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Welt-Tresen: Ungarn | 04.02.2025
Jein zu Migration
Persönliche Erfahrungen, Eindrücke, Gedanken zu einem Brennpunktthema. Oder: Wie eine Ungarin von Moskau über die Kanaren und Wales nach Berlin kam.
Text: Éva Péli
 
 

Seit nun fast 30 Jahren bin ich eine Migrantin aus Ungarn: Eine Wanderin zwischen Europas Ländern, von Ost nach West und wieder zurück. Mal als ausländische Studentin mit Stipendium, mal als EU-Bürgerin ohne Arbeitserlaubnis und dann als EU-Bürgerin mit Aufenthaltsrecht. Allenfalls privilegiert unter denen, die die Heimat verlassen haben. In vielerlei Hinsicht. Jedenfalls beschäftigt mich das Migrationsthema, nicht nur deswegen, weil der Fünf-Punkte-Plan von Friedrich Merz (CDU) und das „Zustrombegrenzungsgesetz“ momentan die Nachrichten beherrschen.

Ich bin überzeugt davon, dass die meisten Menschen, die ihre Heimat verlassen, das am liebsten nicht tun würden. Beweggründe gibt es endlos – legitim oder nicht, wer kann das schon entscheiden.

Mitte der 1990er Jahre war ich in Moskau als Stipendiatin aus Ungarn privilegiert. Nicht nur, weil ich 250 US-Dollar pro Monat erhielt – etwa zehnmal so viel wie unsere Dozenten am Puschkin-Institut. Dort habe ich zum ersten Mal hautnah erlebt, dass ich Glück mit meiner Pigmentierung habe. Es war zu der Zeit in Moskau nicht ratsam, mit Freunden aus Afrika, aus China und aus anderen ostasiatischen Ländern auf die Straße zu gehen. Fremdenhass und – verblüffend in Russland – Neonazismus erlebten wir täglich. Chinesen, Inder, Afrikaner sollten einige Wochen rund um Hitlers Geburtstag im April nicht auf die Straße gehen und durften „entschuldigt“ zu Hause bleiben. Zwei Kommilitonen aus der Türkei wurden von russischen Hooligans bei Tageslicht mit Eisenstangen so verprügelt, dass ich sie mit ihren geschwollenen, verfärbten Gesichtern nicht erkannt habe. Ein anderer, ein Doktorand aus Japan, wurde so geschlagen, dass er noch wochenlang am Kopf einen Verband trug und bald darauf sein Studium abbrach.

Bildbeschreibung

Das Studentenwohnheim, in dem fast nur Ausländer lebten, öffnete mir die Augen für die Welt. Wir erfuhren aus eigener Hand, was die Menschen umtreibt, worauf sie Wert legen, was für Sehnsüchte ein gültiger Reisepass bei einigen aus Libanon, aus Afghanistan, aus Pakistan auslösen kann. Europa war ein Sehnsuchtsort für viele, etwas Unerreichbares, Kostbares, nur Privilegierten vorbehalten. Wir erfuhren Details, die wir am liebsten gar nicht hätten hören und sehen wollen. Die Narben von Folter auf dem Rücken eines Mitbewohners aus Palästina, die Schritte im Korridor eines anderen aus dem Libanon, der Tag und Nacht in die Küche ging mit seiner klappernden Teekanne, vermutlich von Alpträumen gequält.

Ich habe viele Menschen aus vielen Ländern kennengelernt, die ein Leben führten, das heute umso mehr unvorstellbar wirkt – alles für den Traum von einem besseren Leben. Da war der älter aussehende, spindeldürre Chinese, der jeden Tag Fischköpfe kochte. Er arbeitete auf einem Moskauer Markt und wohnte im Studentenheim. Für mehr reichte das Geld nicht. Afghanische Flüchtlingsfamilien lebten auf ganzen Etagen. Sie führten uns in ihre Kultur ein und zeigten, was Gastfreundschaft heißt. Ihre Frauen waren selten zu sehen. Die Männer hingen schauten laufend die Nachrichten im Fernsehen – vielleicht kommt doch heute etwas aus der Heimat! Wir waren alle Ausländer oder Flüchtlinge. Das Wort „Migrant“ haben wir noch nicht gekannt.

