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Rezension | 26.05.2023
Diktaturerzählung light
Katja Hoyer verspricht eine „neue Geschichte der DDR“ und sorgt damit für einen Sturm im Wasserglas, der spannender ist als ihr Buch.
Text: Michael Meyen
 
 

„Nein“, steht über dem Kommentar von Alan Posener in der Welt. Die Kultur der DDR sein keineswegs „cool“ gewesen. Schluss mit der Nostalgie. Schluss mit der Verklärung. An der DDR sei wirklich „alles“ schlecht gewesen. „Auch das Gute, weil es nicht dem Guten diente, sondern der Diktatur.“ Posener weiß auch, warum er so deutlich werden muss. Wehret den Anfängen, gewissermaßen, wenn Intellektuelle wieder auf „Kapitalismuskritik“ stehen, „Aktivisten offen eine Klimadiktatur befürworten und der Staat den Bürgern vorschreiben will, wie viele Quadratmeter sie bewohnen und wie viel Energie sie dabei verbrauchen dürfen“. Posener: „Diktatur kann jeder. Und danach ist sie auch. Immer.“

Das Buch von Katja Hoyer steht seit drei Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste, zu erklären vielleicht mit dem Sog des Buches von Dirk Oschmann und dem schlechten Gewissen der Westdeutschen, vielleicht aber auch mit der Autorin. Eine Frau, 1985 in der DDR geboren und damit sowohl mit Stallgeruch als auch völlig unverdächtig, eine Frau, die dazu noch in England forscht und lehrt und dort offenbar Erfolg hat. Was so jemand schreibt, das muss man lesen.

Muss man nicht. Schon gar nicht aus ästhetischen Gründen. Es heißt ja immer, dass die riesige Konkurrenz auf dem anglo-amerikanischen Sachbuchmarkt selbst Akademiker zu Lesbarkeit zwinge. Katja Hoyer liefert eine Ausnahme von dieser Regel. Sie hat ihren Wälzer auf Englisch geschrieben und dann in ihre Muttersprache übersetzen lassen. Kein Witz. Die beiden Namen stehen im Buch. Vielleicht hat ein Computerprogramm geholfen und dabei nicht gesehen, dass man deutschen Lesern nicht jedes geografische Detail ihres Landes erklären muss. Davon abgesehen dachte ich, dass die Technik schon weiter ist. Manche Sätze ergeben einfach keinen Sinn. Ein Beispiel, willkürlich herausgegriffen: „Bevor sie sich für die Arbeit an der Druschba-Trasse gemeldet hatten, kannte sich niemand von ihnen.“ (S. 461). Die Ärmsten.

Personalisierung ist natürlich im Trend, vor allem in den USA und in Großbritannien und erst recht, wenn es um Geschichte geht. Katja Hoyer startet jedes Kapitel mit einem Ort, einem Datum und einem Namen. Im Beispielfall: „Flughafen Berlin-Schönefeld, Frühjahr 1986. Ulrich Struwe“. Man lernt diesen Mann ein wenig kennen. 34, verheiratet, zwei Kinder und irgendwie gelangweilt von der Aussicht, nun eine halbe Ewigkeit arbeiten gehen und Familienvater spielen zu müssen. Also auf in die Sowjetunion, auf zum Abenteuer Großbaustelle, vergoldet mit allerlei Privilegien. Prinzipiell ist gar nichts dagegen einzuwenden. Die CIA-Geschichte von David Talbot mit dem schönen Titel „Das Schachbrett des Teufels“ etwa lebt von solchen Geschichten. Der feine Unterschied: Talbot beherrscht das Handwerk des Erzählers. Bei ihm werden Personen zu roten Fäden, die durch die Kapitel führen und das Buch so zusammenhalten. Katja Hoyer setzt hier einen Tupfer und dort einen, ohne dem Leser eine Idee zu geben, was er damit anfangen soll. Ulrich Struwe taucht auf, um auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Aus vielen Namen und Erinnerungsfetzen wird auch dann keine Geschichte, wenn man vorgibt, auch die kleinen Leute sprechen zu lassen und nicht nur die großen.

