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Artikel | 17.06.2024
Zeit-Geschwurbel
Wie funktioniert Diffamierung, wie funktioniert Propaganda? Ein Lehrstück für alle, die das Prinzip Kontaktschuld verstehen wollen.
Text: Michael Meyen
 
 

Eigentlich wollte ich das nicht mehr machen. Sollen sie schreiben, was sie wollen. Der Text allerdings, den Sophie Tiedemann in der Zeit über meinen Vortrag in Kamenz veröffentlicht hat, ist (unfreiwillig) so komisch, dass ich mich nicht beherrschen konnte. Wie schon beim Artikel von Paul Hildebrandt, der in der gleichen Giftküche entstanden ist, nutze ich für die Analyse ein Verfahren, das ich bei Dietrich Brüggemann entdeckt habe. Das Original ist kursiv.

Eine Bühne für Verschwörungsideologen

Im sächsischen Kamenz kommen oft Verschwörungsideologen zu Veranstaltungen – auf Einladung des Oberbürgermeisters. Beobachter bemerken eine „bedrohliche Stimmung“ im Ort.

Von Sophie Tiedemann

Der Text ist am 12. Juni erschienen. In Kamenz war ich am 24. April. Wir kennen diesen neuen Journalismus, für den das aktuell ist, was gerade passt, seit der Correctiv-Geschichte über Potsdam. Sophie Tiedemann schreibt neben der Zeit auch für den Spiegel, den Freitag, das ND und Jungle World.

Der Wartesaal des Stadttheaters in Kamenz nahe Dresden ist brechend voll an diesem Abend. Kleine Grüppchen stehen zusammen und trinken Sekt. „So voll kriegen sie das hier sonst nie“, freut sich eine Besucherin. Ein Buchhändler hat einen Stand aufgebaut. „Das hier kann ich Ihnen nahelegen“, berät er einen interessierten Kunden und deutet auf ein Buch. Der Titel: Wie ich meine Uni verlor. Daneben: Propaganda Matrix und Cancel Culture. Alle vom selben Autor, Michael Meyen, Kommunikationswissenschaftler an der Universität München.

Die Leute wollen hören, was ich über „Journalismus und Macht“ zu sagen habe. Untertitel: „Erfüllen die Leitmedien ihren öffentlichen Auftrag?“ Diese Fragte brennt nicht wenigen Menschen in Kamenz offenbar auf den Nägeln. Sonst wären sie nichts ins Theater gekommen. Der Leser erfährt von Sophie Tiedemann weder etwas über die Motive der Besucher noch über meine Antworten. Warum auch. Verschwörungsideologe. Und der Buchhändler, dieser kleine Schelm, hat doch glatt versäumt, Bücher von Zeit-Autoren auszulegen.

Meyen soll hier im Kamenz sprechen, im nahezu ausverkauften Theater der 17.000-Einwohner-Stadt. Sein Auftritt gehört zu einer Veranstaltungsreihe, die unter anderem Oberbürgermeister Roland Dantz ins Leben gerufen hat. Er ist es auch, der den Abend auf der Bühne feierlich eröffnet. Sein Gast ist alles andere als unumstritten.

Ich vermute: Der Saal wäre leer, wenn es nichts zum Streiten geben würde.

Meyen ist einstiger Mitherausgeber und Kolumnist der Querdenken-Zeitung Demokratischer Widerstand, die die Impfkampagne als „Injektionsgenozid“ und SPD- und Grünenpolitiker als „Spritzenmörder“ bezeichnete.

Dazu habe ich viel geschrieben. Deshalb hier nur in Kurzform. Erstens: Mein Name stand auf zwei Ausgaben des Blattes. Selbst da hatte ich auf die Inhalte keinen Einfluss. Zweitens: Ich würde solche Begriffe nicht verwenden. Ob sie von der Meinungsfreiheit gedeckt sind, ist eine ganz andere Frage, aufzulösen vermutlich vor Gericht. Dass es einen Link zu Tatsachen gibt (Voraussetzung für so scharfe Formulierungen im Meinungskampf), können Zweifler jetzt auch in den RKI-Protokollen nachlesen.

Derzeit läuft ein Disziplinarverfahren gegen ihn.