Dann ging es gen Westen, nach Spanien. Aus der privilegierten postgraduierten Studentin aus dem „westlichen“ Ungarn ist über Nacht eine Osteuropäerin „sin papeles“ geworden – ohne Papiere. Ein Neubeginn mit 28 Jahren auf Teneriffa. Es war Anfang 2004 – der Aufbruch Osteuropas in die Europäische Integration. Zu Hause haben wir das Signal gehört: EU-Beitritt! – und sind dem Ruf gefolgt. Ich war jung, risikofreudig, hatte ein Doktorstudium der russischen Philologie in der Tasche – ohne praktischen Nutzen – und einen Systemwechsel hinter mir. So wurde ich plötzlich – aus jugendlicher Naivität und Unwissenheit – zur Schicksalsgefährtin von Flüchtlingen aus Subsahara und Senegal, von „Menschen ohne Papiere“. Dass Spanien damals den Arbeitsmarkt für die neuen EU-Länder nicht gleich geöffnet hatte, war mir nicht bekannt. Ich habe eine Kostprobe davon bekommen, was es heißt, „illegal“ zu sein. So endete der Sturzflug der frisch diplomierten Doktorandin mit harter Landung und ich wurde zur Werbezettelverteilerin ohne Arbeitserlaubnis für spanische Restaurants. Rasch trippelte ich auf der Karriereleiter von der Kellnerin – immer noch ohne Papiere – zur mehrsprachigen Reisebürokauffrau hoch, wo ich dann mit dem Knall der Finanzkrise 2008/2009 von der gläsernen Decke wieder abprallte.

Auf den Kanarischen Inseln lebten damals viele Menschen aus Lateinamerika, aus der Karibik, aus Osteuropa. Sie haben als Kellner, Köche, Zimmermädchen, Hauskeeper, Handwerker, lebende Statuen, Musiker, Tänzer, Blumenverkäufer die Touristen meist aus westeuropäischen Ländern bedient und bespaßt. Sicher waren da einige aus politischen Gründen, aber die allermeisten haben ihr Heimatland verlassen, weil das Leben zu Hause hoffnungslos war, weil sie ihre Familien ernähren und ein besseres, ein würdiges Leben haben wollten. Arbeitssame, anständige Menschen, die froh waren, wenn sie eine Arbeit hatten. Am liebsten hätten sie das legal gemacht.

Ende 2008 haben mich Finanzkrise und Arbeitsverlust in das walisische Seebad Llandudno katapultiert. Dort kellnerte ich neun Monate im Hotel „Alice Wunderland“, wie Spanier und andere Osteuropäer, viele aus Polen. Osteuropäer waren dort bereits seit 2004 willkommen und begehrt: fleißige, zuverlässige, belastbare, mehrsprachige junge Arbeitskräfte. In Deutschland war die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die zu den Grundfreiheiten der Europäischen Union zählt, für die neu beigetretenen Länder bis 2011 ausgesetzt. Gleichzeitig hatten deutsche Unternehmen den osteuropäischen Markt schon längst erobert, aber ihre Türen für Arbeitssuchende aus dem Raum hielt die Bundesrepublik sorgfältig zu.

