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Buch-Tresen | 24.04.2025
Mythos aus der Gosse
James Ellroy wiederentdeckt: In seinem „amerikanischen Thriller" verliert Jack Kennedy den Heiligenschein und eine Epoche wird neu geschrieben.
Text: Antje Meyen
 
 

Die Winterabende am Kamin sind vorbei. Ich verabschiede mich von Kemper Boyd, Pete Bondurant und Ward J. Littell. Von einer Story voller Blut, Gewalt und Intrigen. Ein amerikanischer Thriller erschien 1995 und ist aktueller denn je. Während ich im Lesesessel eine Zeitreise in die Jahre 1958 bis 1963 unternehme, gibt Trump die Akten zum Kennedy-Mord frei. 80.000 Seiten. „Dass die Dokumente bahnbrechende Enthüllungen über das Attentat bringen werden, wird eher nicht erwartet. Der Mord am 35. Präsidenten der USA hat über Jahrzehnte zahlreiche Verschwörungstheorien hervorgebracht. Kennedy war am 22. November 1963 in Dallas mit mehreren Gewehrschüssen ermordet worden“, sagt die Tagesschau gerade.

Klappe zu, Affe tot? Wer damit nicht zufrieden ist, wird James Ellroy lieben. Wikipedia weiß über diesen 1948 in Los Angeles geborenen Autor: „Ellroy beschreibt mit Vorliebe die dunklen Seiten der amerikanischen Gesellschaft. Sein Werk zeichnet sich durch einen lakonischen Sprachgestus, eine dichte Handlung und eine pessimistische Weltsicht aus.“ Genau das ist die Stärke des Romans: keine Schnörkel, kein Wort zu viel. Personal in Hülle und Fülle, das immer in Aktion ist. Man muss dranbleiben an jeder Zeile – sogar die gewohnte Lesebegleitmusik stört. Die „dunklen Mächte“ spinnen ihre Fäden so schnell wie komplex und verlangen nicht nur den Beteiligten, sondern auch dem Leser alles ab. Stakkato-Prosa nannte die FAZ den Schreibstil Ellroys. Highspeed von der ersten bis zur letzten Seite. Zur „pessimistischen Weltsicht“ später.

Ein amerikanischer Thriller beschreibt Aufstieg und Ende John F. Kennedys aus der Sicht „schlechter Menschen“. Aus dem Vorspann:

Jack Kennedy war der legendäre Inbegriff eines besonders saftigen Abschnitts unserer Geschichte. Er konnte die Leute herrlich einseifen und hatte eine Weltklassefrisur. Er war ein Bill Clinton ohne ständige Medienüberwachung und mit ein paar Speckrollen weniger am Bauch. Angesichts seiner späteren Heiligsprechung hätte Jack in keinem besseren Augenblick umgelegt werden können. Doch die Ewige Flamme auf seinem Grab wird von Lügen umloht. Es ist an der Zeit, seine Urne umzubetten und ein paar Männer genauer zu betrachten, die seinen Aufstieg begleitet und seinen Fall befördert haben. Es waren dies verkrachte Polizisten und Erpressungskünstler. Abhörspezialisten und Glücksritter und schwule Nachtclub-Entertainer … Es ist an der Zeit, eine Epoche von ihrem Mythos zu befreien und einen neuen Mythos zu begründen, der in der Gosse beginnt und nach den Sternen greift. Es ist an der Zeit, anzuerkennen, was schlechte Menschen geleistet haben und wie sie unbemerkt das Antlitz ihrer Zeit prägten. Von ihnen handelt dieses Buch.

Bondurant, Boyd und Littell: Der Ex-Polizist und die beiden FBI-Männer ziehen ihr eigenes Ding durch, dienen mal verschiedenen, mal denselben Herren und machen manchmal auch gemeinsame Sache. Sie greifen ein in die ganz große Politik um Jack und Bobby und tauchen ab in den schmutzigen Untergrund. Leute umlegen für Jimmy Hoffa, Präsident der Teamster-Gewerkschaft, Stoff beschaffen für Howard Hughes, drogen- und medikamentenabhängig und am Ende nur noch als Freak beschrieben, der an Bluttransfusionsschläuchen hängt. Mit dem Leonardo diCaprio in Scorseses Aviator von 2004 hat dieser Hughes gar nichts gemein. Das Roman-Personal besteht aus echten Personen der Zeitgeschichte und aus erfundenen. Fidel Castro alias „Der Bart“ spielt mit, Exilkubaner trainieren unter Anleitung der CIA für den Überfall in der Schweinebucht. Gegner zu skalpieren, ist ihr Sport, genauso wie die brennenden Kreuze für den Ku-Klux-Klan. Immer mittendrin: CIA und FBI. Dazu wahlweise die Mafia, die ihre eigenen Pläne gegen Castro schmiedet. Während die Schweinebucht-Invasion scheitert und die Kennedys immer weiter ins Zentrum der Macht rücken, findet Ward Littell die geheimen Kassenbücher der Teamster – Beleg für Geldwäsche im Dienst der Mafia und Finanzierungsquelle für Geheimaktionen. Als Patron im Hintergrund zieht Kennedy Senior die Strippen.

