Eine Buchrezension erfüllt mehrere Funktionen. Neben der inhaltlichen Zusammenfassung und der kritischen Auseinandersetzung mit Stil und Textkohärenz soll sie eine Orientierungshilfe sein. Ist das Buch für den Leser von Interesse? Bei „Hybris und Nemesis“ von Rainer Mausfeld stehe ich einerseits vor der Herausforderung, eine fünfhundert Seiten umfassende Forschungsarbeit komplexen Inhalts auf drei bis vier Seiten möglichst inhaltsgetreu und präzise reduzieren zu müssen. Andererseits beschäftigt mich ein Gedanke, der mir wie ein unlösbares Problem erscheint – die Tatsache, dass Bücher wie dieses leider nie von den Menschen gelesen werden, die es dringend nötig hätten. Ich frage mich: Wem nützen all die lehrreichen Sachbücher, wenn sie nur von einer kleinen Schicht gelesen werden und sich an den Umständen, auf die sie sich beziehen, gar nichts ändert?
Unwissenheit ist die Wurzel allen Übels. Wer nicht viel weiß, muss umso mehr glauben. Je dümmer das Volk, desto besser für den Staat. Die Ignoranz und die naive Arglosigkeit der schweigenden Mehrheit sind zentrale Faktoren für Machtmissbrauch. Sie erst ermöglichen es einer politischen und ökonomischen Elite, unsere sogenannte Demokratie zu unterlaufen und antidemokratische Verhältnisse zu etablieren. Womit wir bereits beim Kern des Buches wären. Rainer Mausfeld beginnt mit dem Phänomen der Macht – die Befähigung des Menschen, andere dem eigenen Willen unterwerfen zu können. Der Mensch habe eine natürliche Neigung, nach Macht zu streben, und ein Blick in die Zivilisationsgeschichte zeige, dass dem menschlichen Streben nach Macht in den verschiedensten Kulturen immer wieder spezifische Schutzmechanismen entgegengestellt wurden, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht zu gefährden.
In den geteilten Normen und in den Wertesystemen von Jäger- und Sammlergesellschaften zeigt sich eine bewusste Ablehnung von Dominanzverhältnissen. Sie verfügen über ein höchst wirksames gesellschaftliches Ethos hinsichtlich eines Umgangs mit Macht. (Seite 100)
Ohne die jeweiligen Gesellschaften und Zivilisationen aufzählen zu wollen, die Mausfeld beispielhaft anführt und deren Elitenbildung sowie Elitenkontrolle er ausgiebig erörtert, gilt es festzuhalten, dass die Suche nach geeigneten Mitteln, um Machtmissbrauch kontrollieren zu können, so alt ist wie die Menschheit selbst. Schon sehr früh habe sich ein gesellschaftliches Bewusstsein dafür entwickelt, dass die Entstehung von Macht- und Besitzeliten das Wohl einer Gesellschaft gefährde und eine Zivilisierung von Macht durch gesellschaftliche Schutzmechanismen von Nöten gewesen sei. Mausfeld spricht von einem langen „Weg zur zivilisatorischen Leitidee der Demokratie“. Denn die Erfindung der Demokratie fand erst im Athen der Antike statt.
Bei Rainer Mausfeld liest sich das so: Aufgrund von Verteilungskämpfen zwischen Adelsgeschlechtern befand sich Griechenland in einer wirtschaftlichen und politischen Krise, die mit einer Verelendung von Teilen der Bevölkerung einherging. Es drohten Bürgerkriege. Als Revolutionsprophylaxe ersannen die Reformer Solon und Kleisthenes Lösungsversuche. Man stellte sich die Frage, wie sich der Zusammenhalt in der Gesellschaft wiederherstellen ließe. Bei den Reformen ging es vordergründig darum, das Volk wieder zu befrieden. Die Reformbemühungen von Solon und Keisthenes bildeten das Fundament für eine Demokratie, aber erst mit der Entstehung der philosophischen Diskussionskultur im Athen der Antike konnte sich die Idee einer Demokratie entwickeln, der Begriff ausformuliert und als Gesellschaftsform in die Praxis umgesetzt werden. Die ursprüngliche Idee von Demokratie galt dem Schutz der Gesellschaft. Die politischen und ökonomischen Eliten sollten der Kontrolle durch das Volk unterworfen werden.
Die zivilisatorische Leitidee der Demokratie zielt auf eine konsequente Vergesellschaftung von Herrschaft: Alle Machtstrukturen bedürfen einer Legitimation durch die gesellschaftliche Basis und sind dieser gegenüber rechenschaftspflichtig. Damit soll eine gesellschaftliche Selbstbestimmung gewährleistet werden, in der jeder Bürger einen angemessenen Anteil an allen Entscheidungen hat, die das eigene gesellschaftliche Leben betreffen. (Seite 218)
Von dieser Leitidee ausgehend, führt Mausfeld seine Leser über eine Kurzdarstellung der Demokratiekonzeption zur Aufklärung. Es folgt eine differenzierte Analyse der Staatsphilosophie von Niccolò Machiavelli, bis er zu den kapitalistischen Demokratien der Moderne kommt. Mausfeld hebt hervor, dass die Idee der Demokratie seit mehr als zweitausend Jahren immer schon ein Dorn in den Augen der Eliten war und dass diese stets bestrebt waren, ihre Macht, ihr Vermögen sowie ihre Privilegien zu erhalten und zu sichern. Im Sinne einer kostengünstigen Revolutionsprophylaxe ersannen die Eliten der Moderne folglich eine neue Staatsform, die eher einer Mogelpackung gleicht, als dass sie noch demokratische Züge an sich hätte. Die Rede ist von der repräsentativen Demokratie. Mausfeld spricht in diesem Kontext vom „größten Wortbetrug der Geschichte“:
Schon früh erkannten Macht- und Besitzeliten, dass sich das Wort Demokratie als höchst wirksames Instrument der Stabilisierung und Ausweitung von Macht nutzen lässt. Dieses Wort allein ruft in den Köpfen der Machtunterworfenen große Versprechen und Verheißungen von Freiheit und Selbstbestimmung, von Stabilität und Frieden hervor. Da es in hohem Grad affektiv aufgeladen ist, eignet es sich in besonderer Weise zur Schaffung von ideologischer Macht. (Seite 256)
Im dritten Teil von „Hybris und Nemesis“, der immerhin die Hälfte des Buchs ausmacht, analysiert Mausfeld akribisch, wie Eliten sich den Begriff der Demokratie gekapert und seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt haben. Der emeritierte Psychologe ist mit den Möglichkeiten von Bewusstseinsmanipulation bestens vertraut und zeigt, welche Mittel seitens der Machthabenden angewandt werden, um in den Köpfen der Menschen ein spezifisches Selbst- und Weltverständnis zu installieren. Die Propaganda der Leitmedien ist relativ leicht zu erkennen, wenn man genau hinschaut, zuhört und hinterfragt. Mausfeld aber zeigt, wie Tiefenindoktrination funktioniert. Die Bewusstseinskontrolle beginnt bereits im Kindergartenalter. Auf allen Ebenen und in allen Institutionen unserer Gesellschaft habe sich die ideologische Macht des Kapitalismus etabliert. Durch eine rigorose Kontrolle des öffentlichen Informationsraumes wird von staatlicher Seite festgelegt,
was Wahrheit und was Lüge, was vernünftig und was irrational ist, was als Wissenschaft zu gelten hat und was nicht, was Realität und was „Verschwörungserzählung“ ist. (Seite 368)
Die Krux an der Tiefenindoktrination ist, dass uns das Zustandekommen unseres Selbst- und Weltverständnisses in der Regel nicht bewusst ist. Die Normen und Werte, die wir im Rahmen unserer Sozialisation implizit verinnerlichen, halten wir gemeinhin für unumstößlich. Es kommt den Allerwenigsten in den Sinn, diese zu hinterfragen. Mausfeld betont, dass die Sprache das mächtigste aller Manipulationsinstrumente sei. Wer die Bedeutung von Wörtern festlege, beherrsche das Denken der Menschen und somit auch ihr Handeln und Tun. Und darauf hätten sich die „parasitären Eliten“ besonders spezialisiert. Mausfeld lässt hier keinen Zweifel:
Demokratie und Kapitalismus sind in ihrem Wesenskern und in ihrer Funktionslogik grundsätzlich miteinander unvereinbar. (Seite 274)
Zu den zentralen Prinzipien des Kapitalismus gehören Privateigentum, Profitmaximierung und Kapitalakkumulation.
Kapitalismus bedeutet die Herrschaft des Kapitals. […] Kapitalmacht bestimmt die Chancen auf einen Zugang zum öffentlichen Debattenraum, den Erfolg bei Wahlen, das Stimmgewicht bei politischen Entscheidungen, ja sogar auf den Prozess der Rechtserzeugung. (Seiten 274-275)
Noch einmal die ursprüngliche Leitidee: Um den gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht zu gefährden, sollen die politischen und ökonomischen Eliten einer vollständigen Kontrolle durch die Basis unterworfen werden. Und jeder Bürger soll an allen Entscheidungen, die das eigene gesellschaftliche Leben betreffen, mitwirken können. Demzufolge gibt „unsere Demokratie“ vor, etwas zu sein, was sie nicht ist. In einer wahren Volksherrschaft würde die Macht vom Volke ausgehen. In „unserer Demokratie“ dagegen, sagt Rainer Mausfeld, erheben sich die von uns gewählten Repräsentanten, sobald sie in Amt und Würden sind, über das Volk und vertreten nicht dessen Interessen, sondern die einer Besitzelite. Die Politik ist aufs Engste mit der Wirtschaft und den Banken verstrickt. In „unserer Demokratie“ ist das Volk den Machtausübenden ausgeliefert und der Illusion erlegen, es befände sich in demokratischen Verhältnissen. Stattdessen sind der Staatsapparat und die von ihm finanzierten Medien stets darum bemüht, die Bürger hinsichtlich der tatsächlichen Machtverhältnisse und ökonomischen Interessen der Besitzeliten in Unwissenheit zu halten.
Wie eingangs erwähnt, halte ich die Unwissenheit sowie die politische Apathie der schweigenden Mehrheit für das größte Problem der Demokratie. Eine Demokratie funktioniert nur mit mündigen Bürgern, die Verantwortung für die politischen Prozesse übernehmen. Mündigkeit würde somit bedeuten, dass das Volk die Machenschaften der Machtausübenden nicht nur durchschaut, sondern kontrolliert und gegebenenfalls direkt interveniert. In Anbetracht der tatsächlichen Gegebenheiten müssen wir jedoch konstatieren, dass „unsere Demokratie“ in zweierlei Hinsicht eine Illusion ist. Eine Illusion ist sie insofern, weil der Bevölkerung vorgegaukelt wird, wir befänden uns in einer Demokratie, obwohl viele Entscheidungen dem Mehrheitswillen entzogen werden. Und sie erweist sich als Illusion, wenn man den Blick auf die Bevölkerung richtet: Die passive Mehrheit zieht es offenkundig vor, sich den Annehmlichkeiten des Konsums hinzugeben und sich bereitwillig bevormunden zu lassen. In Rom der Antike hatte der Dichter Juvenal die Metapher Panem et circenses (Brot und Spiele) geprägt. Die Besitzelite gab der verarmten Bevölkerung extrem verbilligtes, teils sogar kostenloses Getreide und Gladiatorenspiele, um den Blick vom eigentlichen Problem abzulenken. Eine Revolutionsprophylaxe! Heute ist das nicht viel anders. Solange der Kühlschrank gefüllt und narkotisierende Unterhaltung bis zum Umfallen gewährleistet ist, wird sich der brave Bürger nicht erheben. Es möge keiner auf die Idee kommen, gegen die herrschende Kaste zu opponieren. Sollte es doch einer wagen, der möge ausreichend Rückgrat haben! Dissidenten werden, wie wir an unzähligen Beispielen sehen können, als Verschwörungstheoretiker oder Querdenker diffamiert und gegebenenfalls strafrechtlich verfolgt.
„Hybris und Nemesis“ ist ein analytisches Meisterwerk, das schonungslos die subtilen und institutionell organisierten Machtstrukturen unseres Gesellschaftssystems aufdeckt. Es zu lesen, ist aus meiner Sicht spannender als jeder Krimi. Es ist keine leichte Lektüre. Es ist frustrierend, im Detail zu verstehen, wie die Bevölkerung von den Machthabenden gezielt manipuliert und ausgebeutet wird. Das Buch ist ein Weckruf, der, wie ich befürchte, im Vakuum des mehrheitlichen Desinteresses verhallen wird. Mausfelds Resümee: wahrhafte Demokratie oder zivilisatorischer Abgrund!
Rainer Mausfeld: Hybris und Nemesis. Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt. Einsichten aus 5000 Jahren. Frankfurt am Main: Westend 2023, 510 Seiten, 36 Euro.
Dr. Donar Rau hat am Kompaktkurs Journalismus an der Freien Akademie für Medien & Journalismus teilgenommen.
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