Meine nächste Station war Berlin. Dort unterrichtete ich zu der Zeit, als „Mama Merkel“ den Flüchtlingen über Ungarn die Tür öffnete, als Dozentin in Integrationskursen. Viele Kollegen wussten wohl jahrelang nicht, dass ich aus Ungarn bin, kaum jemand fragte mich danach – ich könnte mich doch diskriminiert fühlen. In sieben Jahren als Deutschlehrerin – dafür hatte ich einst studiert – hatte ich die Aufgabe, die „Migranten“ zu integrieren und ihnen den Weg zu Arbeit und Studium zu ebnen. So viele gebrochene Schicksale, hinterlassene Familien. So viele Gründe, die Heimat zu verlassen, so viel Sehnsucht, Hoffnung und Hoffnungslosigkeit gleichzeitig habe ich gesehen. Was verbindet all diese Menschen? Sie wollen in Würde leben, studieren, arbeiten, die Familie ernähren und dazugehören.

Doch was bietet Europa ihnen? Die Festung der Freiheit, die Hochburg der Demokratie, das Reich der offenen Grenzen, wo angeblich Menschenrechte, Werte, hochgehalten werden, wo die Gesellschaft immer älter und die Bevölkerungszahl immer kleiner wird? Haben die ehemaligen Kolonisten keine Verantwortung für das Schicksal der Menschen aus den ausgebeuteten Ländern? Dieses vorbildliche Europa beharrt auf verknöcherte Verfahren, wie Dublin 1, dann 2, dann 3 – weil alle nicht funktionieren. Weil die Verordnung bereits vom Anfang an eine Fehlgeburt war – sie belastet einseitig die Staaten am Rand von Europa und lässt sie mit dem Problem allein. Eben diese Länder am Rand der Europäischen Union sind die anfälligsten, sie gehören selbst zu den ärmeren.

Mit neuen Regelungen, Gesetzen stopfen wir Lücken, anstatt Probleme zu lösen. Der Europäische Gerichtshof hat im Juni 2024 finanzielle Sanktionen gegen Ungarn verhängt. Grund ist, dass das Land die EU-Asylregeln nicht umgesetzt hat. Ungarn soll 200 Millionen Euro zahlen und ein tägliches Zwangsgeld von einer Million Euro. Was für Probleme löst das? Dass es auch Kriminelle gibt? Das haben wir leider mehrmals erfahren. Doch Millionen von Menschen dürfen nicht als Sündenböcke bestraft werden.

Ich möchte keine Lanze für Ungarns Migrationspolitik brechen. Allerdings möchte ich daran erinnern, dass Ungarn und andere Länder im östlichen Teil von Europa wie die Slowakei, Tschechien oder Bulgarien keine Kolonialmächte waren. Sie haben diese Erfahrung der westeuropäischen Länder und Gesellschaften mit den Menschen aus weiten Gegenden nicht gemacht. Abgesehen davon haben die Länder, die ab 2004 der EU beigetreten sind, lange nicht das Wohlstandsniveau erreicht wie Frankreich, Deutschland, Großbritannien, die skandinavischen Länder.

Der Zustrom der Menschen aus „Drittstaaten“ sei eine große Herausforderung, heißt es. Vielleicht sind die Länder des ehemaligen Ostblocks tatsächlich noch nicht in der Lage, sich dieser Herausforderungen zu stellen. Wenn auch die altgedienten, wirtschaftlich wesentlich besser dastehenden EU-Länder davon überfordert sind. Darüber könnte man zumindest debattieren.

Die Junge Welt meldete Ende Dezember, dass 2024 im Mittelmeer 10.400 Menschen auf ihrem Weg übers Meer in Richtung Spanien gestorben seien. Die UN sprechen von „tausendfach unterlassener Hilfeleistung“. Eine Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, die die anderen Länder als Partner behandelt und nicht als Absatzmärkte für die westliche Industrie, wäre als Ansatz aus meiner Sicht vielversprechender als „Zustrombegrenzungsgesetz“, Dublin-Verfahren, Abschiebung und Zwangsgeld für EU-Länder.

Éva Péli ist freie Journalistin und Übersetzerin mit Schwerpunktthemen aus Mittel- und Osteuropa, schreibt unter anderem für die nachdenkseiten, das Magazin Hintergrund und das ungarische Fachportal für den postsowjetischen Raum moszkvater.com.

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