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Buch-Tresen | 22.05.2025
Noch einmal Shitbürger
Westend hat das Buch von Ulf Poschardt aus dem Nebel der Selbstverlagswelt herausgeholt. Aus diesem Anlass gibt es eine zweite Rezension.
Text: Beate Broßmann
 
 

„Die Sprache ist zum Schlachtfeld geworden. Sie kann sich nicht wehren. Sie liegt da wie ein zerfetzter Leib. Die Wörter werden vor einen Volksgerichtshof gezerrt und aus dem Wörterbuch vertrieben. Sprache, die noch zuckt und lebt, wird ausgenommen und von einem Wortpräparator ausgestopft. Sind die Wörter dann einmal tot und erledigt und hingerichtet und für den Zeitgeist zurechtgestutzt, werden sie in akademischen Hörsälen zum Ideal erklärt.“ (124)

Poschardt tut nichts anderes, als über sein gesamtes, zunächst im Eigenverlag erschienenes Buch hinweg seine Wortschöpfung „Shitbürger“ zu begründen und historisch zu kontextualisieren. Die Kapitel bauen nicht aufeinander auf, so daß man überall hineinblättern und sich von sprachlich opulenten und teilweise aphoristischen Satzgebilden (wie dem eingangs zitierten) beeindrucken und belustigen lassen kann. Analyse und Satire sind nicht voneinander zu trennen. Ein kurzweilig‘ Buch also, aber dennoch ein bisweilen tiefenscharfes.

Ein sehr allgemeines Verständnis der „Shitbürger“ liefert die alte politische Schichtenbezeichnung „linksliberal“. Diese, die geläufigste Charakterisierung, wählt der Autor aber gerade nicht. Er hält sie für falsch, ja grotesk. Stattdessen beginnt er mit einer phänomenologischen Betrachtung: Den Shitbürger erkenne man „an seinem strengen Blick, den schmallippigen Gesten des Mißfallens“ und „dem ewig urteilenden Gestus der Überheblichkeit“ (8f.). Beruflich finde man ihn vor allem im Kultur- und Medienbereich, in Kirchen und NGOs, im vorpolitischen Raum und in Parteien der Linken, einschließlich der Grünen, sowie der Demokratischen Partei der USA. In Deutschland habe dieses Shitbürgertum eine kulturelle und ökonomische Spur der Verwüstung hinterlassen. Es habe die Gesellschaft gespalten, die wirtschaftliche Vernunft vertrieben und „den Kompass der Gesellschaft zudefäkiert“ (11). Läßt man es weiterhin sein disruptives Werk verrichten, werde es am Ende den Westen zerstören. Schlussfolgerung: Das Shitbürgertum selbst müsse im Schumpeterschen Sinne zerstört werden. Der Spontispruch der 68er thront auf der Buchrückseite: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“. Man könnte auch einen Song der Ostband Silly zitieren: „Wo wir sind, ist vorn. Und wenn wir hinten sind, ist hinten vorn.“

Daß der ideologisch Gefestigtste Karriere macht und nicht der Kompetenteste, kennen die ehemaligen DDR-Bürger. Und so wie damals läßt man ideologisches Vokabular schlicht an sich abprallen oder nimmt es nur in den Mund, wenn es der Druck am Arbeitsplatz erfordert. Der offiziöse Umgang mit geäußerten falschen Gedanken hat mit der „verfassungsschutzrelevanten Delegitimierung des Staates“ inzwischen auch Ostniveau erreicht. Damals nannte man dieses Phänomen „staatsgefährdende Hetze“.

