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Buch-Tresen | 16.01.2025
Mütter dichten nicht
Der Roman „Ein anderes Leben“ der Schauspielerin Caroline Peters dreht sich um Hanna, eine Mutter, die anders war. Ihre Töchter erinnern sich unterschiedlich.
Text: Sabine Keuschen
 
 

Hanna wurde Mitte der 1930er Jahre geboren. Kriegsgeneration. Das Alter meiner Mutter. Sie arbeitete weiter, nachdem ich geboren wurde, und nahm am gesellschaftlichen Leben teil, obwohl sich das in bürgerlichen Kreisen für eine Mutter nicht gehörte. Sie sparte so lange, bis sie in der Lage war, heimlich ihren Führerschein zu machen. Mein Vater hielt das nicht für notwendig. Sie hat mich kulturell geprägt, mir Bücher geschenkt und mich ermutigt, Dinge in Frage zu stellen. Ich erinnere mich an Literaturgespräche am Küchentisch. Drei Frauen und ich. Meine Mutter, ihre Cousine, die Lehrerin war, und deren Partnerin, eine Buchhändlerin. Die Erwachsenen haben die eine oder andere Packung Zigaretten geraucht. Es dampfte buchstäblich, auch in den Köpfen. Meine Mutter hat nicht mit mir gespielt oder Ausflüge gemacht. Sie konnte mir weder beim Kochen noch beim Handarbeiten helfen, aber sie hat mir ihre Welt vorgeführt – selbständig durchs Leben zu gehen und nicht den bürgerlichen Erwartungen zu entsprechen.

Auch Hanna, die Mutter im Roman, brauchte ihre Freiräume. Die Kinder mussten sich um sich selbst kümmern und bekamen zur Einschulung einen Wecker geschenkt. Frühes Aufstehen empfand Hanna als Zumutung des bürgerlichen Lebens, mit der man sich nicht belasten sollte. Die Kinder wurden manchmal im Kindergarten oder auf Bahnsteigen vergessen. Hanna war nie pünktlich, denn ihr Motto lautete: Niemand, der etwas auf sich hält, macht es so wie die anderen. Es störte sie nicht, dass es den Töchtern peinlich war.

Hanna hat mit ihren drei Heidelberger Studienfreunden Klaus, Roberto und Bow je eine Tochter. Das Buch beginnt mit der Beerdigung von Bow, dem Vater der Erzählerin und Ziehvater der älteren Schwestern Laura und Lotte. Hanna ist bereits verstorben und liegt hunderte Kilometer entfernt in der Tiefe der Ostsee, versenkt in einer mit Asche und etwas Blei gefüllten Flaschenpost. Sie wollte es so. Mit der Beerdigung von Bow beginnt ihre Auferstehung.

Hanna machte 1953 Abitur, studierte und promovierte in Slawistik und Germanistik, lernte Sprachen, darunter Altkirchenslawisch, und übersetzte Gedichte. Sie liebte die russischen Dichter. Die jüngste Tochter erinnert sich an Sonntage, an denen Hanna sekttrinkend im Bett lag und aus russischen Klassikern vorlas. Sie erinnert sich auch daran, wie sie ihre Mutter in die Universitätsbibliothek begleitete und wie diese mit Studenten flirtete, während sie ihnen Anna Achmatowa ans Herz legte.

In der Rückblende erinnern sich die Töchter unterschiedlich an ihre Mutter. So gibt es auch die Version, dass Hanna gar keine ernstzunehmende Aufgabe in der Bibliothek besaß und nur kochte, schwätzte und Gäste bewirtete. Eine verheiratete Frau konnte zu der Zeit sicher keine ernstzunehmende Übersetzerin oder Dichterin sein. Sie war Mutter – und Mütter dichten nicht. Die Wahrnehmung der Töchter spannt sich von „großer Sinn für praktische Dinge“ bis „viel Zerstreutheit und wenig Bezug zum Realen“. Sie konnte den Töchtern nicht mal den Anorak zumachen, ohne ihnen einen Kinnhaken zu verpassen. Oder die Serviettenringe, die jeden Tag benutzt wurden. Laura glaubt, dass die Veilchen ihr Muster waren, und Lotta denkt, dass die guten Stücke von Tante Gisela geerbt wurden. Die Erzählerin sagt dagegen, dass die Ringe vom Flohmarkt waren und das Veilchen zu ihr gehörte.

Das Buch erzählt von einer Frau, die sich im Leben einen Platz gesucht hat, den sie leidenschaftlich und ernsthaft ausfüllte und der zu jener Zeit nicht den Vorstellungen der Gesellschaft entsprach. Selbst die Ich-Erzählerin hat sich so manches Mal „mehr Mutter“ gewünscht und ist dennoch voller Bewunderung für ihre Mutter. Jahre nach Hannas Tod beginnt sie zu verstehen und zu verzeihen.

Caroline Peters erzählt in ihrem Debüt mit Witz und Charme über eine ungewöhnliche Familie. In Interviews berichtet sie, dass Hanna sehr viel Ähnlichkeit mit ihrer Mutter aufweist. Sie hat die biografischen Daten ihrer Mutter genutzt und etwas hinzugedichtet. In ihrer Familie gab es viele starke Frauen, die am bürgerlichen Leben gescheitert und ihren Weg gegangen sind. Hanna ist keine klassische Mutter, sondern geht ihrer Leidenschaft, der russischen Literatur, nach, feiert gern und liebt es, im Mittelpunkt zu stehen. Das Buch handelt vom Erinnern und davon, dass dabei jeder seine eigene Geschichte erzählt. Es geht auch um Erwartungen: Was dürfen sich Mütter erlauben? Warum habe ich es ihr nicht gegönnt? Unsere Eltern: Das ist der größte Stoff im Leben und längst nicht vorbei, wenn Vater und Mutter sterben. Diese Hanna: Was würde meine Mutter von ihr halten?

Caroline Peters spielt im Ensemble des Wiener Burgtheaters sowie in Filmen. Mit ihrem Partner betreibt sie in Wien ein Postkartengeschäft, eine Galerie für Fotopostkarten. Sie verfasste das Buch während er spielfreien Corona-Zeit.

Bildbeschreibung

Caroline Peters: Ein anderes Leben. Roman. Berlin: Rowohlt 2024. 240 Seiten, 23 Euro.

Nach einer langen Managementkarriere widmet sich Sabine Keuschen ihrer Leidenschaft für Literatur und arbeitet in einer Buchhandlung.

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Bildquellen: Mai Ling Thomas @Pixabay