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Meyen am Tresen | 05.07.2025
Öffentlichkeit, zerstückelt
Ein Buchladen auf Rügen führt Menschen zusammen, die sich normalerweise aus dem Weg gehen würden. Ergebnis: Irritation, Fragen, Forschungsbedarf.
Text: Michael Meyen
 
 

Es war ein merkwürdiger Abend. Ich weiß nicht, ob Sie das kennen. Man fährt nach Hause und grübelt. War das nun gut oder eher bescheiden? Eine ganze Menge sprach für Antwort eins. Das Wetter sowieso. Hochsommer auf Rügen, mit einer leichten Brise. Im Hafen von Saßnitz Räucher-Rollmops zu einem Preis aus den Nullerjahren, vom Kutter direkt in die Hand. Und dann die Altstadt. Eigentlich ist das nur eine Gasse, die in einem Platz mündet, aber man fühlt sich sofort wie am Mittelmeer. Hohe Häuser, offene Fenster, viele Stühle auf der Straße. Herrlich. Und genau dort, an einer der drei Ecken, sollte ich an diesem Abend lesen.

Bildbeschreibung

„Dressurakte“ hatte Volkmar Billig auf das Plakat geschrieben. „Wie Jugend, Medienmacht und Cancel Culture zusammenhängen“. Besser kann man meine letzten drei Bücher nicht in eine Formel gießen. Billig betreibt seit 2015 Dahlmanns Bazar, einen Buchladen, der genauso exotisch ist, wie es der Name verspricht. Gleich neben der Tür eine Theke mit Wein und Barhockern. Zwei Schritte weiter dann Nischen voller Bücher. „Die Welt der Inseln“. Volkmar Billig hat vor Jahren das Standardwerk zu diesem Thema geschrieben und damit nun offenbar auch als Geschäftsmann sein Glück gefunden – in einer Zeit, in der anderswo die Buchläden schließen. Vielleicht geht das nur hier, im hohen Norden, wo die Städter Entspannung suchen und damit immer auch eine Vergangenheit, in der es ganz selbstverständlich war, sich mit dem Einkaufsbeutel auf die Suche nach Lektüre zu machen. Leisten können muss man sich Rügen inzwischen sowieso. Da kommt es auf ein paar Scheine nicht an.

„Sie dürfen nicht erwarten“, hatte mir Volkmar Billig vorab gemailt, „dass unser Publikum (abgesehen von ein paar Einzelnen) mit Ihren Büchern vertraut ist. Auch eine medientheoretische Einsicht in den Kontext kann nicht vorausgesetzt werden. Zu erwarten ist vielmehr eine Mischung von Leuten, die Sie entweder als Kritiker der zunehmend fatalen Verstrickung von Politik und Medien wahrgenommen haben oder noch gar nicht kennen, aber durch den Titel der Veranstaltung neugierig geworden sind (ebenso eine Mischung von Hälfte Ossis und Hälfte Wessis).“

Ein paar seiner Stammkunden hatten vorher offenbar gegoogelt. Es habe ein, zwei irritierte Nachfragen gegeben, sagte mir der Gastgeber gleich nach der Begrüßung. Aber alles okay. Er habe mehr Anmeldungen als Plätze. Ein paar Stühle blieben dann doch frei. Wikipedia ist überall, selbst in Saßnitz, einer Stadt, die ich konsequent falsch schreibe, weil ich es als Kind so gelernt habe und mich nicht an die neuen Schilder gewöhnen mag. Egal. Ich habe schon beim Vorstellungsinterview gemerkt, dass es nicht leicht werden würde. Überfüllte DDR-Zeltplätze, Getränke-Engpässe, Trainingslager für die Matheolympiade, damit der Kreis Rügen in der Bezirkswertung wenigstens auf Platz drei kommt hinter den Universitätsstädten Rostock und Greifswald: Es war eigentlich egal, was ich über meine 1970er und 1980er erzähle. Die Leute blieben reserviert, genau wie dann bei den Lesestücken zum „dressierten Nachwuchs“ und meinen Einschüben zu Zensur und Propaganda.

Ich kenne das so nicht. Normalerweise predige ich zu Fans und Eingeweihten. Hier war ich in meiner alten Heimat und doch ganz woanders. Unter Bücherfreunden immerhin, von denen einige bei jedem Satz nickten, die meisten aber nicht wirklich zu wissen schienen, worüber ich spreche. Ob das, was ich da erzähle, denn dem Stand der Forschung entspreche, wollte jemand wissen. Sehen Ihre Kollegen das auch so? Eine Dame wunderte sich, dass ich weder die Tagesschau noch die großen Blätter nutze, aber trotzdem die Leitmedien kritisiere. Schon dieser Begriff. Und überhaupt. Das sei doch kein Einheitsbrei, sondern bunte Vielfalt. Mit meinen Einwänden kam ich nicht durch. Telegram? Nicht doch. Alles Interpretation!