Und weiter geht’s mit Aplomb: „Ökonomisch weitgehend ignorant, politisch heiter weltfremd, aber stets im Gestus geliehener Autorität, der Mehrheit der Gesellschaft den Weg weisen wollend“ – so sind sie, die Shitbürger in Poschardts Augen, und wer von uns würde da widersprechen? Das Shitbürgertum werde von Staat und Steuer gemästet, definiere seinen Status entlang moralischer Reinheitsgebote, wobei sein Moralismus regressiven und infantilen Charakters sei. Das linke Konzept vom „neuen Menschen“ erlebe ein Revival – diesmal allerdings an calvinistische Tradition anknüpfend. Poschardt ist beeindruckt von der Kulturleistung des woken und politisch korrekten Milieus, welches ein „Kulturganzes geschaffen hat, das als ein Meisterwerk postheroischer Revolutionsdisziplin weite Teile gesellschaftlicher Kommunikationssysteme erobert“ und geschickt die kulturelle Hegemonie erobert habe (17).

Hier muß die Rezensentin mild widersprechen: Den Linksliberalen ist es eben nicht gelungen, ein intellektuell-politisches Ganzes zu entwerfen, das alte linke Ideale mit den sozialen und globalen Realitäten des 21. Jahrhunderts verbindet. Sie haben weder eine als Religionsersatz verwendbare Utopie, noch eine intellektuell geprägte Gesamtsicht auf den Status quo und die in ihm angelegten Potenzen. Was die Shitbürger uns „anbieten“, weist eher eine strukturelle, formale Ähnlichkeit mit dem Koran auf: eine endlos scheinende Aufzählung von allem, was „haram“ ist, was dem Gläubigen respektive Staatsbürger verboten ist zu tun und zu denken und was geboten ist:

  • Du sollst Männer und Frauen nicht unterscheiden!
  • Du sollst an die Existenz von 180 Geschlechtern glauben!
  • Du sollst die Multikultur begrüßen!
  • Du sollst an die Klimakatastrophe und vor allem an CO2 glauben!
  • Du sollst Dein Lebensniveau mit Freude senken!
  • Du sollst Dich impfen lassen, Maske tragen und deine vier Wände nicht verlassen!
  • Du sollst kein Fleisch essen!
  • Du sollst Rußland fürchten und hassen!

Und so weiter. Diversity, Inclusion, Gender oder Postcolonial Studies – all das sind nur Ideologeme, aber keine Ideologie. Zu gesellschaftlichen Großentwürfen fehlt es heutigen Shitbürgern an intellektueller Kraft. (Die hat sich offenbar in den rechten Schloßflügel verzogen.) Bei Poschardt klingt das so:

Im Gegensatz zur ersten Generation der Institutioneneroberer sind die jüngeren Vertreter dieses Milieus gedanklich, rhetorisch und auch ästhetisch auf ein schmales Programm reduziert. Gebetsmühlenhaft wiederholen sie immer wieder dieselben Phrasen, die ihren ideologischen Kern nur unzulänglich verbergen. (83)

Gut gebrüllt! Im Zusammenhang mit der kulturellen Hegemonie, die die Shitbürger im Kultur- und im Wissenschaftsbetrieb, in den Amtskirchen, in den NGOs und im ÖRR erkämpft haben, macht Poschardt eine eigenartige Aussage:

Der Glaube daran, auf den Sieg bürgerlicher Demokratien noch etwas postkoloniale, identitätspolitische Postmaterialität draufsatteln zu können, fiel seit dem 11. September 2001 schwerer. (18)

Meiner bescheidenen Meinung nach begannen ab etwa 2001 die Abbrucharbeiten der Demokratie – und 9/11 kann sogar als deren Symbol verstanden werden. Das war die größte Psy-Op-Aktion der letzten Jahrzehnte und schon als solche demokratiefeindlich. Sie war der Auftakt für die Setzung identitätspolitischer woker und politisch korrekter Ideologeme – also nicht „draufgesattelt“, sondern die „bürgerlichen Demokratien“ ersetzend mit der Zielrichtung „autoritäres Machtregime“, aber mit demokratischem Anstrich. Es folgten manipulative Überwältigungen in der „Migrations-“, der „Pandemie-“ und „Klimakrise“ – unterlegt von linksliberaler „Moralbewirtschaftung“ in Form von überheblichem Paternalismus (89). Das Zeitalter der Postdemokratie war eingeläutet worden. Paradoxal passend dazu war, wie Poschardt richtig zeigt, die Neuerfindung eines WIR: Wir, die Shitbürger, sind die Guten. Alle anderen sind böse.