Ellroy verwebt historische Fakten mit Fiktion in diesem Trip durch die Abgründe der amerikanischen Geschichte. Er baut seine Story chronologisch auf, unterbrochen immer wieder von „Dokumenteneinschüben“. Hier lesen wir Abhörprotokolle, Telefonmitschnitte, Aktennotizen. Und erkennen, wer an den ganz großen Schalthebeln sitzt: FBI-Direktor J. Edgar Hoover. JEH hält die Fäden in der Hand, lässt Marionetten wie Boyd oder Littell tanzen. Hoover bleibt auch nach der Wahl Kennedys im Amt – die Macht hinter der Macht. Ähnlich wie in Schachbrett des Teufels: Dort beschreibt David Talbot ein „unterirdisches Netzwerk finanzieller, geheimdienstlicher und militärischer Interessen, das die nationale Politik lenkte, ganz gleich, wer gerade im Weißen Haus saß“. Auch Allen Dulles, Hauptheld im Schachbrett, bis 1961 Leiter der CIA und danach deren graue Eminenz, bekommt bei Ellroy einige Auftritte.

Vielleicht muss man von ganz unten kommen, um die Dinge so auf den Punkt zu bringen. Ellroys Mutter wurde Opfer eines nie aufgeklärten Sexualmords, der Vater hatte nichts. James startete folgerichtig eine kleinkriminelle Laufbahn, nahm Drogen und wäre 1977 fast an den Folgen gestorben. Danach erfindet er sich neu: verdient Geld als Caddy auf Golfplätzen und schreibt seinen ersten Thriller. Der Durchbruch gelingt 1987 mit The Black Dahlia. Die Kritik feiert Ellroys „schonungslosen, nihilistischen Blick auf die Nachtseite des amerikanischen Traums“. L.A. Confidential wird mit Kevin Spacey, Russell Crowe und Kim Basinger auch als Film ein Erfolg. Danach kündigt Ellroy an, mit dem Krimi-Genre abgeschlossen zu haben – und sich auf historische Themen zu verlegen.

Ein amerikanischer Thriller kommt 1995 in die Buchläden. Schon mit dem Titel macht Ellroy deutlich, dass die Geschichte der wohl größte Krimi aller Zeiten ist. Noch einmal aus dem Vorwort:

Unser Heimweh nach einer besseren Vergangenheit, die es nie gab, ist ein Produkt der Massenmedien. Sie haben eiskalt berechnende Politiker mit einem Heiligenschein versehen und deren zweckdienliche Taten in hochsinnige moralische Entscheidungen verwandelt. Unsere Sicht ist derart verschwommen, dass Wahrheitsfindung und Erkenntnis unmöglich geworden sind.

Pessimistische Weltsicht? Jeder kann selbst entscheiden, was er aus Ellroys Deutungsangebot schlussfolgert. Der Autor beendet den Gedanken mit diesem Satz:

Nur rücksichtslose Wirklichkeitstreue kann da Abhilfe schaffen.

In der Underworld Trilogie folgen Ein amerikanischer Albtraum und Blut will fließen – damit spannt sich der Bogen vom Aufstieg JFKs bis zur Ermordung Martin Luther Kings.

Dank an Peter, der Ellroy für uns aus der Vergessenheit geholt hat. Seine Mappe voller Auszüge aus dem Buch (das müsst ihr lesen, da steht alles drin …), die er uns beim letzten Treffen in die Hand drückte, war Anstoß für Kauf und Lektüre. Teil 2 und 3 hat Medimops gerade auf den Versandweg geschickt. Antiquarisch ist Ellroy für wenige Euro zu haben, als Taschenbuch gibt es die drei Bände in einer Neuauflage.

Bildbeschreibung

James Ellroy: Ein amerikanischer Thriller. Berlin: Ullstein Buchverlage, 832 Seiten, 14,99 Euro.

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Bildquellen: Michael Conway auf Pixabay