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Kommentar | 28.04.2025
Stimmungstief
In den vergangenen Jahren hat der Ärger über Politik zugenommen. Die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen haben diesen Frust potenziert.
Text: Axel Klopprogge
 
 

Früher redete man bei alltäglichen Begegnungen nicht über Politik, schon gar nicht über Regierungspolitik oder einzelne Parteien. Selbst unter langjährigen Kollegen wusste man wenig über die parteipolitischen Präferenzen der anderen. Seit ungefähr zwei Jahren ist dies anders: Egal ob an der Fleischtheke, in der Kneipe, im Taxi, auf dem Bahnsteig, bei einem Geschäftsessen oder einer Gremiensitzung, egal ob mit Professoren oder Unternehmern oder einfach nur wildfremden Menschen: Es dauert gefühlt wenige Minuten, manchmal nur Sekunden, bis ohne Aufwärmzeit und ohne Scheu über Regierung, Parteien und einzelne Politiker gesprochen wird.

In den letzten Wochen und Monaten verdichten sich die Botschaften auf ein Grundgefühl: Die Menschen haben Sorge, dass das Land den Bach hinuntergeht. Sie erfahren täglich den Verfall der Infrastruktur. Sie sehen zunehmend Schmutz und Verwahrlosung. Sie erleben als Eltern die Zustände in den Schulen. Sie bemerken, wie Deutschland wirtschaftlich zurückfällt. Vor allem jedoch erleben sie, wie wenig das alles in den politischen Programmen und in den allgegenwärtigen Talkshows vorkommt.

Dieses Empfinden mit einem Rechtsruck oder überhaupt mit den Kategorien von rechts und links erfassen zu wollen und sich selbst dabei als letztes Bollwerk gegen die Horden der Hölle zu inszenieren, ist absurd. Die Menschen wollen keine Schwulen mobben, keine Flüsse verdrecken, keine Migranten vertreiben, nicht aus der EU austreten und nirgendwo einmarschieren. Sie sind weder Rassisten noch Holocaustleugner, weder Klima- noch Coronaleugner. Sie wollen einfach, dass Regierung, Politik, staatliche und öffentliche Instanzen und überhaupt die Führungsschicht des Landes ihre Hausaufgaben machen. Als arbeitende Menschen wollen sie nicht bemuttert oder bevormundet, aber als diejenigen respektiert werden, die in den Topf einzahlen. Sie erwarten, dass erlebte Wirklichkeit und Medienrealität einigermaßen zusammenpassen.

Nach den bleiernen Merkel-Jahren gab es in weiten Kreisen der Bevölkerung und auch bei eingefleischten CDU-Wählern den Wunsch nach einem Politikwechsel. Viele Wirtschaftsführer sahen der Ampel-Regierung mit Sympathie entgegen. Aber dann wuchsen Enttäuschung und Verbitterung. Über den Dilettantismus. Über den hemmungslosen Ausbau der Bürokratie und die damit verbundene Selbstbedienung. Über das Desinteresse an realen Problemen von Infrastruktur über Migration und Demografie bis zu Wirtschaft und Arbeit. Über die Fokussierung auf irgendwelche Spielthemen von feministischer Außenpolitik bis zur Cannabis-Freigabe. Über die Kombination aus Unfähigkeit und moralischer Selbstüberhebung. In den letzten Monaten der Ampel wollten die Menschen nur noch, dass es endlich vorbei ist.

Dieser Befund ist nicht meine persönliche Weltdeutung, sondern man kann ihn an den Wahlergebnissen der AfD ablesen. Auch Sahra Wagenknecht hatte den Unmut verstanden, auch wenn es nach Erfolgen bei Landtagswahlen nicht zum Einzug in den Bundestag reichte. Die Menschen, die nicht AfD oder BSW wählen wollten, setzten ihre Hoffnungen auf die CDU und den versprochenen Politikwechsel. Die Wahl war eine Abwahl der Ampel und vor allem ein Votum gegen SPD und Grüne.

Aber noch vor dem Osterfest erleben die Wähler eine andere Auferstehung: Die gerade krachend abgewählte SPD dominiert die Koalitionsverhandlungen, und die CDU macht alles mit, weil sie um jeden Preis den Kanzler stellen will. Das Schuldenmachen erreicht eine neue Dimension: Mit dem abgewählten Parlament vollzieht man schnell noch eine Grundgesetzänderung, wofür man den Grünen aus der Hand fressen muss. Die Grundthemen der Bürokratisierung werden nicht angegangen. Ebenso wenig dringende Reformen der Sozialsysteme. Die Wirtschaft wird weiter gehemmt. Migrationspolitik wird nicht angepackt. Die berechtigte und für die Demokratie wichtige parlamentarische Anfrage zu den rot-grünen Vorfeldorganisationen verschwindet in der Schublade. Und wie aus einem Paralleluniversum fordert Saskia Esken, dass vier der sieben SPD-Minister weiblich sein müssen.

Mir geht es nicht darum, ob mir irgendeine Position inhaltlich sympathisch ist oder nicht. Aber die Wähler erleben nicht nur das übliche Aufweichen von Wahlversprechen nach der Wahl, sondern dass sie in potenzierter Form genau das kriegen, was sie gerade mehrheitlich abgewählt hatten. Statt Ampel jetzt Schwampel. Die Kommentare zu alledem sind so einheitlich, dass es mich fast schon misstrauisch macht: In Deutschland kannst du wählen, was du willst, am Ende kriegst du immer eine sozialdemokratische Regierung. Ich will die AfD nicht an der Macht sehen. Aber ich verstehe, wenn Menschen sich fragen, was sie noch wählen sollen, wenn sie einen Politikwechsel wollen.

Es geht dabei nicht nur um Inhalte, sondern auch um demokratische Verfahrensregeln: Julia Klöckner hatte vor ihrer Wahl zur Bundestagspräsidentin allen Fraktionen angeboten, sich dort vorzustellen – eigentlich eine Selbstverständlichkeit, denn die Bundestagspräsidentin ist Präsidentin aller Volksvertreter. Nachdem jedoch die Grünen mit Ausladung gedroht hatten, wenn Klöckner auch zur AfD gehe, sagte sie ihren Besuch bei der AfD-Fraktion ab. Der Vorfall sagt zum einen viel über das mangelnde demokratische Verständnis der Grünen. Aber noch schlimmer ist, sich von einer gerade abgewählten Zwölf-Prozent-Partei erpressen zu lassen.

Solche Geschichten ärgern die Menschen, auch wenn sie keine Anhänger der AfD sind. Keine Partei hat sich in den Bundestag gemogelt oder geputscht, sondern alle Parteien sind dort, weil sie von uns Bürgern gewählt wurden. Und eine 20-Prozent-Partei vertritt mehr Volk als eine Zwölf-Prozent-Partei. Jetzt tauchen wieder Verbotsfantasien auf. Glaubt man ernsthaft, man könne das Wählervotum durch ein Verbot ungeschehen machen – als wenn 20 Prozent (oder inzwischen schon 25) der Wähler und ihre Unzufriedenheit plötzlich nicht mehr da wären? Riskiert man lieber einen Bürgerkrieg, als sich zu fragen, was man als Regierungspartei selbst damit zu tun hat?

Objektiv betrachtet waren SPD und Grüne die besten Wahlhelfer der AfD. Und sie machen munter weiter. Wie kann das sein? Ich klammere mich immer noch an die Erklärung, dass sich diese Parteien so sehr von jeder Realität abgekoppelt haben, dass sie einfach nicht anders können. In den letzten Wochen habe ich ernsthafte Menschen getroffen, die überzeugt waren, dass dahinter der systematische Plan steckt, Deutschland zu schaden – organisiert aus Moskau oder aus Washington oder woher auch immer. Wenn schon Verschwörungstheorie, dann käme mir eine andere Variante in den Sinn: SPD und Grüne wurden reduziert auf den vermutlich unzerstörbaren Kern, nämlich auf die Schicht, die in irgendeiner Weise von rot-grüner Politik lebt. Wenn man diese Machtposition ohne Wählervotum erhalten will, dann bietet sich an, einerseits die AfD durch weltfremde Politik weiter zu stärken und sie andererseits zu dämonisieren und ihre Wähler durch Brandmauern aus dem Rennen zu nehmen. Das Ideal in dieser Logik wären 48 Prozent für die AfD und auf der anderen Seite eine Allparteienregierung gegen die AfD. Dann hätte man wie die Ultraorthodoxen in Israel auch als Splitterpartei ein ergiebiges Erpressungspotential.

Dr. Axel Klopprogge studierte Geschichte und Germanistik. Er war als Manager in großen Industrieunternehmen tätig und baute eine Unternehmensberatung in den Feldern Innovation und Personalmanagement auf. Axel Klopprogge hat Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland und forscht und publiziert zu Themen der Arbeitswelt, zu Innovation und zu gesellschaftlichen Fragen. Ende 2024 hat er eine Textsammlung mit dem Titel "Links oder rechts oder was?" veröffentlicht. Jeden zweiten Mittwoch erscheint auf dieser Seite seine Kolumne "Oben & Unten".

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Bildquellen: Carolabrücke in Dresden im Januar 2025. Foto: bybbisch94, CC 4.0