Grünenwähler bilden eine unerschütterlichere Parallelgesellschaft als Menschen muslimischen Glaubens.

62 Prozent von ihnen habe angegeben, „dass sich ihr Bekanntenkreis hauptsächlich aus anderen Grünen-Wählern zusammensetze“ (97). In den Eliteuniversitäten des Westens sei man näher am Kalifat als an einer liberalen Demokratie.

Die Ersetzung des Politischen durch das Moralische war erfolgreich: ein veritabler Paradigmenwechsel unter dem verlogenen Logo der Demokratierettung als Vorwand für die Sicherung der „eigenen Diskurshoheit und Macht“ (133).

Man kann als Bürger generell den Eindruck haben, daß die vielen kleinen und größeren in das Alltagsleben einschneidenden Veränderungen in manipulativer Absicht initiiert werden: Wenn den Bürgern schwindlig wird im Kopf und sie beschäftigt sind mit Abwehr- und Anpassungsmaßnahmen, sehen sie nicht das ganze Bild und formieren sich nicht zu kritischen Massen des organisierten Widerstands. Und wir können unsere Disruption fortsetzen, bis wir alles durchgesetzt haben und eine andere Gesellschaft, eine Überwachungsgesellschaft, entstanden ist, in der alles sanktioniert wird, was wie Protest aussieht – sogar unsere Gedanken.

Doch die Shitbürger scheinen mit ihrer Taktik ans Ende der Wirksamkeit gekommen zu sein: Widerstand regt sich überall im Westen. Poschardt gibt sich nicht zufrieden mit den wohlfeilen moralischen Entrüstungsorgien der öffentlich-rechtlichen Medien und Personen über die Prolls und Emporkömmlinge Donald Trump und Javier Milei. Stattdessen tut er, was Intellektuelle bis vor 25 Jahren als ihre Pflicht erachteten: Er erklärt die Unika und analysiert ihre Wirkungsweise. Er sieht sie als Personen der Zeit und deren Geist. Und die unanständig hohe Zahl ihrer Wähler desgleichen (109-111). Trump sei erfolgreich, weil er seine Inszenierung offenlege. Seine Worte entsprächen dem Brechtschen V-Effekt (109):

Sein Anti-Elitismus ist kein intellektuelles Projekt, sondern ein Kondensat seiner ewigen Dissidenz gegenüber dem New Yorker Establishment, das den reichen Parvenü stets verachtet und missachtet hat. (110)

Trump sei ein Disruptor und Überholer und gehöre damit zur Avantgarde des Westens. Den argentinischen Präsident Milei respektiert der Autor, weil er „das zu Tode vernutzte Wort ‚Freiheit‘ (…) wieder mit Sinn und Verstand erfüllt hat“ (144). Er, Trump, Meloni und Musk reinstallierten den Wilden Westen, „um an die alten Innovationskräfte, die wüsten und rauen, heranzukommen, die verschüttet sind in jenen westlichen Demokratien, wo Bürokraten und Beamte das Freiheitsgefühl erstickt haben“ (147). Indem er den Staat radikal verschlanke, Tantrasex lehre und Wahlkampf mit der Kettensäge mache, entneurotisiere Milei die Aggression (152). Seine Staatsverachtung sei eine Liebeserklärung an die Bürger (148). Gleich zweimal nennt Poschardt die Milei’sche authentische Art „romantisch“, und zwar weil sie sich gegen die verkniffene Aggressionen und die Autoritätsfixiertheit der Shitbürger dieser Welt richte (150). Allerdings ist Mileis Antietatismus so gar nicht emanzipatorisch, sondern libertär – mit allen Vorzügen und Gefahren, die in einer freien, ungepufferten reinen Marktwirtschaft angelegt sind. Die „hochindividuelle Exzentrik“ der vier Wilden Westler und deren Privatisierungsfuror haben offenbar Poschardts Sympathie. Alles scheint ihm lieber zu sein als der passiv-aggressive Antiheroismus des Shitbürgertums mit seinem Neid, seinen Minderwertigkeitsgefühlen, seiner bornierten Engstirnigkeit, Eifersucht und Konfliktvermeidung. (151)