Der öffentliche Austausch, das habe ich an diesem Abend gelernt, scheitert nicht nur an Propaganda und (Selbst-)Zensur in den großen Redaktionen oder an einer Cancel Culture, die alle Räume, die irgendwie am Steuertopf hängen, für Sprecher und Themen verschließt, die nicht mitschwimmen wollen im Strom der Zeit. Selbst wenn ein Buchhändler seinen Laden öffnet wie Volkmar Billig hier in Saßnitz und tatsächlich Menschen von beiden Ufern kommen, Bildung im Gepäck und Umgangsformen, selbst dann bleibt eine Lücke, die sich kaum überwinden lässt. Jedenfalls nicht von mir an diesem einen Abend. Ich hätte ganz unten anfangen müssen, bei der Unterwerfung der Universitäten und bei dem Mythos von einem Journalismus, der unabhängig ist und objektiv. Kann sein, dass ich den Wissenschafts- und Fernsehgläubigen ein paar Fragezeichen mitgegeben hätte auf den Heimweg, aber zugleich wären vermutlich alle eingeschlafen, die mir in den letzten Jahren öfter zugehört haben.

Noch einmal anders formuliert: Wer bei einem der großen Narrative der jüngeren Vergangenheit nicht mitgehen konnte oder wollte, hat zwangsläufig argumentativ aufrüsten müssen und weiß inzwischen so viel über Medien und Macht, über Gesundheit und Krieg, über Geostrategie und Psychohygiene, dass alle anderen viel mehr als ein paar Volkshochschulkurse bräuchten, um wieder mitreden zu können.

Wer dabei war, als die neuen Nischen entstanden und gewachsen sind, der weiß, wovon ich rede. Am Anfang war da vor allem Abwehr, wenig Politisierung und noch weniger politisches Wissen. Ich war in den 2010ern viel mit Leuten unterwegs, die sich als „links“ beschrieben haben und manchmal sogar als „Kommunist“. Dazu gehörte immer auch ein Bücherkanon, mit dem man sich abheben konnte von denen, die man kritisieren wollte. Von all diesem Ballast war wenig da bei Menschen, die sich ein Leben lang um Job, Familie, Alltag gekümmert hatten und plötzlich erschrocken waren, als der Staat nach ihrer Freiheit und nach ihrem Körper griff. Dieser Schock hat eine Energie freigesetzt, die es heute, nur einen Wimpernschlag später, erlaubt, mit den gleichen Menschen auf einem Niveau zu diskutieren, das es in meinen Uniseminaren schon lange nicht mehr gibt.

Volkmar Billig, der Buchhändler, hat diese Gedankenschraube zwei Tage später noch ein Stück weitergedreht. „Wie gehen wir damit um“, fragte er in einer Mail, „dass die fundierte Debatte über gesellschaftliche Grundfragen und die kritische sozialwissenschaftliche Analyse mehr und mehr in außerakademische Räume“ gedrängt wird – in Räume wie seinen Laden zum Beispiel, die von den Lokalmedien nur dann beworben werden, wenn es „passt“ (die Ostsee-Zeitung, bei der ich mal Volontär war, hatte die Veranstaltung anders als sonst gar nicht erst angekündigt), und in den Leitmedien nicht vorkommen? Gleichzeitig hafte solchen „subversiven“ Debattenräumen ja der „Ruch einer illegitimen Aktivität an“. Und noch eine Drehung weiter, wieder in der Formulierung von Volkmar Billig:

Ist unter diesen Bedingungen wirklich noch auf eine Revolutionierung des Debattenraums „von unten“ zu hoffen, oder haben wir es nicht vielmehr mit einem unumkehrbaren Effekt der digitalen Revolution zu tun, in dessen Folge sich der denkende, mitfühlende, nachfragende Einzelne mitsamt seinen „aufrührerischen“ Ideen und „menschlichen“ Affekten jenseits der nur noch systemisch zu begreifenden Medienwirklichkeit wiederfindet – mit anderen Worten: in einer Art „Zoo der Alternativen“?

Große Fragen, die nach Antworten verlangen, wenn sich Geschichte nicht wiederholen soll. Viele der DDR-Intellektuellen, die um 1990 ihre Jobs verloren haben, sind in ihren Kreisen und Zirkeln geblieben und haben weiter gelesen, gestritten, publiziert. Zum Teil bis heute. In der großen Öffentlichkeit angekommen ist davon so gut wie nichts. Das wird sich nicht ändern. Die biologische Uhr tickt. Dass diese Ostmilieus Entsprechungen im Westen haben, durfte ich im April bei der Neuen Gesellschaft für Psychologie lernen. Das heißt: Die Karawane zieht weiter, während die Kritiker unter sich bleiben. Die Karawane merkt nicht einmal, dass es Kritiker gibt. Wahrscheinlich war es doch ein guter Abend in Saßnitz – wie immer, wenn Fragen entstehen und der Käfig für ein paar Stunden offensteht.

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Bildquellen: Titelbild: Blick auf den Hafen von Saßnitz und die Ostküste von Rügen