Falsch. Die Disziplinarverfügung habe ich am Abend vor dem Auftritt in Kamenz bekommen, also vor fast zwei Monaten. Sophie Tiedemann hätte mich einfach fragen können. Der Pressekodex sagt übrigens in Ziffer 4: „Journalisten geben sich grundsätzlich zu erkennen.“

2023 rief Meyen sogar den Verfassungsschutz auf den Schirm.

Wenn schon: „auf den Plan“. Selbst das stimmt so allerdings nicht. Nach dem Geheimdienst gerufen hat die Süddeutsche Zeitung, noch so ein Blatt, dass seine Reporter inkognito ausschwärmen lässt. Die Universität sah sich gedrängt, beim Landesamt in Bayern nachzufragen, und erfuhr, dass mein Sündenregister dort schon 2019 beginnt. Nachzulesen unter anderem im Buch „Wie ich meine Uni verlor“. Hätten Sie in Kamenz mitnehmen können, Frau Tiedemann.

Initiativen vor Ort sind besorgt

Es ist nicht das erste Mal, dass der parteilose Oberbürgermeister die Nähe zu Menschen aus der verschwörungsideologischen Szene sucht.

Eine Szene. Wollte schon immer Teil von sowas sein.

2022 trat er auf die Bühne einer Querdenken-Veranstaltung auf und lobte den „friedlichen Protest“, der von den rechtsextremen Freien Sachsen und der AfD Kamenz organisiert wurde.

Was hätte Dantz sonst sagen sollen? Zu den Waffen, Leute? Ironie aus. Nach den Kritikern der „Impfkampagne“ nun die „Rechtsextremen“ und die AfD. Das Kontaktschuldkörbchen beginnt sich zu füllen. Dass ein OB für alle Bürger der Stadt da zu sein hat, war vermutlich vorgestern.

Von Ostsachsen.TV, einem Sender, der auch Reichsbürgern eine Plattform bietet,

Wer sagt es denn. Die Reichsbürger. Nummer vier.

ließ Dantz sich in ein Talkformat einladen. Vergangenes Jahr rief er schließlich die Veranstaltungsreihe Im Dialog im Stadttheater ins Leben. Auf Anfrage teilt Dantz mit, in einer „spannungsgeladenen Zeit“ solle die Reihe dabei helfen, „mit unterschiedlichen Gesprächspartnern in einen Gedankenaustausch zu kommen“. Als Oberbürgermeister sehe er seine Aufgabe insbesondere darin, „mit den Menschen zu reden“.

Genau. Sophie Tiedemann lässt hier aus, dass Dantz gern auch mit ihr gesprochen hätte. Sie hat die Einladung nicht nur in den Wind geschlagen, sondern gar nicht erst geantwortet. So bleibt auch die Frage offen (gestellt von der Stadtverwaltung), ob sie überhaupt bei der Veranstaltung war, über die sie hier schreibt, oder sich auf Hörensagen stützt. Stille Post nach Hamburg sozusagen.

Welchen Auffassungen Dantz dabei besonders gern eine Bühne bietet, offenbart ein Blick auf vergangene Gäste. Darunter etwa Journalist Patrik Baab.

Zum Mitzählen: Nummer fünf sind die Verbreiter „russischer Propagandamythen“ – so die MDR-Überschrift zum Auftritt von Baab in Kamenz.

Er sieht im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine einen „Stellvertreterkrieg“, der „von der Nato herbeiprovoziert“ wurde. Im Stadttheater soll er von der Bühne gerufen haben, sich von „Denunzianten nicht einschüchtern“ zu lassen.

Unerhört.

Zu Gast war außerdem Gabriele Krone-Schmalz,

Ist das schon Nummer sechs? Krone-Schmalz hatte ich im Mai 2018 zu Gast in der Reihe „Medienrealität live“.

die in der Vergangenheit dafür kritisiert wurde, russische Gräueltaten an den Ukrainern zu relativieren. Und nun Michael Meyen aus dem verschwörungsideologischen Milieu als Referent über die „Leitmedien“.

Noch einmal: Was für ein Milieu soll das sein? Wenn damit alle gemeint sind, die Die Zeit nicht mag: okay. Dann soll man das einfach klar sagen. Ganz unabhängig davon: Mit Patrik Baab und Gabriele Krone-Schmalz in einem Atemzug genannt zu werden, ist ganz hübsch. Könnte mir Schlimmeres vorstellen.

Die Mitglieder der Stadtwerkstatt Kamenz, einer zivilgesellschaftlichen Initiative, beobachten die Aktivitäten ihres Oberbürgermeisters mit Sorge. Mitglied Jens Fichte sagt: „Es ist keine Dialogreihe, ganz im Gegenteil. Es werden nur Leute aus einer politischen Richtung eingeladen.“

Ob Jens Fichte im Theater war?

Peter Sondermann von der Stadtwerkstatt beobachtet, in der Veranstaltungsreihe herrsche „eine bedrohliche Stimmung“. Das führe dazu, „dass Leute, die eine andere Meinung haben, entweder nicht hingehen oder hingehen und nichts sagen“.

Sondermann war da. Er hat mir hinterher geschrieben und wollte wissen, warum niemand von den Leitmedien eingeladen war und ob deren Vertreter vielleicht eine „alternative Wahrheit“ hätten. Aus „Zeitgründen“ sei er leider nicht dazu gekommen, das anzubringen. Meine Antwort: „Von mir aus hätten Sie gestern gern diese Fragen stellen können. Ich hatte nicht den Eindruck, dass es irgendeinen Zeitdruck gab. Ob ein Vertreter der Leitmedien im Saal war, weiß ich nicht. Bei mir gemeldet hat sich niemand. Ausgeladen waren sie jedenfalls nicht, ganz im Gegenteil.“

Die Verbindung von Verschwörungsmythen und russischer Propaganda sei indes nicht überraschend, sagt Sozialpsychologin Pia Lamberty vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie (Cemas).

Pia Lamberty war definitiv nicht in Kamenz. Sie wurde vor knapp drei Jahren schon einmal in einem Artikel über mich als eine Art Letztinstanz angerufen, damals vom Bayerischen Rundfunk. Das CeMAS wurde von der Alfred Landecker Foundation gegründet, also mit dem Geld der Reimanns, einer Milliardärsfamilie. Es liegt mir nicht, Kollegen mit Schmutz zu bewerfen. Jeder kann selbst in die Publikationslisten der CeMAS-Leute schauen und dann beurteilen, was ihre Aussagen über wissenschaftliche Qualität wert sind. Um Russland ging es bei mir in Kamenz nicht.

Nach der russischen Annexion der Krim 2014

Immer noch Lamberty, immer noch Russland.

hätten sich deutschlandweit sogenannte Mahnwachen für den Frieden gebildet, die sich gegen die Nato und die USA wandten. Diese hätten als Vernetzungspunkt gedient. „Insbesondere Antiamerikanismus, das zeigen wissenschaftliche Studien, hängt signifikant mit verschwörungsideologischen Weltbildern zusammen“, erläutert Lamberty. Russland hingegen werde in der Szene häufig verklärt als „Ort der Ursprünglichkeit“.

Antiamerikanismus, Russlandtreue. Der Kontaktschuldzähler steht zwischen sieben und acht.

Wenn Verschwörungen zur legitimen Meinung werden

Wie gesagt: Es geht um meinen Auftritt im Stadttheater Kamenz. Noch weiß der Leser nicht einmal, wie die Veranstaltung hieß. Dafür lernt er, dass es nichtlegitime Meinungen gibt.

In seinem Vortrag im Stadttheater kritisiert Michael Meyen die vermeintliche „Kontaktschuld“, nach der man ihn verurteile,

Vermeintlich. Ich liebe diese Adjektive.

nachdem er auf Apolut, einer Plattform des Schwurblers Ken Jebsen,

Ich vermute: Ken wird sich freuen. Nur noch „Schwurbler“. Fast schon ein Kuscheltier.

aufgetaucht war. Dabei ist das längst nicht alles. Meyen bewegt sich im Umfeld radikaler Verschwörungsideologen wie Ernst Wolff,

Noch so ein Adjektiv. Umstritten, vermeintlich, radikal. Ernst Wolff habe ich genau einmal getroffen – vor drei Jahren auf der Straße in Wien, bei einem Kongress. Er musste zum Flugplatz, und ich wollte in den Saal. Genau das haben wir in den 30 Sekunden besprochen. Später habe ich ihn für ein Apolut-Gespräch noch einmal auf dem Bildschirm gesehen. Er saß in Zürich und ich in Schweden. Neben seinem WEF-Buch ging es dabei auch um das Kinderbuch „Friedrichs Traum von der Freiheit", das ich jedem empfehle, der sich für Ernst Wolff interessiert und damit auch für das "Umfeld", in dem ich mich bewege.

der in der Vergangenheit mit der rechten Sekte Organische Christus Generation anbandelte

Auch das noch.

und durch antisemitische Verschwörungserzählungen vermeintlicher Finanzeliten auffiel.

Da stimmt (nehme ich wenigstens an) der Satzbau nicht. Vermutlich fehlt ein "über". Sonst natürlich: die ultimative Keule. Solche Leute in meinem „Umfeld“. Nicht zu fassen.

Anfang Mai gab die bayerische Landesanwaltschaft bekannt, Meyens Beamtenbezüge zu kürzen.

Ich habe Mitte Mai bekanntgegeben, dagegen zu klagen. Wurde sogar von der dpa gemeldet.

Sein Münchner Institut distanzierte sich schon vergangenes Jahr von seinen Positionen.

Ich verlinke die Stellungnahme. Auch da kann sich jeder selbst ein Urteil bilden. Gesprochen mit mir haben die Kollegen genau wie Sophie Tiedemann nicht.

Und im Kamenzer Stadttheater? Bedankt Meyen sich ausgiebig bei Oberbürgermeister Dantz. Veranstaltungen wie diese brauche es als „Gegenmittel für den Zensurapparat“, betont Meyen. Sozialpsychologin Lamberty warnt: „Gerade wenn eine Person mit gewisser Autorität Verschwörungserzählungen einen Raum bietet, wertet das solche Positionen als legitime Meinungsäußerung auf. Man kann und soll unterschiedliche Positionen haben, es braucht aber auch klare rote Linien.“

Auch hier ein Link – zu einem Aufsatz, der die Basis für das Buch „Cancel Culture“ war. Seit Hannah Arendt wissen wir, dass Tatsachen, die unbequem sind, als bloße Meinungen deklariert werden, frei nach dem Motto: lass ihn reden. Einer von 85 Millionen. Lamberty geht mit dem Begriff „legitime Meinungen“ einen Schritt weiter und über Artikel 5 hinaus.

Diese unterschiedlichen Positionen gibt es in Kamenz durchaus. Franziska Schulze-Stocker von der Stadtwerkstatt betont: „Auf unseren Veranstaltungen gibt es kritische Stimmen. Wir bieten eine Bandbreite. Das Rathaus ermöglicht diese Breite nicht.“ Die Mitglieder der Werkstatt wollen weitermachen, auch wenn ihr Engagement anstrengend sei. „Viele finden es toll, dass sich die Zivilgesellschaft in Vereinen wie unserem organisiert“, sagt Angela Sondermann. „Aber unser Oberbürgermeister sieht uns eher als Gegner.“

Vier Dantz-Kritiker in einem Artikel. Von seinen Unterstützern keine Spur. Das nennt Die Zeit vermutlich Ausgewogenheit.

Im Stadttheater sind Michael Meyens Ausführungen über die „Leitmedien“ als „Propagandaapparat“ inzwischen zu einem Ende gekommen.

Zu schade. Eigentlich wollte Sophie Tiedemann doch über meinen Vortrag berichten. Vielleicht sucht sie noch den fünften Gegner eines OB, der die Wahlen 2004, 2011 und 2018 gewonnen hat und beim letzten Mal knapp 95 Prozent der Stimmen bekam.

Es gibt Wortmeldungen aus dem Publikum. Ein älterer Herr lässt verlauten, ihn störe, dass „überall der Amerikaner mit drinhängt“.

Das hatten wir schon.

Ein weiterer Besucher meldet sich zu Wort: „Goebbels‘ Gedankengut feiert heute wieder Triumphe“, spricht er bedeutungsschwanger ins Mikrofon und bezieht sich auf die Zensurmaschinerie des historischen Nationalsozialismus.

Das muss man dem Zeit-Leser offenbar erklären, analog zur Tagesschau in einfacher Sprache. Das Adjektiv ist dabei genauso interessant wie der Link zur Zensur. Goebbels steht ja sonst eher für Propaganda.

Und: „Wie gut, dass wir einen so mutigen Oberbürgermeister haben.“ Schallender Applaus.

Übersetzt: „Wir" werden es schwer haben in Kamenz und ganz Ostsachsen. „Wir" wissen, was sie dort am 9. Juni gewählt haben, und ahnen, was passieren kann, wenn es um den Landtag geht.

Bildquellen: Tayeb Mezahdia @ Pixabay