Dennoch ist er nicht blind für den Paradigmenwechsel im sozialen Miteinander:

Die fortgesetzte Entmündigung der Bürger, die konsequente Bevormundung haben die Gesellschaft infantilisiert. Durch die engen Kurven der Krise kommt ein erklecklicher Teil nur noch mit staatlichen Stützrädern. (70)

Die Wohlstandsbürger verwilderten, würden roh und mißtrauisch, wenn der Wind sich dreht. Daran führt offenbar für Poschardt kein Weg vorbei. Denn an und für sich hat er gegen Disruptionen in der Gesellschaft nichts einzuwenden.

Das Shitbürgertum dekonstruiert sich nicht selbst, sondern wird dekonstruiert. Es verliert seinen Schrecken. Gleichzeitig droht eine gesellschaftliche Verrohung. (164)

Zustimmend zitiert er Ivan Krastev:

Wir sind jetzt draußen in der Wildnis. Mich erinnert das immer an diesen Film, in dem ein Typ die ganze Zeit vor dem Fenster sitzt, und plötzlich brechen Leute in sein Haus ein. Und er versucht die Einbrecher mit der Fernbedienung auszuschalten. (164f.)

Am Schluß seines Buches beschwört Poschardt den Untergang seiner sozialen Lieblingsschicht: „Das Shitbürgertum ist Shit, weil es (…) besonders feige und bequem agiert. Es muß dekonstruiert werden. Und zwar umfassend“ (153) .Und wenn der Shitbürger der Fürst der Kontrollmaschinerie ist, müsse diese Maschinerie zertrümmert werden (127). „Die Zerstörung der CDU ist das letzte Meisterwerk der shitbürgerlichen Moralpolitik“ (173). Sie war nur möglich, weil die CDU in weiten Teilen zum Shitbürgertum übergelaufen sei.

Merz setzt die Auslöschung bürgerlicher Freiheitsideale im Sinne von Angela Merkel fort… Das Nicht-Shitbürgertum muss jetzt aus seiner Bequemlichkeit ausbrechen. Es kommt bald die Zeit, da es darum gehen wird, dieses Shitbürgertum abzuräumen. (175f.)

Da Poschardt allerdings nicht thematisiert, daß das westliche Shitbürgertum von starken Instanzen wie EU, UNO, WHO und WEF zu seiner Sicht, seiner Verhaltensweise und seiner Politik genötigt wird, kann er keine Hinweise dafür geben, wie eine Entmachtung der „Linksliberalen“ gelingen könnte. Statt Politik nur Psychologie: Die Shitbürger sollten sich selbst therapieren. Ihr Schwarz-Weiß-Denken sollten sie durch ein stabileres Selbstbild überwinden.

Am Ende steht eine wieder emanzipationsfähige Gesellschaft, in der ein Shitbürger differenzierter auf andere Menschen und Meinungen reagieren und stabilere, liberalere Beziehungen zu anderen Teilen der Gesellschaft erhalten kann. (168)

Wäre dies eine realistische Option, hätte Ulf Poschardt dieses Buch nicht schreiben müssen.

Bildbeschreibung

Ulf Poschardt: Shitbürgertum. Frankfurt am Main: Westend 2025, 176 Seiten, 22 Euro.

Beate Broßmann, Jahrgang 1961, Leipzigerin, passionierte Sozialphilosophin, wollte einmal den real existierenden Sozialismus ändern und analysiert heute das, was ist – unter anderem in der Zeitschrift TUMULT. Wenn Zeit ist, steht sie am Buch-Tresen.

Michael Meyen zu Ulf Poschardt

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Bildquellen: Ulf Poschardt 2013 in Düsseldorf. Foto: Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons