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Welt-Tresen: MV | 17.12.2024
Oh du fröhliche
Lila-Bäcker-Pleite, die NATO in Rostock, LNG auf Rügen – was war los in diesem Jahr in Mecklenburg-Vorpommern? Der Norden im Rückblick.
Text: Mirko Jähnert
 
 

Eine Kolumne zur Vorweihnachtszeit. Ein paar warme Worte und Wünsche aufschreiben? Oder doch die neuste Aufreger-Story recherchieren? Der nächste Skandal kommt mittlerweile so sicher, wie „Last Christmas“ im Radio rauf und runter gedudelt wird. Ein Rückblick – das ist es! Sowas geht immer um diese Zeit. Was war also los im Norden 2024?

Januar

Das Jahr beginnt mit Hiobsbotschaften: Die Gastronomie in der Krise. Grund sind gestiegene Kosten. Lkw-Maut, Mindestlohn – und der Mehrwertsteuersatz geht von sieben wieder auf 19 Prozent rauf. Damit brach Kanzler Scholz ein Versprechen aus dem Wahlkampf 2021. Man behalte das im Hinterkopf, die nächste Wahl steht vor der Tür. Die Arbeitslosenquote in Mecklenburg steigt auf über acht Prozent. Prominentes Opfer – die Kette „Lila Bäcker“. 70 Filialen mit 500 Mitarbeitern schließen. Oder hören erstmal auf zu produzieren (frei nach Wirtschaftsminister Habeck). Auch den Bauern reicht´s.. Am 8. Januar 2024 legen sie mit einem großen Aufgebot an Traktoren und Lastern mehrere Städte in Mecklenburg-Vorpommern lahm.

Februar

Der Landtag debattiert über ein Kita-Gesetz. Die Anzahl der Kinder pro Erziehungskraft soll von 15 auf 14 gesenkt werden. Ver.di fordert einen Schlüssel von 1:8, um eine Überlastung der Erzieher zu vermeiden. MV hat laut Statista den höchsten Personalschlüssel aller Bundesländer. Das Thema wird uns im August wieder begegnen.

Bildbeschreibung

März

Zur Abwechslung mal was Schönes. Beamte in MV bekommen rückwirkend zum 1. Januar 2023 mehr Geld. Kosten: 20 Millionen pro Jahr. Derweil plant der Autozulieferer Webasto, der auch in Neubrandenburg ansässig ist, einen Personalabbau im zweistelligen Prozentbereich. Die Betroffenen kriegen dann auch Geld vom Staat. Wie die Beamten, nur weniger. Meldungen über das LNG-Terminal vor der Insel Rügen sind jeden Monat zu finden. Das Projekt, das die Bundesregierung gegen den Willen der Bürger und ohne umwelttechnische Prüfung durchgeboxt hat, wird der Running Gag in diesem Jahr. Im März startet der Probebetrieb. Ins Auge fällt mir ein Artikel im Nordkurier von Maximilian Tabaczynski: „Raketenangriff? Russlands Propaganda nimmt Rügenbrücke ins Visier“. Auslöser dieser Planspiele ist das abgehörte Gespräch deutscher Luftwaffenoffiziere, die sich munter über einen Einsatz deutscher Taurus-Raketen gegen die Krimbrücke austauschten. Die Vita des Autors: Axel-Springer-Akademie, dann BILD-Zeitung. Gut, das reicht als Erklärung.

April

Ein Monat der Gegensätze. Auf der einen Seite die Schlagzeile „Für immer mehr Rentner reicht das Geld nicht mehr“. Die Zahl der Rentner mit Grundsicherung steigt weiter an. Andererseits beschließt die Landesregierung aus SPD und Linken vereinfachte Pensionsansprüche für Landräte und hauptamtliche Bürgermeister. Bereits nach einer Amtszeit von sieben Jahren und mit einem Alter von 45 Jahren besteht nun ein Pensionsanspruch. „Schwesigs Sofortrente a la Glücksspirale“, steht im Artikel. Die Gewerkschaft der Polizei stellt für das vergangene Jahr einen Anstieg von Messerattacken in MV um 21,5 Prozent fest, schreibt der Nordkurier am 11. April. Die Schlagzeile zwei Wochen später: „Innenminister bestreitet Vorwürfe zu Kriminalität von Migranten“. Ja dann weiß ich auch nicht.

Mai

Causa LNG-Terminal vor Rügen: Offenbar hat Wirtschaftsminister Habeck geflunkert. Um den Rüganern das Terminal schmackhaft zu machen, sollte die Bahnstrecke Berlin-Binz ausgebaut werden, was für den Tourismus gut wäre. Das Problem dabei: Weder besteht eine Notwendigkeit für das LNG-Terminal, noch ist die Idee des Streckenausbaus neu. Geplant wurde dieser bereits 2016. Mit dem Wissen von heute … Im Mai sollen 200 Militärfahrzeuge, unter anderem Kampfpanzer, für ein NATO-Manöver vom Rostocker Seehafen ins Baltikum verschifft werden. Rostock und NATO? Das wird im November nochmal interessant.

Juni

Gigi D'Agostino ist mit „L'Amour toujours“ überall, auch in Mecklenburg. Interessante Frage von Karin Kolik im Nordkurier: „Haben die Minister neben Social Media noch genug Zeit zum Regieren?“ Hintergrund sind die persönlichen Accounts der Minister, die sie für politische Botschaften pflegen. Dort passiert nämlich deutlich mehr als auf den offiziellen Accounts der Ministerien, für die allerdings 1,5 Millionen Steuergeld-Euro aufgewendet werden. Da gönnt sich das Finanzministerium beispielsweise einen YouTube-Kanal mit 31 Followern. Mecklenburger haben das geringste Einkommen in Deutschland. Circa 7.000 Euro weniger als im Bundesdurchschnitt verdient man hier. Bei der Kommunalwahl gewinnen AfD und BSW die meisten Stimmen hinzu. Die beiden Nachrichten liegen drei Wochen auseinander, gehören aber zusammen.

Juli

Ex-Bundespräsident Gauck macht eine Lesung im mecklenburgischen Zarrenthin und gibt dort zum Besten: Man wisse nie genau, wie die Wähler seien, was sie gerade machen würden, wie vernünftig und unvernünftig sie seien. Ach so.

August

Am 5. August geht das LNG-Terminal in den Regelbetrieb. Ohne große Eröffnungszeromie oder ähnliches. Warum? Es fehlt die Nachfrage. Es gibt keine Gasmangellage, die als Begründung für den Bau herhalten musste. Zaghaft beginnt auch in MV die Aufarbeitung der Corona-Zeit. Erst ein Artikel zu den RKI-Files, dann kritisiert der Leiter der Rostocker Kunsthalle Jörg-Uwe Neumann den Umgang mit Kunst und Museen in dieser Zeit. „Es war absurd.“ Haben Sie die Meldung über den Kita-Personalschlüssel aus dem Februar noch auf dem Schirm? Jetzt im August ergibt eine Auswertung der Bertelsmann-Stiftung, dass Kita-Beschäftigte in MV überdurchschnittlich lange wegen Krankheit ausfallen. Politik könnte so einfach sein.

September

Personalnot auch in der Pflege. In den nächsten zehn Jahren gehen über 20 Prozent der Pflegekräfte in MV in Rente, während die Anzahl der pflegebedürftigen Menschen zunimmt. Da kommt was auf uns zu. Episode LNG-Terminal, Finale: Jetzt hat sich tatsächlich mal ein Tanker mit Flüssiggas zum Terminal vor Rügen verirrt. Problem: Das Gas wurde von dort nach Schweden verkauft! Wie schon gesagt, beim Bau des Terminals ging es ursprünglich um die Versorgungssicherheit Deutschlands.

Oktober

Streit um das neue NATO-Kommandozentrum „CTF Baltic“ in Rostock. Politik dementiert eilig; wegen 2+4 Vertrag. Rostock und NATO? Siehe dazu den Mai-Ticker. Neubrandenburg erfährt bundesweite Berühmtheit. Die Stadtvertreter verbieten auf Antrag, am Bahnhof die Regenbogenflagge anzubringen. Der Bürgermeister erklärt seinen Rücktritt. Symbolpolitik, das eine wie das andere. Den Betroffenen hilft es nicht.

November

Die Meldungen des Monats spiegeln das Versagen der Politik. Infrastruktur: Noch nie waren die Züge in MV so unpünktlich. Elektromobilität: Der Landkreis Nordwestmecklenburg wird nun doch nicht auf Elektrobusse umstellen. Zu teuer, man bleibt bei Dieselbussen. Gesundheit: Während Impfgeschädigte um Anerkennung kämpfen müssen, fließen die Gelder für Long-Covid reichlich. Eine Spezialambulanz an der Uniklinik Rostock ist am Start.

Dezember

Am Ende des Jahres steht die Gewissheit, dass es dringend kritischen Journalismus braucht, der den Regierenden auf die Finger schaut. Für den Rückblick habe ich einen Großteil der Nordkurier-Ausgaben des Jahres durchgeschaut, der einzigen regionalen Zeitung an der Mecklenburgischen Seenplatte. Die Anzahl der wirtschaftlich unabhängigen Regionalzeitungen in Deutschland geht seit Jahren stark zurück. Das Projekt „Wüstenradar“ hat den Rückgang untersucht und kommt zu dem Schluss:

Es steht zu befürchten, dass damit die Informations- und Watchdog-Funktion des Lokaljournalismus in Gefahr gerät. Tatsächlich belegen empirische Untersuchungen in den USA und anderswo, dass das Verschwinden lokaler und regionaler Zeitungen negative Auswirkungen auf Demokratie (etwa auf politische Teilnahme und Polarisierung) und das Gemeinwesen (etwa das Verhalten von Politkern und Unternehmen) haben kann.

Frohe Weihnachten!

Mirko Jähnert hat mehrere Kurse an der Freien Akademie für Medien & Journalismus besucht. Er lebt und arbeitet in Mecklenburg-Vorpommern.

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