Und damit zur größten Schwäche dieses Buches: Katja Hoyer pathologisiert die DDR. Ich wollte erst schreiben: psychologisiert, aber das andere Verb trifft es noch besser. In Kurzform: Dieses Land wurde geführt von Menschen, die das Hotel Lux überlebt hatten. „Wie ein Kind, das seine nächtlichen Ängste nicht hinter sich lassen kann, hörte die DDR niemals auf, sich vor den Monstern unter dem Bett zu fürchten“ (S. 375). Das kann man so sehen, klar. Hat schon Wolfgang Leonhard so gesehen, der seine DDR-Erzählung in der Moskauer Karl-Liebknecht-Schule beginnen lassen wollte, wo „junge Kommunisten“ herangezogen worden seien, „die nie eine andere Ideologie kennengelernt hatten“ und es normal fanden, „dass ihre Eltern geopfert“ wurden (S. 44f.). Warum verspricht man dann aber eine „neue Geschichte der DDR“?

Ungewöhnlich sind auf jeden Fall die vielen Widersprüche im Text. Nur zwei Beispiele: Auf Seite 473 heißt es, dass „viele DDR-Bürger“ in den 1980ern „in eine komfortable, jedoch perspektivlose Lethargie“ verfallen seien. 15 Seiten später bilden die gleichen Menschen plötzlich „eine hoch gebildete, hoch qualifizierte und hoch politisierte Gesellschaft, die selbstbewusst und stolz auf ihre Errungenschaften war und sich weiterentwickeln wollte“. Was denn nun? Und was ist mit Walter Ulbricht, aus dem Katja Hoyer erst eine Art Mini-Stalin macht, dem allerdings „die Gabe“ des großen Vorbilds gefehlt habe, „sein krisengeschütteltes Volk durch seine Persönlichkeit aufzurütteln“ (S. 171), um dann die Kondolenzschlangen nach Ubrichts Tod mit dem Satz zu kommentieren, dass gerade „das einfache Volk“ diesen Mann keineswegs „vergessen“ habe (S. 338). Stalins „Gabe“ lasse ich hier so stehen. Hoffentlich der Übersetzung geschuldet.

Nicht übersetzt werden mussten die Kapitel zu Kultur, Spielfilm, Medien, Journalismus, Propaganda. Die hat Katja Hoyer einfach nicht geschrieben. Nicht einmal die Aktion Ochsenkopf hat es in ihr Buch geschafft, obwohl die Akten sagen, dass die Jagd nach Westfernsehantennen, gestartet kurz nach dem Mauerbau, die Menschen im Land damals mehr aufgeregt hat als alles andere. Wer den Kampf der Systeme um die Köpfe der Menschen ausblendet und auf dem Auge Manipulation blind ist, kann problemlos die Mär von „der ersten freien Wahl“ am 18. März 1990 aufnehmen (S. 536), Das Buch „Tamtam und Tabu“ von Daniela Dahn und Rainer Mausfeld übersehen und dem 89er Herbst den Dresdner Hauptbahnhof und den 9. Oktober in Leipzig nehmen.

Um Alan Posener zu paraphrasieren: Es ist nicht alles schlecht an diesem Buch. Wir wissen, dass die Existenz der DDR im Gegensetz zu Ungarn, Bulgarien, Polen „nie gesichert“ war (S. 147), dass „die Verlockung eines genuin antifaschistischen, sozialistischen Deutschlands so kurz nach dem Ende des Naziregimes“ nicht zu unterschätzen ist und dass die DDR mehr in die Entwicklungshilfe gesteckt hat, als sie „in Form der bezahlten Arbeitskraft ihrer Vertragsarbeiter“ je zurückbekommen hat (S. 389). Wir wissen auch, dass „die Nation als Ganzes“ mit dem „Kapitel“ DDR fremdelt (S. 18), dass Westdeutschland „zum Kontinuitätsstaat erklärt“ wurde „und Ostdeutschland zur Anomalie“ (S. 19). Das wird aber so bleiben, wenn man sich nicht mit der Geschichtspolitik beschäftigt und die Adjektive kolportiert, die im kollektiven Gedächtnis der Deutschen mit der DDR verlinkt wurden. Den Leistungssport gibt es bei Katja Hoyer. Sie berichtet von der „krampfhaften Suche nach Talenten“ (S. 303) und von „einem harten Trainingsregime“ (S. 306). Wer immer noch nicht weiß, warum das Buch in allen wichtigen Medien besprochen und meist gewürdigt worden ist, wird im Nachwort fündig, wo die Autorin auch ihrer „Twitter-Community“ dankt. Das ist der Ort, an dem heute Geschichte geschrieben wird.

Rottenfußer

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