch mit einem ungeschminkten Blick auf die USA von heute. Universitäten mit „Denk- und Sprechverboten“, eine „verschreckte“ und „überwachte“ Gesellschaft, soziale Verwahrlosung, Deep State plus transhumanistische Agenda (S. 148): Das, fragen Ulrike Guérot und Hauke Ritz, das soll unser Leitstern sein? Sie setzen dem ein Europa entgegen, das sie in Kultur und Geschichte finden, in der Aufklärung, in den Regionen, bei den kleinen Leuten und im Wunsch nach Frieden.

Es ist gut, dass diese Utopie am Ende steht. Die junge Generation von heute weiß zwar, was sie alles verhindern will, wer aber nur dagegen ist, wird keine Zukunft finden und schon gar keine Zufriedenheit. Ulrike Guérot und Hauke Ritz wollen, das sollte ich am Schluss nicht vergessen, den Krieg im Osten stoppen. Waffenstillstand und Verhandlungen sofort. Vermutlich ist das aber ohnehin schon klargeworden.

Ulrike Guérot, Hauke Ritz: Endspiel Europa. Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder davon träumen können. Frankfurt/Main: Westend 2022, 200 Seiten, Preis: 20 Euro.

Guerot/Ritz 2022

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